Protokoll der Sitzung vom 19.10.2000

Vielen Dank, Herr Kollege.

Herr Riemann, tut mir leid, es gilt das gesprochene Wort. Ich muss Sie bei Ihrem Wort nehmen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Herr Seidel von der CDU-Fraktion. Bitte sehr.

Frau Präsidentin!

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Herr Seidel ist ein hoffnungsvoller Zukunftskader. – Heiterkeit bei einzelnen Abgeordneten der SPD, CDU und PDS)

Jetzt habe ich extra mal gewartet mit meiner Rede, damit ich diesen Spruch noch mitnehmen kann. Herzlichen Dank. Das gibt wieder Kraft für die nächsten Stunden.

Also, meine verehrten Damen und Herren, ich denke – auch gestern hat das eine Rolle gespielt –, es gibt eine Reihe von Fortschritten im Annäherungsprozess oder Anpassungsprozess. Wissen Sie, ich wehre mich eigentlich ein bisschen, hier herumzuphilosophieren, was denn nun da dieses im Antrag formulierte Wort nun wirklich heißt. Trotzdem stimmen wir überein, dass noch nach insgesamt zehn Jahren Aufbau Ost Infrastrukturrückstände vorhanden sind, in unterschiedlichen Ausstattungen in der Finanzkraft es Differenzen gibt im Verhältnis zu den westdeutschen Regionen.

Die aktuellen Eckpunkte der Diskussion über die Zukunft der Ostförderung werden im Wesentlichen von den Verhandlungen über die Weiterführung des Solidarpaktes, also über den Zeitraum 2004 hinaus bestimmt. Und diese Diskussion findet statt vor dem Hintergrund der Neuordnung des Länderfinanzausgleiches sowie der Dominanz von Sparzwängen auf allen staatlichen Ebenen.

Für meine Begriffe ist noch einmal wichtig, in allen Verhandlungen zum Solidarpakt II deutlich zu machen, dass hier nicht unsachlich Verknüpfungen hergestellt werden. Denn wie wir alle wissen, und dagegen müssen wir uns immer wieder wenden, nicht jede Markt des West-OstTransfers ist mit Ostförderung oder mit Subventionen des Ostens – es gibt ja verschiedene Begriffe – wirklich zu vergleichen. Das darf man nicht tun. Das ist unredlich. Denn wenn man sich die 140 Milliarden DM anschaut, dann sind ungefähr – also ohne EU-Mittel, ohne Förderdarlehen – 75 Prozent auf Sozialleistungen und allgemeine Finanzzuweisungen zurückzuführen. Und nur 25 Prozent sind tatsächlich ein Transfer, der hier besonderen Förderungen zugute kommt.

Wer sich mit den Fragen der Ostförderung innerhalb der vergangenen zehn Jahre beschäftigt, darf natürlich nicht den Blick für die Zukunft verlieren. Die bereits genannten Verhandlungen über das Jahr 2004 hinaus sind meiner Meinung nach für alle ostdeutschen Länder von Bedeutung, von elementarer Wichtigkeit eben auch für das Land Mecklenburg-Vorpommern. Dies wird deutlich anhand der Zahl, die ja die Wirtschaftsforschungsinstitute genannt haben, also den so genannten teilungsbedingten Sonderbedarf, der mit 300 bis 500 Milliarden DM – das ist also eine sehr grobe Darstellung – eingeschätzt wird. Es muss auch klar sein, dass dieser Bedarf weiter abgebaut werden muss, diese Differenz, die da besteht. Auf der anderen Seite ist ganz klar, dass in den Verhandlungen ein Entgegenkommen der ostdeutschen Länder unabdingbar ist, das heißt, eine Neuregelung des bisherigen Systems in welcher Form auch immer wahrscheinlich unumgänglich sein wird.

Meine Damen und Herren! Wir haben eine Reihe von Punkten in dem Antrag hier dargestellt. Und, Herr Kreuzer, nun bitte ich wirklich mal um Verständnis. Ich will das ja akzeptieren, dass es hier und da mal Kritik gibt, wenn die CDU einen Antrag bringt, der vielleicht nicht so konkret ist, wie Sie das wünschen. Jetzt ist der Versuch gemacht worden, wirklich ein paar Punkte aufzuschreiben. Übrigens, da erheben wir überhaupt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das erkennen Sie ganz einfach daran, wenn Sie mal in die Tagesordnung schauen, da steht nicht drin „Beschlussfassung“, sondern da steht drin „Überweisung“. Allein das sagt Ihnen natürlich, dass wir bereit sind, darüber zu sprechen, was denn da richtig, was vielleicht auch falsch sein könnte, wo es Ergänzungen gibt. Also insofern, glaube ich, ist Ihre Aussage nicht ganz richtig, die Sie hier getroffen haben.

(Zuruf von Götz Kreuzer, PDS)

Wir haben Ihnen hier Punkte vorgelegt, die man ergänzen könnte. Eigentlich müssten Sie freudig sagen, endlich ist die Opposition – nach Ihrer Diskussion – nun mal dabei und bringt uns konkrete Punkte, über die man sprechen kann. Aber auch das ist wieder nicht richtig.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Doch, doch, doch! Die Punkte 1 und 2 sind doch sehr gut.)

Mit Ihrem Änderungsantrag versuchen Sie, das zu reduzieren auf ganz allgemeine …

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Das brauchen wir nur ein bisschen zu ändern und dann zu beschließen.)

Genau das Gegenteil von dem, was Sie uns vorwerfen, machen Sie mit Ihrem Änderungsantrag.

(Zuruf von Ministerin Sigrid Keler)

Sie machen nämlich den Antrag nur zu einem Papiertiger, der dann zwei relativ allgemein gehaltene Punkte enthält.

(Angelika Gramkow, PDS: Eben nicht, er ist flexi- bel dadurch. – Zuruf von Ministerin Sigrid Keler – Lorenz Caffier, CDU: Von der Regierungs- bank darf nicht gesprochen werden. – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Richtig, wir kommen Ihnen weiter entgegen. – Heiterkeit bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Meine Damen und Herren! Ich würde meinen, es gibt eine Reihe von Dingen, die man auch konkret mal formulieren muss, wenn man in den Verhandlungen erfolgreich ist. Ich möchte noch einmal herausgreifen die Thematik der Fortführung der Gemeinschaftsaufgabe. Hier sprechen wir uns dafür aus, dass es eine stärkere Spezifizierung auch in den neuen Ländern geben sollte bei der Gemeinschaftsaufgabe. Das heißt, dass man also sicherlich eine Region meinetwegen um Dresden herum, vielleicht auch eine Region um Rostock herum zum Beispiel, anders behandeln muss als meinetwegen einen Bereich in Vorpommern. Wir haben ja im Land die Gliederung in zwei Gebiete.

(Beifall Wolfgang Riemann, CDU)

Aber ich denke, hier muss es Bewegung geben. Das wird nicht anders möglich sein. Die alten Bundesländer werden dies auch einfordern und, ich denke, den Trend muss man auch weitergehen. Es war ja auch mal möglich, eine besondere Regelung zu finden, zum Beispiel beim überregionalen Absatz, anders im Westen als im Osten – bei uns gelten 30 Kilometer, in den alten Bundesländern gelten 50 Kilometer. So müssen wir auch Regelungen finden, die zwischen den neuen Ländern durchaus differenzieren.

Meine Damen und Herren, noch einmal den Appell: Ich bitte Sie herzlich, lassen Sie uns nicht hier einzelne Punkte behandeln. Wir können beide Anträge überweisen

(Angelika Gramkow, PDS: Nee! – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Das geht schon geschäftsordnungsmäßig nicht. – Wolfgang Riemann, CDU: Das geht. – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Das geht überhaupt nicht.)

und dann bitte lassen Sie uns die Diskussion doch führen. Aber wenn Sie, Frau Gramkow, jetzt den Kopf schütteln,

(Angelika Gramkow, PDS: Wir hatten Ihnen doch ein Angebot hingelegt.)

dann muss ich sagen, beweist das einfach, dass Sie doch nicht bereit sind, über die Dinge wirklich zu sprechen. Das tut mir sehr leid.

(Ministerin Sigrid Keler: Ich habe angeboten, wir wollen reden. Ich komme in die Fraktionen.)

Ich werbe noch einmal dafür, dass wir diesen Antrag mit Ihrem Ergänzungsantrag überweisen,

(Dr. Gerhard Bartels, PDS: Das ist ein Änderungsantrag.)

und dann haben wir die Chance, die Dinge auch noch weiterzubearbeiten. – Danke schön.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der CDU)

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Herr Borchert von der SPD-Fraktion.

(Ministerin Sigrid Keler: Ich habe angeboten, wir wollen reden. Ich komme in die Fraktionen.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zehn Jahre Deutsche Einheit war in den letzten Wochen oftmals Anlass für Festveranstaltungen und Feiern. So ist es aber auch Gelegenheit, nüchtern Bilanz zu ziehen, die Aufgaben zu nennen, vor denen wir künftig stehen, und die es gemeinsam zu lösen gilt. Dabei enthält eine Bewertung des Erreichten natürlich Licht und Schatten. Die Vorredner haben schon darauf hingewiesen.

Wir können natürlich auch feststellen, dass – wenn überhaupt – erst die Hälfte der Wegstrecke geschafft ist. Alles in allem – und die vielen Beispiele haben das belegt – sind zehn Jahre Aufbau Ost durchaus als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen. Das Wohlstandsgefälle zwischen den neuen und alten Ländern verringert sich, gesellschaftlich wachsen Ost und West zusammen, die Investitionen je Einwohner sind in den neuen Ländern auf hohem Niveau und die Infrastruktur wurde in den letzten zehn Jahren in einem Tempo auf- und ausgebaut, das sich sehen lassen kann. Zum Beispiel ist die Telekommunikation inzwischen moderner als in den alten Ländern.

Einen großen Anteil an dieser Erfolgsgeschichte haben die Menschen vor allen Dingen in Ostdeutschland, die mit ihrer Leistungsbereitschaft, ihrer Veränderungsbereitschaft, aber auch mit ihrer Veränderungsbegabung und ihrer Belastbarkeit eine gewaltige Aufbauleistung dabei vollbracht haben. Aber ohne die Geldtransfers seit 1990 von West nach Ost, das heißt Geldtransfers der Länder und des Bundes, von über 1 Billion DM hätten wir das Stück des Weges nicht geschafft. Pro Jahr sind es 140 Milliarden DM Nettotransfer etwa, das heißt zehn Prozent der öffentlichen Mittel oder 3,5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsp r o d u k t s.

Auch wenn der Aufbau Ost gemessen an der Ausgangslage gut vorangekommen ist – ich sagte das schon –, gibt es noch sehr viel zu tun, denn von einer Angleichung der Lebensverhältnisse sind wir sowohl in ökonomischer als auch in sozialer Hinsicht noch ein ganzes Stück entfernt. Die Arbeitslosenquote ist im Osten doppelt so hoch wie im Westen. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in den neuen Ländern ist etwa halb so hoch wie in Westdeutschland.

Gewiss hat die ostdeutsche Marktwirtschaft als solche auch Fortschritte gemacht. So ist das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner bis 1996 auf 56,8 Prozent des westdeutschen Niveaus angestiegen, die Arbeitsproduktivität bis 1997 auf 60,4 Prozent und das Bruttoeinkommen der abhängig Beschäftigten ist bis 1996 auf 74,4 Prozent der Werte in den alten Bundesländern angewachsen. Aber, und das ist das eigentliche Problem, seitdem, also seit 1996/97, stagnieren alle diese Größen und die Wachstumsraten bleiben hinter denen Westdeutschlands zurück. Von einem Aufholen kann also demnach zurzeit keine Rede mehr sein.

Meine Damen und Herren! Die Brisanz der aktuellen Situation wird deutlich, wenn ich den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse zitiere: „Angesichts des derzei

tigen Zurückbleibens muss ein schnelles Signal für den Osten kommen und eindeutig sein, sonst verliert der Osten in einer konjunkturellen Aufwärtsphase des Westens nicht nur den Anschluss, sondern er würde auch diejenigen Menschen verlieren, die diesen Anschluss noch bewerkstelligen könnten.“

(Beifall Heike Polzin, SPD)

„Je stärker jetzt die westdeutsche Konjunktur anzieht, je länger niedrigere Realeinkommen und fehlende Perspektiven den Osten prägen, desto mehr werden junge und gerade hoch qualifizierte Menschen ihm den Rücken kehren.“

Für Mecklenburg-Vorpommern wird in einer Prognose vom Dezember 1999 für den Zeitraum 1998 bis 2020 mit einen Bevölkerungsverlust von 185.000 Menschen gerechnet und damit ein Rückgang der Einwohnerzahl auf 1,62 Millionen erwartet. Prozentual bedeutet das einen Verlust von 10,2 Prozent. Ursachen sind dabei: 89 Prozent der natürliche Saldo von Geburten- und Sterberaten und der negative Wanderungssaldo mit immerhin 11 Prozent, wobei der Anteil der unter 20-Jährigen demnächst von 23,1 Prozent auf 17,5 Prozent sinken wird.

Meine Damen und Herren! Worauf kommt es jetzt beim Aufbau Ost an? An dieser Stelle möchte ich Dr. Heiner Flasbeck zitieren: „Um aufholen zu können, muss in Ostdeutschland die Produktivität wie in den Jahren 1992 bis 1995 stärker als im Westen steigen. Die Produktivität kann aber nur stärker steigen, wenn sie vom Staat und diesmal tatsächlich von der Angebotsseite der Volkswirtschaft angeschoben wird. Da die ostdeutsche Wirtschaft aber immer noch einen Wettbewerbsrückstand hat, nutzt die Förderung der Nachfrage relativ wenig. Mehr Nachfrage verpufft nur sofort in noch höhere Importe. Folglich muss man weit größere Anreize als bisher für Unternehmen setzen, ihre Produktion in die neuen Länder verlagern und die öffentliche Infrastruktur schnell und mit hohem Aufwand ausbauen.“

Daraus ergeben sich folgende Aufgaben, die von der neuen Bundesregierung bereits verstärkt in Angriff genommen wurden beziehungsweise werden:

Erstens. Wir brauchen eine stärkere Priorität für eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland mit dem Leitbild der ökologischen Modernisierung und einer Förderung des Marktzugangs statt bisheriger neoliberaler Marktläufigkeit. Das Ziel der Chancengleichheit für den Osten liegt deshalb in so weiter Ferne, weil der bisherigen Entwicklung letztlich gar keine wirtschaftspolitische Strategie zugrunde lag. Wir brauchen also eine wirtschaftspolitische Konzeption, die stärker auf die spezifische Situation Ostdeutschlands zugeschnitten ist. Nur so können die neuen Bundesländer aus ihrer Rolle als finale Ökonomie des Westens herauskommen.

Zweitens. Wir brauchen eine zweite Investitionsoffensive mit der Förderung von Netzwerken statt von Einzelkämpfern, die Ansiedlung von Großunternehmen und die Verknüpfung von Industrie- und Forschungsbereichen. Industriepolitik muss die bisherigen Erfahrungen berücksichtigen, bisherige Fehler vermeiden. Es kommt darauf an, großes Krisenmanagement zu überwinden und zukunftsträchtiger auf eine nachhaltige Wirtschaftsweise beruhende Branchen zu entwickeln. So kann Ostdeutschland zu einer selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung kommen.

Drittens. Aufbau zukunftsfähiger Wirtschaftsregionen durch Konzentration der Strukturpolitik auf regionale Potentiale und deren Profilierung im Rahmen künftiger europäischer Arbeitsteilung. Die Attraktivität von Standort und Region beruht dabei nicht auf deren Verkehrsanbindungen, sondern auf deren kommunalen und kulturellen Infrastruktur. Deshalb ist die kommunale Investitionskraft ein ganz entscheidender Faktor. Wegen der geringen Steuerkraft brauchen ostdeutsche Kommunen weiterhin für die soziale und ökologische Erneuerung besondere Hilfe.