Protokoll der Sitzung vom 31.03.2004

(Zuruf von Reinhardt Thomas, CDU)

Bis zur vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit …

(Unruhe bei einzelnen Abgeordneten der CDU)

Wir sind schon von der Polizei ein Stück weiter gekommen, Kollege Thomas.

(Glocke der Vizepräsidentin)

Bis zur vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine Übergangszeit von bis zu sieben Jahren vereinbart worden.

(Wolfgang Riemann, CDU: Das hätten wir uns für die Butterschiffe auch gewünscht. – Unruhe bei Abgeordneten der SPD)

Die Zuwanderung von Arbeitnehmern bleibt damit in den kommenden Jahren für uns steuerbar. Diese Zeit muss für die Anpassungen an die veränderten Bedingungen genutzt werden und muss dafür auch reichen. Allerdings wäre es auch falsch, anzunehmen, dass es vor allem in Grenznähe zu keinen wechselseitigen Verschiebungen kommt. Billiges Tanken im Nachbarland ist beispielsweise kein Phänomen der deutsch-polnischen

Grenze, sondern das gab es je nach Entwicklung der Benzinpreise auch an der deutsch-französischen oder an der deutsch-niederländischen Grenze genauso.

Drittens. Schon heute haben polnische Staatsangehörige und Unternehmen aus Polen das Recht, in Mecklenburg-Vorpommern einen Betrieb nach den hier geltenden Regelungen zu eröffnen. Gleiches gilt umgekehrt für Unternehmer aus Mecklenburg-Vorpommern. Und an dieser Sachlage ändert sich auch nach dem Beitritt nichts. Neu ab dem 1. Mai ist jedoch die Möglichkeit der Erbringung von Dienstleistungen von Polen aus in Mecklenburg-Vorpommern und umgekehrt, mit Ausnahme übrigens bei Baudienstleistungen. Auch hier gilt eine siebenjährige Übergangszeit.

Meine Damen und Herren, sehen wir doch einmal der Realität ins Auge. Drüben stehen keine hochgerüsteten Betriebe, die nur auf den 1. Mai warten, um hier den Markt abzuräumen. Nach Berechnungen des Deutschen Handwerksinstituts werden im Handwerk zu fast 90 Prozent von den Betrieben lokale, wohnortnahe Märkte bedient. Nur 10 Prozent machen Anfahrten von 100 Kilometern und mehr und für polnische Betriebe gilt nichts anderes. Auch das zeigt, dass wir die neuen Mitglieder vielleicht mit einigen Abstrichen für den vorpommerschen Grenzraum quantitativ nicht fürchten müssen, dennoch warne ich vor der Annahme, die Marktbedingungen blieben unverändert. Der Wettbewerb wird in allen Bereichen zunehmen und darauf gilt es sich einzurichten. Gerade die Unternehmen im Grenzraum sollten ihre Marktchancen in Polen erkennen und sich darauf vorbereiten.

Eine Reihe von Unternehmen sind übrigens heute schon mit Erfolg in Polen tätig. Und für die Betriebe, die in Polen tätig werden wollen, gibt es eine Reihe von Unterstützungsmöglichkeiten. Vor allem die Handwerkskammer Ostmecklenburg-Vorpommern, aber auch die IHK Neubrandenburg, die ich stellvertretend für viele Organisationen nennen möchte, engagieren sich hier vorbildlich. Im Rahmen der so genannten ARGE 28 werden zahlreiche Veranstaltungen und Seminare zu polnischen Markt-, Steuer- und Niederlassungsfragen geboten. Der Zugriff auf die Leistung ist neben der Anfrage bei der Kammer selbst im Internet möglich und auch das Deutsch-Polnische Haus der Wirtschaft in Stettin steht mit einem umfassenden Beratungsangebot bereit. Der Service dort ist übrigens in einem gewissen Umfang kostenlos.

Ein Wort zu dem Kooperationsbüro in Tallinn. Zu dieser Thematik hat die CDU ja einen Dringlichkeitsantrag gestellt. Meine Damen und Herren, zweifellos ist es so, das wird hier keiner von den Abgeordneten bestreiten, dass dieses Büro hervorragende Arbeit in der Vergangenheit bei der Vorbereitung der baltischen Partner auf die Osterweiterung, auf den Beitritt zur Europäischen Union geleistet hat. Aber im Rahmen der Erweiterung muss natürlich auch die bisherige Ausrichtung von Institutionen überprüft und angepasst werden. Politische Projekte, Herr Abgeordneter Born, können zurückgefahren werden. Es ist hervorragende Arbeit geleistet worden, beispielsweise in einem Twinning-Projekt für die Justiz, auch im Bereich der Landwirtschaft hat es eine sehr gute Zusammenarbeit gegeben. Aufbauhilfe muss aber mit dem Beitritt vielerorts nicht mehr geleistet werden. Aufgrund der schwierigen Finanzsituation des Landes ist es vertretbar, das Kooperationsbüro in Tallin zu schließen. In Estland sind wir übrigens das einzige Bundesland mit einer derart umfassenden Vertretung.

Die Schließung des Büros bedeutet jedoch nicht, dass Wirtschaftsförderaufgaben dadurch aufgegeben werden. Sie sollen zukünftig, ähnlich wie auf anderen ausländischen Märkten auch, von anderen Institutionen beziehungsweise mit anderen Instrumenten wahrgenommen werden. Ich weise darauf hin, dass es inzwischen eine baltische Außenhandelskammer gibt. Ich weise darauf hin, dass die Nord/LB inzwischen in den baltischen Ländern aktiv ist, hier bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten an, die derzeit geprüft werden.

Fest steht, meine Damen und Herren Abgeordnete, die Instrumente ändern sich, die Inhalte und Ziele, was die Wirtschaft betrifft, aber ändern sich nicht.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der SPD)

Viertens. Ab 1. Mai 2004 fließen Fördermittel der Europäischen Union genauso wie vorher in unser Bundesland. Die Erweiterung hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die EU-Fördermittel und auch für die Zeit nach 2006 rechnen wir mit einer Fortführung der EU-Höchstförderung. Natürlich wird auch Polen in den Genuss der Förderung kommen und das sollten wir positiv sehen, denn dadurch wird in Polen maßgeblich zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse beigetragen.

Fünftens. Meine Damen und Herren, in der Vergangenheit hat es mehrfach Meldungen in den Medien gegeben, dass Firmen nach Osten abwandern. Aus MecklenburgVorpommern sind mir derzeit keine Fälle bekannt, dass Firmen in die Beitrittsländer abwandern, das heißt, ihre Tätigkeit bei uns im Land aufgeben und stattdessen beispielsweise in Polen eine Tätigkeit aufnehmen. Dass Firmen sich andererseits auf den polnischen Markt einrichten und ihn unmittelbar aus Polen heraus bedienen und nicht von einem Standort in Mecklenburg-Vorpommern, meine Damen und Herren, das, glaube ich, ist zu respektieren. Es gibt sicherlich auch Branchen, die weitgehend standortunabhängig arbeiten können, wie zum Beispiel bei IT-Dienstleistungen. Für uns heißt das, dass wir weiter die vorhandenen Unternehmen im Land pflegen und fördern müssen, dass wir alle gemeinsam dazu beitragen, den Standort Mecklenburg-Vorpommern im Wettbewerb der Regionen nicht nur konkurrenzfähig zu halten, sondern weiterzuentwickeln. Für mich ist in diesem Zusammenhang auch klar, dass wir einen Wettlauf um die niedrigsten Löhne nicht gewinnen können und ihn auch nicht führen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und Dr. Martina Bunge, PDS)

Verlagerung von Lohnkosten intensiver Produktion ist für mich übrigens kein Phänomen der Osterweiterung, sondern das gibt es schon seit über 20 Jahren. Die Textilindustrie oder die Radio- und Fernsehproduktion sind dafür Beispiele. Und ich kann es nicht bestreiten, dass sicherlich die Lohnkosten einen wesentlichen Aspekt für eine Standortentscheidung darstellen, aber es ist ein Faktor neben anderen vor allem standortbezogenen Faktoren. Um im Standortwettbewerb erfolgreich zu sein, wird es für unsere Unternehmen mehr denn je darum gehen, durch neue innovative Produkte, durch Zuverlässigkeit und Qualität und nicht zuletzt durch Erfindungsreichtum und Unternehmergeist immer wieder neue Marktsegmente zu erschließen oder vorhandene Segmente erfolgreich zu verteidigen.

Darüber hinaus geht es darum, die Rahmenbedingungen für Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland weiter zu verbessern. Mit der Agenda 2010 ist der

Weg beschritten worden, um zukünftig Arbeit am Standort Deutschland wieder billiger zu machen.

(Zuruf von Wolfgang Riemann, CDU)

Auch der Bürokratieabbau, den wir durch unsere umfassende Verwaltungsreform im Land anstreben, ist ein wichtiger Faktor im weltweiten Konkurrenzwettbewerb.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht vergessen, die Konkurrenzfähigkeit eines Standortes ergibt sich aus der Summe aller maßgeblichen Faktoren. Und diese Summe muss stimmen, dafür können wir alle gemeinsam etwas tun. Meine Damen und Herren von der Opposition, auch Sie könnten hier einen konstruktiven Beitrag leisten, wenn Sie sich anstrengen. Hören Sie auf, den Menschen vorzugaukeln, bei der Verwaltung im Land könnte alles so bleiben, nur an der Spitze seien ein paar Korrekturen vorzunehmen! Das ist Augenwischerei!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von Dr. Armin Jäger, CDU, und Wolfgang Riemann, CDU)

Meine Damen und Herren, übrigens haben das die meisten Bürgerinnen und Bürger auch schon verstanden, nur Sie verweigern sich hier aus parteipolitischen Gründen. Ich würde Sie auffordern, denken Sie einmal an die Perspektive und an die Interessen unseres Landes!

(Dr. Armin Jäger, CDU: Nun tun Sie mal was! – Kerstin Fiedler-Wilhelm, CDU: Ihre Monster- kreise sind nicht im Interesse des Landes.)

Meine Damen und Herren, Land, Bund und Europa verändern sich, auch um den Herausforderungen von morgen gewachsen zu sein. Wir brauchen ein starkes Europa, das mit einer Stimme spricht! Am 1. Mai 2004 kommen wir ein weiteres Stück auf diesem Wege voran. Nutzen wir auch in Mecklenburg-Vorpommern diese Chance! – Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Danke schön, Herr Ministerpräsident.

Meine Damen und Herren Abgeordneten, ich möchte noch einmal an den Paragraphen 66 der Geschäftsordnung erinnern, „Aktuellen Stunde“, und hier besonders an den Absatz 4: „Die Verlesung von Erklärungen oder von Reden ist unzulässig.“ Ich bitte das zu beachten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, CDU und PDS – Eckhardt Rehberg, CDU: Er hat abgelesen. Das gilt auch für Minister- präsidenten. – Zuruf von Dr. Armin Jäger, CDU)

Das Wort hat jetzt die Präsidentin Frau Bretschneider.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

(Eckhardt Rehberg, CDU: Jetzt hören wir eine freie Rede.)

Die bemerkenswerte freie Rede des Ministerpräsidenten hat schon viele Aspekte

(Eckhardt Rehberg, CDU: Das wäre sehr bemerkenswert gewesen. – Heiterkeit bei Wolfgang Riemann, CDU – Zuruf von Dr. Armin Jäger, CDU)

der anstehenden Auswirkungen der EU-Osterweiterung auf Mecklenburg-Vorpommern gestreift, aber es gibt sicherlich darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Themen, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden sollten.

(Heiterkeit bei Eckhardt Rehberg, CDU)

Bei der Kenntnisnahme des Themas der Aktuellen Stunde haben sich vielleicht einige sogar die Frage gestellt: Warum ist denn das Thema einer Aktuelle Stunde? Ich halte es einmal mit dem heiligen Aurelius Augustinus,

(Heinz Müller, SPD: Ach du liebe Güte!)

der vor langer Zeit gesagt hat, und jetzt darf ich zitieren: „Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat, und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat zu existieren.“ Vor diesem Ausspruch, denke ich, ist das gewählte Thema gut gewählt.

Am 1. Mai 2004 wird das Haus Europa größer. Es besteht bereits aus vielen Zimmern und vor einigen Jahren ist das Fundament gelegt worden für die Erweiterung dieses Baus, ein Fundament, das sich gründet auf die demokratischen Umwälzungsprozesse in den zehn Ländern, die jetzt Einlass in dieses Haus und Quartier in diesem Haus begehren. Der Rohbau ist hochgezogen, das Dach ist gedeckt, aber die Wände sind noch nicht in jedem Zimmer verputzt und entsprechend geschmückt. Dazu werden die neuen Beitrittsländer die Möglichkeiten der Europäischen Union nutzen, werden die Förderprogramme in Zukunft stärker in Anspruch nehmen, werden von ihnen stärker partizipieren und das wird dazu beitragen, dass das Haus Europa sicher und demokratisch wird und bleibt.

(Beifall Karsten Neumann, PDS)

Denn eine demokratisch verfasste Gesellschaft und ökonomisch gesichertes Existieren der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern sind wesentliche Voraussetzungen für Sicherheit und für Stabilität und vor allen Dingen Frieden in Europa.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und Karsten Neumann, PDS)

Der Ministerpräsident hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es Risiken gibt, dass es Ängste gibt, aber er hat auch betont – und ich glaube, dahin neigt sich auch die Waagschale –, dass es vor allen Dingen Chancen gibt. Ich denke, dass Mecklenburg-Vorpommern sich auf die Erweiterung dieser Europäischen Union gut vorbereitet hat. Wir haben seit Jahren enge Kontakte zu unseren polnischen Nachbarn, zum Sejmik der Woiwodschaft Westpommern. Wir werden im Monat April eine Kooperationsvereinbarung mit dem pommerschen Sejmik in Danzig unterschreiben. Natürlich haben wir im Laufe der Zusammenarbeit unsere Partner kennen und schätzen gelernt. Wir haben auch die Probleme kennen gelernt und das ist, denke ich, eine gute Basis für unsere Hilfe, für unser Zusammenwirken auf den Fluren dieses Hauses, die unsere Zimmer miteinander verbinden, denn die haben wir gemeinsam zu putzen, zu tapezieren und auch auszuschmücken.

Ich glaube, dass ein ganz wesentliches Element in dieser Erweiterung der Europäischen Union und in der Aufnahme unserer unmittelbaren Nachbarn natürlich die Beziehungen der jungen Leute darstellt. Die Jugend wird die Generation sein, die dieses Haus Europa bewohnbar

machen wird, die auch die Verantwortung dafür haben wird, dass dieses Haus sicher bleibt. Und ich darf in dem Zusammenhang darauf verweisen, dass wir auch im Bereich der Zusammenarbeit mit den jungen Leuten gute Projekte angeschoben haben. Ich erinnere an die erste Phase des deutsch-polnischen Jugendprojektes, das in Stettin stattgefunden hat, das wir in wenigen Tagen, im April, hier bei uns in Schwerin fortsetzen werden. Im Rahmen dieses Projektes will ich nur zwei Dinge herausgreifen, die sicherlich ganz wichtig in diesem Zusammenhang sind. Das ist einmal das Projekt deutsch-polnische Zusammenarbeit unter Nutzung europäischer Fördermittel und das zweite Projekt ist die zu erarbeitende Broschüre, die als Ratgeber für junge Leute fungieren soll, umsich auf dem Arbeitsmarkt und im Bereich der Bildung im europäischen Haus zurechtzufinden. Und ich darf Sie alle – und damit meine ich nicht nur die Abgeordneten, sondern auch die Damen und Herren Ministerinnen und Minister – sehr herzlich einladen, uns bei der Fortführung dieses Projektes zu unterstützen.