Ich stelle fest, dass der Landtag ordnungsgemäß einberufen wurde und beschlussfähig ist. Die Sitzung ist eröffnet. Die Tagesordnung der heutigen Sitzung liegt Ihnen vor. Wir setzen unsere Beratungen vereinbarungsgemäß fort.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 35: Beratung des Antrages der Fraktionen der CDU und SPD – 60 Jahre Volksaufstand in der DDR, Drucksache 6/1220.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte beginnen mit einem Zitat: „Wir können stolz sein auf diesen Tag und das, was die Ostdeutschen gezeigt haben. Ohne ihren Mut hätte es weder den 17. Juni 1953 noch den 9. November 1989 gegeben. Der kleinere, bedrängtere Teil hat für das Ganze Geschichte geschrieben.“ So hat sich der ehemalige Bundesminister und Vordenker der Sozialdemokratie, Egon Bahr, einmal über den Volksaufstand in der ehemaligen DDR geäußert.
Mit dem Rückblick von fast 60 Jahren können wir dieser Aussage nur zustimmen. Es waren mutige Frauen und Männer, die sich in der damaligen DDR für Freiheit und Demokratie erhoben haben. Die Koalitionsfraktionen wollen mit dem vorliegenden Antrag ihren Teil dazu beitragen, dass dieses wichtige Datum der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht in Vergessenheit gerät.
Eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema setzte erst nach der Deutschen Einheit ein. Nach der Öffnung der DDR-Archive gab es neue Forschungsergebnisse. Der Aufstand bekam einen festen Platz in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur und im Jubiläumsjahr 2003 setzte nach den Worten des Professors für Zeitgeschichte, Edgar Wolfrum, ein Erinnerungsboom ein. Und ich denke, es ist richtig und auch wichtig, dass dieses Kapitel der deutschen Geschichte so intensiv aufgearbeitet wird.
Wenn man nach den Ursachen für den Volksaufstand sucht, muss man schon in das Jahr 1952 zurückschauen. Auf der 2. Parteikonferenz der SED, die im Juli 1952 stattfand, wurde der Aufbau des Sozialismus offen als Ziel erklärt. Aufbau des Sozialismus bedeutete im Klartext: weitere Verstaatlichung von Betrieben, Kollektivierung der Landwirtschaft, Ideologisierung und Militarisie
rung der Gesellschaft sowie Durchsetzung der sozialistischen Gesetzlichkeit. In der Wirtschaftspolitik begann eine einseitige Förderung der Schwerindustrie zulasten des Konsums. Die Vernachlässigung der Verbrauchsgüterindustrie führte zu Versorgungsengpässen. Die Flucht von Bauern, die durch die gesellschaftliche Umgestaltungspolitik gegen den gewerblichen und bäuerlichen Mittelstand bedingt war, verstärkte die Versorgungsengpässe noch weiter. Bereits Ende 1952 gab es kleinere Streiks in einzelnen Betrieben, was vor allem daran lag, dass sich die Einführung neuerer Normen verzögerte. Nach dem Tod Stalins im Februar 1953
Aber sehen Sie mir nach, dass ich das Todesdatum von Stalin nicht so ganz gut gespeichert habe. Dann bin ich dankbar, wenn ich da Hilfe von den LINKEN bekomme.
Die Folge war eine zunehmende Abwanderung aus der DDR. Im März 1953 flüchteten 31.000 Menschen aus der DDR. Der von Moskau im Frühjahr 1953 daraufhin befohlene neue Kurs wurde als politische Bankrotterklärung der SED angesehen. Angesichts der heraufziehenden Krise wurden die Preise gesenkt, die Gerichtsurteile und die Enteignungen überprüft und der Kampf gegen die jungen Gemeinden zunächst eingestellt. Das Einlenken der Staats- und Parteiführung wurde als Sieg der Massen gewertet. Das Volk fand den Mut aufzubegehren. Die Forderungen der Arbeiter wurden nicht umgesetzt und wirkliche Reformen nicht auf den Weg gebracht.
Schauen wir mal insbesondere auf die Situation in Mecklenburg-Vorpommern. Vor 60 Jahren kam es in drei Städten der drei Nordbezirke Schwerin, Rostock und Neubrandenburg, die allerdings nicht zu den Zentren zählten, zu Aufständen. Dies lag zum einen natürlich an der dünnen Besiedlung und eher agrarischen Prägung und zum anderen daran, dass die Nachrichten aus Berlin und anderen Zentren nur sehr schleppend im Norden ankamen. Die Rote Armee und die Staatsorgane konnten sich so besser auf mögliche Aufstände vorbereiten und Demonstrationsversuche zum Teil im Keim ersticken.
Umso bemerkenswerter ist es trotzdem, dass es in 70 Städten und Gemeinden unter anderem zu Streiks und Demonstrationen kam. Stellvertretend möchte ich hier die Städte Altentreptow, Barth, Boizenburg, Ducherow, Gadebusch, Grabow, Malchow, Penkun, Putbus und Torgelow nennen. In Teterow wurde versucht, politische Gefangene zu befreien. Bei Glowe auf Rügen erhoben sich circa 10.000 Arbeiter, die einen neuen Hafen für die sowjetische Armee errichten sollten und unter sehr schlechten Bedingungen arbeiten mussten. Darunter befanden sich unter anderem auch 5.000 Häftlinge, die zur Zwangsarbeit verurteilt waren. In Grabow bei Ludwigslust demonstrierten Hunderte Menschen für die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjet
Die Zentren des Aufstandes in unserem Bundesland waren die Hafen- und Werftenstädte Rostock, Wismar, Stralsund und Wolgast. In Rostock riegelten die Polizei und die Sowjetarmee das Werftgelände ab, sodass es nicht zu Demonstrationen in der Innenstadt kommen konnte. In den politischen Zielen waren sich die Arbeiter in den Betrieben einig: Absetzung der Regierung, gesamtdeutsche Wahlen und Abzug der Sowjets.
In der gesamten DDR wurden 2.300 Menschen zu Haftstrafen verurteilt, mindestens 20 Todesurteile wurden vollstreckt. Während des Aufstandes starben circa 60 bis 80 Menschen, genaue Zahlen sind leider bis heute nicht bekannt. Stellvertretend für die Opfer möchte ich folgende Namen nennen: Rudolf Berger, Horst Bernhagen, Oskar Pohl, Wolfgang Röhling, Gerhard Schulze, Rudi Schwander und Werner Sendsitzky. Diese Opfer wurden auf dem Friedhof in der Berliner Seestraße bestattet.
Besonders bewegt haben mich zwei Schicksale bei der Recherche auch für diese Rede, das waren die Schicksale von Rudi Schwander und Werner Sendsitzky. Werner Sendsitzky aus dem Berliner Bezirk Wedding starb an seinem 16. Geburtstag. Ihn traf die Kugel eines Volks- polizisten mitten ins Herz. Rudi Schwander war erst 14 Jahre alt und er starb bei der Flucht vor Volkspolizisten. Sie sind die jüngsten Opfer dieses Volksaufstandes und von ihnen ging überhaupt keine Gewalt aus. Konrad Adenauer sagte beim Staatsbegräbnis für die beiden Jugendlichen: „Die Toten sind Märtyrer der Freiheit. Sie haben Zeugnis dafür abgelegt, dass die Deutschen keine Versklavung mehr ertragen können.“ Wie recht er damals damit schon hatte. Wir verneigen uns vor den Toten und wollen ihnen ein ehrendes Andenken bewahren.
Die Beispiele aus Mecklenburg-Vorpommern zeigen, dass sich auch hier viele Tausend Menschen an dem Aufstand beteiligt haben, der mehr als ein Arbeiteraufstand war. Man kann ihn sogar Volksaufstand nennen. Und da hilft es auch nichts, wenn man jetzt im Nachhinein behaupten möchte, die Leute haben aufbegehrt und wollten soziale Gerechtigkeit. Es stand ganz klar im Vordergrund, man hat für Demokratie und Freiheit demonstriert.
In der DDR fand leider keine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Thema statt. Der Aufstand wurde von der SED als faschistischer beziehungsweise konterrevolutionärer Putschversuch abgetan,
In der alten Bundesrepublik war der 17. Juni ab 1954 als Tag der Deutschen Einheit ein Feiertag. Und es war insbesondere der spätere Fraktionsvorsitzende der SPD, Herbert Wehner, der diesen Feiertag im Bundestag mit durchsetzte.
Wehner kritisierte in seinen Reden zum Tag der Deutschen Einheit den kommunistischen Separatismus und geißelte das SED-Regime. Die Erinnerung wurde unter anderem durch jährliche Debatten im Deutschen Bundestag wachgehalten. Der Landtag soll der Menschen gedenken, die im Juni 1953 ihre Freiheit und ihr Leben riskiert haben.
Der 17. Juni 1953 ist Teil von gescheiterten Revolutionen im Ostblock. Der ungarische Volksaufstand von 1956 und der Prager Frühling von 1968 reihen sich ein. Alle diese Aufstände sind mithilfe der Sowjetarmee gewaltsam niedergeschlagen worden. Aber diese Ereignisse legten auch den Grundstein für Solidarność in Polen und schließlich die friedliche Revolution in der DDR und dem gesamten ehemaligen Ostblock.
Der Wille nach Freiheit und Demokratie, der am 17. Ju- ni 1953 zum Ausdruck kam, hat sich am Ende gegen Diktatur und Willkür durchgesetzt. Und es ist die Pflicht der nachfolgenden Generationen, die Erinnerungen an diese tapferen Männer und Frauen aufrechtzuerhalten, meine sehr geehrten Damen und Herren. Ich bitte deshalb um die Zustimmung zu diesem Antrag. – Vielen Dank.
Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 90 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! CDU und SPD stellen heute einen Antrag zur Abstimmung, den eigentlich alle vier demokratischen Fraktionen hätten erarbeiten und einreichen sollen,
denn die Auseinandersetzung mit den Ereignissen vom 17. Juni 1953, mit den Ursachen, Auswirkungen und Schlussfolgerungen bleibt notwendig. Sie ist Aufgabe und Verpflichtung aller Demokraten, nicht zuletzt im Hinblick auf den anstehenden 60. Jahrestag im kommenden Jahr. Und deshalb bedauere ich zutiefst, dass mehrfache Versuche meinerseits, dies den antragstellenden Fraktionen nahezubringen, daraus einen gemeinsamen Antrag zu machen, abgelehnt wurden.
Auch wenn es unter den demokratischen Fraktionen natürlich zum Teil unterschiedliche historische und politische Bewertungen dieser Zeit gibt, dürfte eines doch feststehen: Die Erinnerung an den 17. Juni 1953 eignet sich nicht zu parteipolitisch motivierten Auseinandersetzungen, dies darf nicht instrumentalisiert werden. Und ich wiederhole: Vor diesem Hintergrund ist es außerordentlich bedauerlich, dass sich vor allem die CDU beharrlich weigerte, diesen Antrag gemeinsam mit allen demokratischen Fraktionen in den Landtag einzubringen,
das auch vor dem Hintergrund der vielfältigen Projekte der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, die sich genau mit diesem Jahrestag befassen.
Warum ist das so? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß es nicht. Ich weiß jedoch, dass die CDU am 3. Juli 2008 kein Problem damit hatte, dass ein Vertreter der LINKEN im Namen aller Demokraten gegen einen Antrag der NPD gesprochen hatte, der sich mit eben diesem 17. Juni 1953 befasst hat.