Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie wir den Medien entnehmen konnten, hatte unsere Fraktion das Thema „Abitur besser an die Herausforderungen einer modernen Wissensgesellschaft anpassen“ auf die Tagesordnung der Sprecherkonferenz mit den Bildungspolitikern der SPD-Landtagsfraktionen der Länder und der SPD-Bundestagsfraktion gesetzt. Und was ich aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungswege, die die ein-
zelnen Bundesländer in der Zwischenzeit eingeschla- gen haben, kaum zu hoffen gewagt habe, wir werden im Ergebnis unserer Sprecherkonferenz von vor circa 14 Tagen eine gesonderte Fachkonferenz mit Experten, die soll dann in Sachsen stattfinden, durchführen. Denn wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, brauchen wir einen breiten Konsens zwischen den Bundesländern und vor allem müssen wir endlich über Bildungsinhalte, Kompetenz und Fähigkeitsentwicklung sowie einheitliche Bildungsstandards reden, statt einseitig über Strukturen und quantitative Vorgaben.
Mir brennt dieses Thema schon lange unter den Nägeln, eigentlich schon seit dem KMK-Beschluss – darauf komme ich gleich noch mal –, den Sie schon benannt haben, Frau Oldenburg.
In Deutschland hatten wir nach der Wiedervereinigung die Situation, dass in den neuen Bundesländern das Abitur nach zwölf Schuljahren und in den alten Bundesländern nach dreizehn Schuljahren abgelegt werden konnte. Im Übrigen waren mir bis dahin auch keine Beschwerden über die fehlende Leistungsfähigkeit der Studierenden aus den östlichen Bundesländern bekannt geworden, dass diese nicht genauso studierfähig sein sollten wie diejenigen aus den alten Bundesländern mit dreizehn Jahren, ohne dass wir damals diese Vorgabe mit 265 Wochenstunden hatten.
Infolge des Auslaufens dieser Übergangsregelung zur gesamtdeutschen Anerkennung des Abiturs einigte sich das Einstimmigkeitsgremium – darin besteht ja das Problem letztendlich auch – der KMK in seiner Sitzung am 1. Dezember 1995 in Mainz auf einen aus meiner Sicht mehr als fragwürdigen Kompromiss. Man könnte auch sagen, ich finde ihn faul. Dieser Kompromiss der KMK beinhaltet, dass als Voraussetzung für eine gesamtdeutsche Anerkennung das Absolvieren eines Mindestunterrichts von 265 Wochenstunden bis zum Abitur notwendig ist.
Die einzelnen Bundesländer konnten in eigener Ver- antwortung entscheiden, ob die Schülerinnen und Schüler in zwölf oder dreizehn Schuljahren bis zum Abitur die 265 Wochenstunden durchlaufen. Wenn, wie es jetzt angestrebt wird, es zum Beispiel zentrale Abschlussprüfungen geben würde oder gemeinsame Bildungsstandards, hätte sich meines Erachtens die Diskussion über die Wochenstundenzahlen damals schon erledigt. War aber nicht so.
Mecklenburg-Vorpommern entschied sich aus meiner Sicht, wie nachfolgend deutlich wird, aus guten Gründen für zunächst dreizehn Schuljahre bis zum Abitur, ging dann – da war ja auch der Druck aus der Wirtschaft da, Schüler sollten schneller auf den Arbeitsmarkt kommen – auf zwölf Jahre zurück. Um so lange wie möglich den Übergang zwischen den Schularten in der Sekundarstufe I offenzuhalten, musste bei der Umsetzung des Abiturs nach zwölf Schuljahren nicht nur die Stundenta- fel im gymnasialen Bereich, sondern auch schon ab Klasse 7 erhöht werden, und zwar in allen Schularten, sonst hätten die Kinder nämlich nicht von der Realschule oder nur noch schwieriger von der Realschule auf die Gymnasien übergehen können.
Ich war damals schon der festen Überzeugung, dass das Ablegen des Abiturs, wie in allen anderen europäischen Ländern, selbstverständlich nach zwölf Schuljahren mög
lich ist. Ich bin heute noch dieser Überzeugung. Und ich sage es ganz deutlich, ich trete hier nicht dafür ein, dass wir wieder auf dreizehn Schuljahre zurückdrehen.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, unter den Bedingungen der von der KMK vorgegebenen Mindestunterrichtsverpflichtung war angesichts, und da kam erschwerend hinzu, einer 5-Tage-Schulwoche – die war doch kurz vor der Wende, ich weiß nicht, wer sich noch erinnert, meines Erachtens unter Margot Honecker erreicht worden, wir hatten nicht mehr sonnabends Unterricht, sondern eine 5-Tage-Schulwoche –
und dann aber der Erhöhung der Wochenstundenzahlen doch abzusehen, welche Belastung auf die Schüler zukommt, zumal wir auch damals schon wussten, dass die Schülerzahl um zwei Drittel auf ein Drittel zurückgeht, wir weniger Gymnasien haben werden, die Fahrwege länger werden.
Das war auch letztendlich der Grund, warum wir zunächst das Abitur nach dreizehn Schuljahren eingeführt hatten. Das wurde schlichtweg zurückgedreht auf acht Schuljahre bis zum Abitur, also auf die G 8, also auf zwölf Schuljahre bis zum Abitur. Ende des Schuljahres 2007/2008 hatten wir dann in Mecklenburg-Vorpommern bereits die doppelten Abschlussklassen und ich verstehe beim besten Willen nicht, Frau Berger, warum Sie jetzt noch mal einen Modellversuch machen wollen. Wir haben doch schon zwölf und dreizehn Schuljahre nebeneinander herlaufen gehabt.
(Ulrike Berger, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Weil das die Forderung vieler Schülerinnen und Schüler ist.)
Von da an hat Mecklenburg-Vorpommern, selbstverständlich unter Einhaltung der Vorgaben der KMK, die dann am 6. März 2008 als Qualitätssicherungsmaßnahmen noch mal geändert worden sind, ohne diese 265 Wochenstunden zu verlassen, das Abitur nach zwölf Schuljahren.
Und in der Zwischenzeit wird medial, das hatte Frau Berger auch gesagt, darüber diskutiert, dass die Kinder und Jugendlichen unter den vorher genannten Bedingungen ab Klasse 7 oder 8, aber spätestens in der gymnasialen Oberstufe einen längeren Arbeitstag haben als voll berufstätige Erwachsene. Zu täglich sieben, acht oder sogar mehrtägig hintereinander neun Unterrichtsstunden – neun Unterrichtsstunden! – kommen im ländlichen Raum jeweils für die Hinfahrt bis zu eine Stunde und für die Rückfahrt bis zu eine Stunde hinzu.
Dazu kommen noch die Hausaufgaben und die Folge ist, dass einem nicht geringen Teil von Schülerinnen und Schülern es neben ihrer Schulzeit nicht mehr möglich ist, sich noch ehrenamtlich zu engagieren und in Feuerwehrvereinen, Musikvereinen, Sportvereinen oder sonst wo
tätig zu werden. Sie gehen eigentlich nur noch in ihre Gemeinden – und das überspitze ich jetzt bewusst –, um zu schlafen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Qualität eines Abiturs und damit die gegenseitige Anerkennung kann doch nicht vordergründig von der Anzahl der zu absolvierenden Wochenstunden, sondern muss von Lerninhalten, von Wissen, von Kompetenz und Fähigkeitsentwicklung abhängen. In unserer modernen und schnelllebigen Informations- und Wissensgesellschaft benötigen Abiturientinnen und Abiturienten umso mehr solides Grundwissen und solide Grundkenntnisse. Nein, mit dem Motto „Viel hilft viel“ werden wir den Anforderungen nicht mehr gerecht.
Einige Bildungsexperten sprechen heute schon vom sogenannten Bulimielernen. Die drastische Wortwahl ist vielleicht fraglich. Das, was dahintersteckt, jedoch nicht. Denn wenn man nur für Klausuren und das Abitur lernt und danach sein Wissen schnell wieder vergisst, dann kann man im späteren Studium und Berufsleben nicht auf ein entsprechendes anwendungsbereites Wissen und solide Kenntnisse zurückgreifen. Ohne solides Grundwissen und wenn man nicht das Lernen lernt, werden Schülerinnen und Schüler angesichts der immer geringer werdenden Halbwertszeit des Wissens kaum noch in der Lage sein, künftige Probleme zu lösen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mecklenburg-Vorpom- mern sollte sich nicht an Experimenten anderer Bundesländer zur zeitlichen Dauer der Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe beteiligen …“ Dieser Teilsatz muss in Anführungsstrichen im Protokoll stehen, den habe ich nämlich aus der Begründung des Antrages der Fraktion DIE LINKE. Ich stimme dem damit auch ausdrücklich zu, aber ich gehe noch weiter. Anders als der Antrag geht die SPD-Landtagsfraktion davon aus, dass wir eine gesamtdeutsche Lösung brauchen.
Die gesamtdeutsche Anerkennung der in den einzelnen Bundesländern erworbenen Hochschulreife muss sich zukünftig stärker an dem erworbenen Wissen und den Fähigkeiten der Abiturientinnen und Abiturienten orientieren. Die Entwicklung und strikte Anwendung von Kerncurricula und die Definition und Umsetzung von einheitlichen Bildungsstandards müssen Maßstäbe für die gegenseitige Anerkennung des Abiturs werden, statt vordergründig auf quantitative Vorgaben zur Wochenstundenzahl abzustellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf unserer Sprecherkonferenz am 9. April dieses Jahres haben wir unter anderem genau darüber kontrovers diskutiert. Wir sind hier erst am Anfang einer bildungspolitischen Diskussion, aber wir werden – das habe ich schon gesagt – in einer gesonderten Fachtagung mit Experten tiefgründiger darüber sprechen. Wir müssen hier alte Denkstrukturen aufbrechen, die in einigen Bundesländern seit mehr als 60 Jahren bestehen. Und machen wir uns nichts vor: Es geht bei Festlegungen zu einheitlichen Bildungsstandards oder sogar zentralen Prüfungen auch um die Angst vor einem Verlust einer wesentlichen Kernkompetenz, nämlich der Schulpolitik in den einzelnen Bundesländern, und das wird diese Diskussion nicht einfacher machen.
Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass es gelingen kann und bei den enormen Herausforderungen im Bildungswesen auch gelingen muss, dass sich 16 Länder auf einheitliche Bildungsstandards und einheitliche Prüfungsstandards einigen. Den Bürgerinnen und Bürgern ist doch diese Kleinstaaterei im Bildungswesen oder im Schulwesen nicht mehr vermittelbar. Sie schafft Probleme, statt welche zu lösen. Und so ganz nebenbei gehört hierzu auch das zweite Thema unserer Sprecherkonferenz, nämlich die Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich. Auch das Kooperationsverbot versteht keiner und es gehört abgeschafft.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade weil wir mit dem von uns in der Sprecherkonferenz und von der Fraktion DIE LINKE heute im Landtag aufgerufenen Thema im wahrsten Sinne des Wortes dicke Bretter zu bohren haben, bin ich der festen Überzeugung, dass es höchste Zeit wird, einen offenen und konstruktiven Dialog ohne ideologische Scheuklappen zu führen.
Leider, und das habe ich schon gesagt, können wir aus Koalitionsgründen den vorliegenden Antrag der Fraktion DIE LINKE nicht als Grundlage …
Und ich sage es auch noch ein drittes Mal. Ich sage es zur Not bei diesem Antrag auch noch ein drittes Mal.
(Heinz Müller, SPD: Deswegen sagt sie es ja noch mal, Herr Kollege. – Peter Ritter, DIE LINKE: Hat Herr Renz wieder dicke Backen gemacht? Mensch, Mensch, Mensch!)
Die SPD-Landtagsfraktion wird die gesamtdeutsche Debatte, die wir von unserer Sprecherkonferenz in Schwerin aus angestoßen haben, jedoch weiterführen. Und ich lade alle demokratischen Fraktionen ein, sich daran zu beteiligen, gemeinsam für eine sehr gute und tragfähige Lösung für ganz Deutschland zu werben. – Vielen Dank, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Vorfeld dieser Landtagsdebatte veröffentlichte der „Nordkurier“ einen Artikel mit der Überschrift: „Abiturienten sollen es einfacher haben“
Ich habe mich beim Lesen dieses Artikels oder dieser Überschrift gefragt, was wohl passiert wäre, wenn ich
dem Parlament oder in einer Landespressekonferenz den Vorschlag unterbreitet hätte, dass die Abiturienten es in Zukunft einfacher haben sollten.