Protokoll der Sitzung vom 25.04.2013

(Torsten Renz, CDU: Wie alt waren denn die Schüler, die Sie befragt haben? – Zurufe von Marc Reinhardt, CDU, und Wolfgang Waldmüller, CDU)

Zuletzt haben die Teilnehmer von „Jugend im Landtag“, der eine oder andere mag sich erinnern, in diesem Sitzungssaal folgende Forderung erhoben, ich zitiere und das ist dann auch mein letzter Satz: „Wir fordern daher ein Flexibilisierungsjahr für das Abitur. So sollen die Schüler_innen für sich selbst entscheiden …, ob sie das Abitur nach“ zwölf oder dreizehn Jahren absolvieren.

Wir haben dafür ein Modell vorgeschlagen und sind gespannt auf Ihre Diskussion.

(Beifall vonseiten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Torsten Renz, CDU: Wie alt waren denn die Schüler?)

Das Wort zur Begründung des Antrages der Fraktion DIE LINKE auf Drucksache 6/1744 hat die Abgeordnete Frau Oldenburg von der Fraktion DIE LINKE.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Im vergangenen Jahr verließen über 17 Prozent der Jugendlichen den gymnasialen Bildungsgang, ohne die allgemeine Hochschulreife erworben zu haben. Knapp 11 Prozent der Jugendlichen der gymnasialen Oberstufe wiederholen eine Klasse, also Irrungen und Wirrungen in den gymnasialen Bildungsgängen in Mecklenburg

Vorpommern, und die möchte ich Ihnen an drei Beispielen, und ich betone, an drei ausgewählten Beispielen erläutern.

(Marc Reinhardt, CDU: Wie viele waren das? Drei?)

Ein Schüler kann in der Prüfung im Fach Mathematik null Punkte, also die Note „Sechs“ erreichen, und trotzdem besteht er das Abitur. Voraussetzung ist allerdings, dass er als Vorzensur eine „Fünf minus“ hat.

(Zuruf von Marc Reinhardt, CDU)

Ein Schüler am Gymnasium wird ohne Prüfung und sogar mit der Note „mangelhaft“, also einer Fünf, in die

11. Klasse versetzt. Eine Schülerin, die sich freiwillig am Gymnasium der Mittleren-Reife-Prüfung unterzieht, muss im selben Augenblick der Anmeldung zur Prüfung versichern, dass sie nach nicht erfolgreicher Prüfung sofort das Gymnasium verlässt.

Sehr geehrte Damen und Herren, dass gerade in diesem Bereich des Schulsystems etwas faul ist und dass das nicht die Schülerinnen und Schüler und nicht die Lehrkräfte sind, leuchtet ein. Das Schulsystem der gymnasialen Oberstufe schwächelt und mit ihm die Leistungen der Schülerinnen und Schüler, denn ihre Ergebnisse können nicht besser sein, als es das Konstrukt der gymnasialen Oberstufe zulässt. Und so erklärt sich auch der Durchschnittswert der Abiturergebnisse im Fach Mathematik: fünf Punkte, Note „Vier“, und damit die schlechtesten Ergebnisse bundesweit.

Deshalb fordert meine Fraktion, den Weg für Schülerinnen und Schüler zum Abitur erfolgreicher zu gestalten, die Unterrichtsorganisation und die Unterrichtsinhalte den Anforderungen der Abiturprüfungen anzupassen, die überhöhte Stundenzahl in den Jahrgangsstufen 11 und 12 zu reduzieren und mehr Mädchen und Jungen aus bildungsfernen Familien die Möglichkeit zu geben, erfolgreich ein Abitur abzulegen.

(Dr. Margret Seemann, SPD: Der Ansatz ist auch richtig.)

Nicht der Bildungsstand und die Finanzsituation der Eltern dürfen über den Bildungsweg des Kindes entscheiden, sondern das einzige entscheidende Kriterium muss die Förderung der Begabungen und Talente der Kinder sein und dieses kommt im derzeitigen System zu kurz.

(Marc Reinhardt, CDU: Sagt wer?)

Sehr geehrte Damen und Herren, Schülerinnen und Schüler in Mecklenburg-Vorpommern haben keinen differenzierten Unterricht mehr in Grund- und Leistungskursen. Sie haben gemeinsam in den sogenannten Hauptfächern, zu denen unter anderem Mathematik, Deutsch sowie die erste Fremdsprache zählen, Unterricht. Dieser Unterricht findet auf einem einheitlichen Niveau der ehemaligen Leistungskurse statt. Bei den Prüfungen müssen die Schüler dann allerdings wählen, denn diese werden auf Grund- oder Leistungskursniveau geschrieben. Das bedeutet also, dass die Jugendlichen, die auf dem Grundkursniveau geprüft werden, zwei Jahre lang wöchentlich vier Stunden auf erhöhtem Niveau unterrichtet werden, diesem zum Teil nicht folgen können und sich unmotiviert durch den Stoff quälen, ohne Einsicht in die Notwendigkeit, denn die besteht ja nicht. Sie haben also die Wahl zwischen Qual und Abschalten.

Gleichzeitig hängen jene Schülerinnen und Schüler hinterher, die ihre Prüfungen auf dem erhöhtem Anforderungsniveau ablegen wollen. So kommt in diesem Bereich das unbefriedigende Durchschnittsergebnis von acht Punkten, also der Note „Drei“ zustande. An den Ergebnissen wird deutlich, dass Schülerinnen und Schüler nicht ausreichend gefördert werden und wem das Geld für die Nachhilfeeinrichtungen fehlt, der gehört zu jenen 17 Prozent, die das Gymnasium ohne Abitur verlassen. Denn die Lehrerin oder der Lehrer kann nicht genügend fördern, weil der Stundenumfang in diesen sechs Hauptfächern von fünf Stunden auf vier Stunden gesunken ist.

Die Schülerinnen und Schüler müssen also weite Teile des Stoffes von dreizehn Jahren jetzt in zwölf Jahren erlernen, dazu aber noch mit einem geringeren Stundenumfang. Das bedeutet, dass es bei der Umsetzung der Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz in den verschiedenen Unterrichtsfächern gewaltig hapert, denn die Prüfungsbestimmungen in Mecklenburg-Vorpommern stehen keineswegs im Einklang mit den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Diese differenziert nämlich nach Stoffumfang und Abstraktionsgrad zwischen Grund- und Leistungskursen im Unterricht und in den Prüfungen. Und diesen Bestimmungen entsprechen wir nicht im ausreichenden Maße. Unser System spart zwar Geld, aber es spart auch an der Bildung. Das kann nicht gut gehen.

Bevor die Quote der Abiturientinnen und Abiturienten in Mecklenburg-Vorpommern sinkt, muss also geprüft werden, ob die Grund- und Leistungskurse wieder eingeführt werden sollten oder ob die Forderung des Landesvorsitzenden des Verbandes Bildung und Erziehung, Michael Blanck, unterstützt wird, die ich favorisiere. Ich zitiere: „Zwangsläufig müsse der Unterricht mehr als Grundkursinhalte bieten, um Leistungskursprüflingen gerecht zu werden. Das überfordere eventuell die anderen … Es müsse hinterfragt werden, ob unterschiedliche Prüfungen noch sinnvoll seien.“ Ende des Zitats. Herr Blanck plädiert also für einheitliche Prüfungen als Resultat eines einheitlichen, gemeinsamen Unterrichts. Diesen Weg beschreitet Baden-Württemberg.

Baden-Württemberg bietet diesen Weg des gemeinsamen Abiturs sehr erfolgreich an und trotzdem oder gerade weil es so ist, wird das baden-württembergische Abitur von den anderen 15 Ländern ohne Abstriche anerkannt. Sie sehen, mindestens zwei Lösungsvorschläge sind hier zu diskutieren. Und mindestens die gleiche Anzahl von Varianten gibt es auch bei der Verlagerung von Stundenanteilen in die Orientierungsstufe oder in den Sekundarbereich I, um die gymnasiale Oberstufe im Stundenumfang zu entlasten.

Und bei all diesen kleineren Verschiebungen ist auch immer gewährleistet, dass die derzeitige Überlastung der Abiturienten vermindert wird und eine zu starke Belastung der 10- bis 16-Jährigen nicht eintreten wird. Sie werden weiterhin ihren Schulalltag kindgerecht absolvieren können. Sogar die sagenumwobenen 265 Stunden bleiben.

Sehr geehrte Damen und Herren, ja, 265 Stunden sind scheinbar entscheidend. 265 Stunden sind entscheidend, weil eine Vorschrift der Kultusministerkonferenz besagt, dass für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife mindestens 265 Jahreswochenstunden nachzuweisen sind, 265 Wochenstunden, unabhängig davon, ob das Abitur nach zwölf oder dreizehn Schuljahren abgelegt wird.

(Dr. Margret Seemann, SPD: Das war doch der faule Kompromiss.)

Und genau hier liegt ein gravierendes Problem. 265 Wochenstunden sind scheinbar der Gradmesser für das Gelingen eines Bildungsweges und für die bundesweite Anerkennung des Abiturs. Nein, nicht das Können und das erworbene Wissen sind entscheidend, sondern eine nicht mehr den zeitgemäßen Gegebenheiten entsprechende Jahreswochenstundenzahl.

Sehr geehrte Damen und Herren, im Jahr 2002 ist mit der Einführung des Abiturs nach zwölf Jahren versucht worden, Klarheit und Struktur in die gymnasiale Oberstufe zu bringen. Es wurden die Rahmenpläne leicht überarbeitet und Stunden in die Klassenstufen 5 bis 10 verlagert. Die damit verbundenen Effekte zur Entspannung der Situation sind jedoch mit den sich anschließenden Änderungen der Schulgesetze zum Teil wieder aufgehoben worden. So wurden zum Beispiel die 2006 eingeführten Förderstunden in der Orientierungsstufe wieder abgeschafft, die schülerbezogene Stundenzuweisung wurde eingeführt und das System der Grund- und Leistungskurse durch einen Kanon von stundensparenden Pflichtfächern ersetzt.

(Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Und an diesen drei Beispielen zeigt sich sehr deutlich, dass Veränderungen an komplexen Einzelstrukturen des Bildungssystems prozessbegleitend beobachtet und

geprüft werden müssen, vor allem ganz besonders bei Eingriffen in den gymnasialen Bildungsgang, da hier ein Zusammenwirken verschiedener Schularten notwendig ist, die miteinander verzahnt sind.

(Torsten Renz, CDU: Das stimmt, ja.)

Denn wenn man in einem komplexen System an einem Zahnrad des Getriebes dreht, muss man die Auswirkungen des Handelns auf die anderen, kleineren und größeren Räder bedenken.

(Torsten Renz, CDU: Sehr richtig, sehr richtig. Genauso ist es.)

Läuft ein Zahnrad nicht richtig, so funktioniert die gesamte Anlage nicht.

(Beifall Dr. Margret Seemann, SPD)

Sehr geehrte Damen und Herren, unser Antrag zielt deshalb darauf ab, die Entwicklung und die Folgen der Umstellung auf das Abitur nach zwölf Jahren zu prüfen. Im Ergebnis dieser Prüfung sollen Maßnahmen erarbeitet werden, wie der gymnasiale Bildungsgang und insbesondere die Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstufe zu verändern sind, um eine qualitativ höhere Lernkultur, eine bessere Praktikabilität und eine Entlastung der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte zu erreichen. Die in Punkt 2. a) unseres Antrages exemplarisch genannten Schwerpunkte sollen dafür die Grundlage bilden.

Ich habe mich bei der Vorbereitung des Antrages dazu intensiv mit Praktikerinnen und Praktikern beraten und diese haben mir deutlich gemacht, dass es zum einen erhebliche Kritiken am derzeitigen Zustand, aber zum anderen auch ein großes Interesse an der Mitarbeit bei einer Reform gibt, das wir jetzt durch die Einsetzung einer Expertenkommission nutzen sollten.

(Torsten Renz, CDU: Schon wieder?)

Sehr geehrter Herr Minister, warten Sie nicht immer auf die Bundesländer, die uns schon längst im Bildungssystem überholt haben. Gauben Sie mir, diese werden nicht zu uns zurückkommen. Sie sind jetzt gefragt und wir unterstützen Sie mit unserem Antrag.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 120 Minuten vorzusehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Das Wort hat Frau Dr. Seemann von der Fraktion der SPD.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Wir debattieren heute über je einen Antrag der Oppositionsfraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE zum Thema gymnasiale Oberstufe beziehungsweise Abitur. Mein Kollege Andreas Butzki wird sich in dieser Debatte mit dem Antrag der GRÜNEN auseinandersetzen.

(Egbert Liskow, CDU: Sehr schön. – Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Da bin ich ihm sehr dankbar, denn nur so viel von meiner Seite – und das hat die Rede von Frau Berger eher noch verstärkt –, Kontinuität ist an sich nicht schlecht, aber dieser Antrag der GRÜNEN knüpft an die unausgegorenen Anträge ihrer bisherigen bildungspolitischen Anträge an. Und ich denke, Herr Butzki wird das nachher auch begründen.

(Marc Reinhardt, CDU: Da freuen wir uns drauf.)

In der Qualität der Anträge unterscheiden sich die beiden Anträge der Oppositionsfraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE nämlich deutlich. Ich möchte Ihnen gleich sagen, dass ich dem Grundanliegen des Antrages der Fraktion DIE LINKE zustimme und die Begründungsrede von Frau Oldenburg hat mich darin noch eher bestärkt,

(Zuruf von Silke Gajek, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

nämlich dahin gehend, dass in der bundesweiten Debatte zum Zentralabitur eine gesamtdeutsche Harmonisierung herbeigeführt wird. Und ich hätte es gut gefunden, liebe Kolleginnen und Kollegen Koalitionspartnerinnen und -partner, wenn Sie bereit gewesen wären, diesen Antrag der LINKEN weiter zur Beratung in den Bildungsausschuss zu überweisen.

Der Bildungsausschuss wäre der richtige Ort gewesen, um uns über die Themen „Gesamtdeutsche Anerkennung des Abiturs“ und „Gymnasialer Bildungsweg“ grundsätzlich zu unterhalten. Im Ausschuss hätten wir gemeinsam mit Fachleuten über die Stärken und vielleicht auch Schwächen des Antrages diskutieren können.

(Peter Ritter, DIE LINKE: Hätte, hätte, Fahrradkette.)