Protokoll der Sitzung vom 15.05.2002

Damit will ich freilich nicht behaupten, dass uns gar keine Erkenntnisse vorlägen. Wir wissen – darauf ist bereits hingewiesen worden -, dass Amokläufer fast durchweg Männer sind. Ferner wissen wir, dass es sich bei ihnen um isolierte Einzelgänger handelt, die zudem häufig keiner regulären Beschäftigung nachgehen. Sie vertrauen sich nur

schwer anderen Menschen an, sind im Kern Ichschwach und unsicher. Niederlagen und Kränkungen können sie nur schwer verkraften. Im Alltag erleben sie sich als ohnmächtig. Die Tat dagegen vermittelt ihnen zumindest für Augenblicke den Triumph höchster Macht, die Herrschaft über Leben und Tod.

Über den familiären Hintergrund dieser Täter wissen wir aus den genannten Gründen nur wenig. Aber es scheint so, dass ihre Sozialisation von einem Mangel an konstanter Zuwendung und Liebe, von Ablehnung und Zurückweisung geprägt ist, bei manchen offenbar auch von innerfamiliärer Gewalt.

Eines ist offenkundig: Ihre Ich-Schwäche kompensieren sie dadurch, dass sie sich Schusswaffen zulegen, die ihnen das Gefühl von Macht geben. Sie haben zu Schusswaffen eine geradezu erotische Beziehung. Man könnte in Abwandlung eines veralteten Militärspruchs sagen: Das Gewehr ist die Braut des Amokläufers.

Vor allem bei den jüngeren Amokläufern der letzten Jahre fällt auf, dass sie ihre Tötungsphantasien und ihr Vorgehen offenbar aus Computerspielen und Horrorfilmen konkretisiert haben. Plausibel erscheint, dass derartige PC-Spiele bei gefährdeten jungen Männern tatsächlich dazu beitragen, ihre Tötungshemmungen abzubauen.

In diesem Zusammenhang verdient etwas Beachtung, worüber in Deutschland bisher nur wenig geredet worden ist: Aus der amerikanischen Armee wissen wir über Erkenntnisse, wie sich solche Computersimulationen auf junge Männer auswirken. Der amerikanische Militärpsychologe Prof. Grossman hat dazu kürzlich in der Welt am Sonntag ein Interview gegeben. Er berichtet, dass amerikanische Soldaten vor Kampfeinsätzen an computergesteuerten Tötungssimulatoren systematisch geschult werden. Mit derartigen Trainingseinheiten bringt man die Soldaten dazu, ohne bewusstes Nachdenken zu töten. Das Schießen auf Menschen - so sagt er - wird so zum konditionierten Reflex.

In seinem Buch „Stop Teaching Our Kids to Kill“ zeigt Grossman die Parallelen auf, die zwischen diesen für das Militär entwickelten Programmen einerseits und den an diesem Vorbild orientierten Computerspielen der Kinder andererseits bestehen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die Grossman als Militärpsychologe gesammelt hat, appelliert er eindringlich an die politisch Verantwortli

chen, Kindern und Jugendlichen den Zugang zu derartigen PC-Spielen zu verwehren.

Das Buch von Grossman macht eines deutlich: Wir haben allen Anlass, uns gründlich über die Erkenntnisse zu informieren, die der amerikanischen Armee über die Auswirkungen solcher Computerprogramme offenbar vorliegen. Wenn sich das bestätigt, was Grossman in seinem Buch formuliert, dann brauchen wir in der Tat die Aufklärungsoffensive, von der wir gerade gehört haben.

Ich meine aber, dass das alleine nicht ausreicht. Wir müssen eine Doppelstrategie fahren und dabei die Ebene des Strafrechts gründlich darauf durchleuchten, ob wir dort wirklich alles getan haben. Offenkundig gibt es dort ein Problem. Schauen wir uns einmal den § 131 StGB in seiner aktuellen Fassung an. Dieser Paragraf setzt voraus, dass sich die Gewalt gegen Menschen richten muss, damit man strafrechtlich etwas unternehmen kann. Das haben die Hersteller von Computerspielen genau gelesen. Ihre Gewalt richtet sich nicht gegen Menschen, sondern gegen Zombies, gegen menschenähnliche Gestalten. Und schon sind sie damit aus der strafrechtlichen Verantwortung heraus. Das sollten wir, so meine ich, ändern. Wir haben dazu in meinem Haus einen Vorschlag entwickelt, den wir demnächst den Kolleginnen und Kollegen der Länder sowie der Bundesjustizministerin bei der Justizministerkonferenz vorstellen werden.

Wir wollen auf ein weiteres Moment aufmerksam machen: Es stimmt zwar, dass solche Computerspiele gegenwärtig noch problemlos aus dem Netz heruntergeladen werden können, weil sich die Besitzer darauf berufen können, dass alleine der Besitz solcher Computerspiele strafrechtlich nicht relevant ist. Das aber sollten wir ändern, und wir sollten ferner dazu beitragen, dass - indem wir diesen Tatbestand ins Strafgesetzbuch aufnehmen auch die Einziehung solcher jugendgefährdender und gewaltverherrlichender PC-Spiele und Videofilme strafrechtlich möglich wird.

Noch etwas ist merkwürdig: Es gibt ein so genanntes Erziehungsprivileg. Das gegenwärtig geltende Recht erlaubt Eltern, ihren Kindern unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 2 des Grundgesetzes Horrorfilme zu zeigen. Diese Eltern werden nicht nach § 131 StGB bestraft. Ist das wirklich richtig so?

Ich hatte kürzlich Gelegenheit, alle diese Fragen über viele Stunden hinweg mit den Schulsprechern

aller Bundesländer und ergänzend dazu in einer anderen Gesprächsrunde in Osnabrück mit Schulsprechern dieser Stadt zu erörtern. Bei beiden Gesprächsrunden haben die Jugendlichen Zweifel an den Plänen geäußert, das Strafrecht zu verschärfen. Einer verwies darauf, dass die Kirche früher ganz vergeblich versucht habe, mit ihrem Index die Menschen vor Büchern zu schützen, die man als gefährlich angesehen hat.

Als Gegenargument habe ich den Jugendlichen eine Geschichte erzählt. Man stelle sich vor, ein sechsjähriges Mädchen sitzt bei ihrer Oma auf dem Schoß, und ihr wird das Märchen von Hänsel und Gretel vorgelesen. Am Ende geht es da richtig gewalttätig zu. Da wird die Hexe ins Feuer geschubst, und unter großen Schmerzen verbrennt sie. - Aber dem Kind schadet das gar nicht, weil es in seiner Fantasie zu dem Gehörten nur Bilder entwickelt, mit denen es nachher wunderbar schlafen kann. Wie aber, so frage ich, wäre es, wenn das Kind auf dem Schoß der Großmutter säße und wir ihm einen realistischen Film vorführen würden, in dem die Hexe unter all den Schmerzen verbrennt, die man besichtigen könnte? - Ich meine, dass wir dann dem Kind schweren seelischen Schaden zufügen würden.

Das ist der Unterschied von Gelesenem und Gehörtem und Gesehenem. Die Vergewaltigung durch die Bilder ist das Problem. Wir müssen in der Aufklärung, meines Erachtens aber auch im strafrechtlichen Schutz sehr viel mehr Offensive entfalten.

(Beifall bei der SPD)

Zur Verschärfung des Waffenrechts ist hier schon einiges gesagt worden. Ich finde das, was hier eingeleitet wurde, nämlich dass wir die Altersgrenze erhöhen, richtig. Ich finde auch die Forderungen richtig, dass ergänzend dazu die Strafen für illegalen Waffenbesitz erhöht werden. Aber wenn wir das tun, dann sollten wir auch die Chance nutzen, dass wir den Bürgern im Lande zwei oder drei Monate vor der Strafverschärfung hinsichtlich des illegalen Waffenbesitzes sagen: Entwaffnet euch freiwillig - straffrei in dieser Zeit! - Natürlich werden wir damit die Ganoven nicht überzeugen. Aber wir können die hunderttausende Menschen überzeugen, die in unserem Land illegal Waffen besitzen, könnten sie vielleicht zum Teil zum Nachdenken bringen und damit dazu beitragen, zu verhindern, dass Waffen in falsche Hände geraten und mit ihnen Gefährliches angerichtet wird.

Für die Jugendlichen, mit denen ich debattiert hatte, standen freilich ganz andere Themen im Vordergrund. Für die waren die Fragen der Erziehung und der Bildung in Elternhaus und Schule wichtig. Diesbezüglich haben sie Fragen gestellt, die uns fast als Tabuverletzung vorkommen. So wollte ein Schüler wissen, warum fast nur junge Männer als Amokläufer in Erscheinung träten und dass sie auch sonst bei der Gewaltkriminalität eindeutig dominierten. Nun gut, darauf gibt es noch Antworten, die sie auch selbst wunderbar entwickelt haben.

Ein anderer fragte aber, was eigentlich geschehen wäre, wenn Robert Steinhäuser statt mit der Waffe in die Schule mit einem Rechtsanwalt zum Verwaltungsgericht gegangen wäre und dort hätte überprüfen lassen, ob sein Schulverweis rechtmäßig gewesen sei. Eine Antwort konnte ich nicht geben, weil mir die Details zu dem, was mit ihm veranstaltet wurde, fehlen. Aber die Frage konnte ich verstehen.

Ein anderer fragte: Wie ist es eigentlich, wenn ein 19-Jähriger wegen Urkundenfälschung beim Jugendgericht erscheinen muss? Werden dann die Eltern nicht informiert? - Natürlich, habe ich gesagt, würden dann die Eltern informiert, denn das Gericht will sich doch über den Werdegang dieses jungen Menschen gründlich informieren, und dazu brauchte es die Eltern. Das aber, was dort rechtens ist, kann doch im Schulrecht nicht nach Datenschutz falsch sein.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von Dr. Biester [CDU])

Von daher, so fragten die Jugendlichen, hätten wir doch Anlass, unser Schulrecht ein wenig an den Erfahrungen zu orientieren, die es im Jugendstrafrecht und vielleicht auch noch an anderen Aspekten gibt. Ist es denn richtig, dass eine ganze Schüler-Lehrer-Konferenz - 70 Personen und mehr über einen Schüler richte, wenn er etwas Falsches getan habe? Sollte man dafür nicht eine kleine Gruppe nehmen? - Ein anderer fragte, ob ein Lehrherr, der zugleich Schöffe sei, über seinen eigenen Auszubildenden richten dürfe, und meinte, dass man dafür doch neutrale Menschen nehme und es insofern richtig wäre, auch in der Schule über schwere Pflichtverletzungen und Verstöße gegen die Schulordnung neutrale Lehrer von einer anderen Schule befinden zu lassen.

Das alles waren Fragen, auf die ich keine perfekten Antworten hatte, bei denen meines Erachtens aber eines deutlich wird: Es lohnt sich, mit jungen Menschen zu reden. Von daher finde ich es richtig, dass wir so etwas einleiten.

Ich will zur Vorbereitung darauf Folgendes anbieten: Wir haben vor, mit jungen Menschen eine Open-Space-Veranstaltung zu veranstalten, an der pro Schule ein Junge und ein Mädchen und ein Angehöriger einer ethnischen Minderheit sowie Vertreter von 30 oder 40 Schulen teilnehmen sollten, und sie zu fragen, wo sie der Schuh drückt und was sie der Politik empfehlen. Das wäre eine gute Vorbereitung auf die Anhörung, die hier angedacht worden ist.

Während dieser Debatte mit jungen Menschen kam auf deren Wunsch noch ein anderes Thema zur Sprache. Sie wollten - weil es doch klar ist, dass Gewalt wenig Chancen hat, wenn wir couragierte Menschen in der Gesellschaft haben, die sich der Gewalt entgegenstellen -, wissen, wie eigentlich Courage entstehe. Sie wird von der Politik in schönen Sonntagsreden ein wenig herbeigebetet. Aber gibt es dazu nicht auch Erkenntnisse? - In Stichworten will ich wenigstens die erwähnen, die alle auf eines hinweisen: Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang. - Das wissen wir aus der Erforschung der Biografie von Menschen, die im Dritten Reich Juden gerettet haben. - Liebevolle Erziehung fördert die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, und die Bereitschaft, sich für leidende Menschen einzusetzen. - Noch eines: Eine Gleichrangigkeit der Eltern fördert die Entstehung einer innengesteuerten Moral. - Wer sich der Macht des Vaters beugen muss, weil der mehr Körperkraft hat, der wird eher Opportunist. Ein junger Mensch dagegen, der erlebt, dass die Eltern die Konflikte immer fair aushandeln, hat ein gutes Modell. Schließlich fördert eine Kultur der Anerkennung couragiertes Verhalten. - Die Judenretter waren nämlich nach eigenem Bekunden keineswegs immer couragiert und hilfsbereit. Die Stärke, ihrer Überzeugung entsprechend zu handeln, hatten sie dann, wenn sie in einer Gruppe verankert waren, in der man sich gegenseitig gestützt hat und in der mutiges Verhalten von anderen gewürdigt wurde.

Aber wenn so viel von der Familiensozialisation abhängt, so haben mich die Jugendlichen gefragt, warum gibt es dann eigentlich keine Elternschulen in Deutschland? Einer von ihnen wusste, dass das in anderen Ländern - in Australien beispielsweise an Kindergärten angedockt ist. Ein in der Tat tolles

Konzept! In Braunschweig wird es erprobt. Die bisherigen Berichte, die wir von Prof. Hahlweg kennen, sind sehr ermutigend. Von daher haben wir in der Tat Anlass dazu, diesen Weg zu beschreiten.

Wenn es also richtig ist, dass wir nicht nur auf Waffenrecht und Verbot von Computerspielen starren, sondern über Erziehung und Bildung reden, dann brauchen wir meines Erachtens zwei Dinge: Erstens können wir uns an dem orientieren, was wir landesweit mit Blick auf die rechte Gewalt schon getan haben, eine große Offensive der Auseinandersetzung über Verbände, Sportvereine usw., vielleicht diesmal unter der Überschrift „Ächtung von Gewalt - Zukunft für unsere Kinder“. Das Zweite entnehme ich einer Runde, die Anfang Mai stattgefunden hat. Da hat der Kanzler den Ministerpräsidenten einen Vorschlag unterbreitet, der positive Resonanz gefunden hat. Er hat die Idee gehabt, gemeinsam eine neue Stiftung zu gründen oder die Mittel, die man dafür vorsieht, unter einem anderen Dach anzulagern. „Bildung“ und „Erziehung“ sind die Schlagworte. Niedersachsen und das Saarland sind aufgefordert worden, hierzu Ideen zu entwickeln. Noch sind wir mit der Ausarbeitung des Konzeptes befasst. Aber vier Inhalte, die wir in der Tat fördern sollten, zeichnen sich ab:

Erstens. Im Hinblick auf Kinder- und Jugendgewalt gibt es Forschungsdefizite vor allem zur Frage der Prävention. Wir wissen gar nicht ganz genau, was sich positiv auswirkt und was nicht. Wir sind schnell bei der Hand, zu behaupten, dass das der richtige Weg sei, und verwenden wenig Gründlichkeit darauf, zu fragen, ob sich das auf lange Sicht wirklich bewährt. Also hier: Evaluationsforschung.

Zweitens. Wir haben beträchtliche Defizite beim Wissenstransfer dessen, was gesicherte Forschungserkenntnisse sind, in die Schulen, in Elternschulen und in die Bereiche der Gesellschaft, wo Erziehung praktisch läuft. Eine solche Stiftung - oder wer immer dann diesen Auftrag umsetzt hätte meines Erachtens eine sehr wichtige Aufgabe darin, Unterrichtsmaterialien, Filme für Schulen zu erarbeiten, die im Unterricht und in Elternschulen verwendet werden könnten und die die gesicherten Erkenntnisse aufzeigten, die wir über das richtige Erziehen von jungen Menschen schon gewonnen haben.

Drittens benötigen wir eine gute Öffentlichkeitsarbeit zur Förderung der Akzeptanz von Gewaltprävention in der Gesellschaft. Wir müssen die Medien als Partner gewinnen, wenn wir mit unseren Anstrengungen Erfolg haben wollen.

Viertens. Wir sollten auch den Mut haben, neue Wege zu erproben. Die jungen Menschen haben mir vieles an Ideen genannt, was geschehen sollte, z. B. in Bezug auf Schulschwänzer. Sie sagten, dass die Bußgelder nicht ausreichten und nachgefragt werden müsse, was bei jedem Einzelnen zugrunde liege, ob es Drogensucht sei, ob es Probleme in der Familie seien, Tablettenabhängigkeit oder die Tatsache sei, dass der Schüler erpresst werde.

Ich hatte den Jugendlichen berichtet, dass wir die Absicht hätten, in drei Regionen in Niedersachsen Versuche zu unternehmen, engagiert gegen Schulschwänzen vorzugehen. Sie meinten, dass sie dann mit im Boot sein und in jeder Schule dazu eingeladen werden wollten, um das Konzept mit den Lehrern und anderen Verantwortlichen zu diskutieren. Sie wollen sich daran auch aktiv beteiligen. Denn ihre These war, dass jemand, der geschwänzt habe, nur dann in die Schule zurückintegriert werden könne, wenn die Schüler mitmachten.

Noch ist nicht geklärt, ob diese Stiftung tatsächlich gegründet wird und ob die beschriebenen Ziele mit öffentlichen Geldern unter dem Dach einer bereits bestehenden Institution verwirklicht werden. Eines aber scheint doch sicher: Bund und Länder wollen gemeinsam eine große Anstrengung unternehmen, um genau zu den Fragen konstruktive Antworten zu entwickeln, die den jungen Menschen selbst wichtig sind. Das bietet Grund für ein wenig Optimismus.

Nach dem Erfurter Amoklauf lautete eine Schlagzeile einer großen Boulevard-Zeitung: „Sinnloses Morden“. Das war es in der Tat. Aber die Erschütterung, die nach diesem Ereignis durch das Land gegangen ist, scheint doch Einiges auszulösen, was uns voranbringen könnte. Wir sind es den Opfern schuldig, dass wir jetzt nicht bei Ankündigungen stehen bleiben, sondern dass umsetzen, was wir uns gegenwärtig vornehmen. - Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, jetzt hat der Kollege Gansäuer ums Wort gebeten.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es besteht Übereinstimmung darüber, dass es keinen monokausalen Zusammenhang gibt. Der Minister hat dies ebenfalls bestätigt. Es sind eben nicht nur die Waffen, es ist nicht nur das Fernsehen, es sind eben nicht nur die Elternhäuser, und es ist auch nicht nur ein Mangel an Moral und Verantwortungsbewusstsein, sondern es sind viele andere Dinge mehr, die hier zusammenwirken. Wer also glaubt, er müsse nur irgendetwas tun - und das möglichst laut und kräftig -, der irrt gewaltig. Die Dinge, die zuallererst getan werden müssen, kann man in Wahrheit nicht anordnen, nicht befehlen und auch nicht in Gesetze packen, sondern sie müssen vielmehr leise und einfühlsam getan werden. Das kann mit Blick auf die jungen Menschen, um die es geht, in Wahrheit aber kein Staat, keine Bürokratie tun, das können auch keine Politiker, sondern nur unsere Eltern.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, wenn in diesem Kontext über Gewalt geklagt und das, was in Erfurt geschehen ist, zu Recht zum Anlass für diese Debatte genommen wird, dann möchte ich darauf hinweisen, dass wir alle gemeinsam - ich schließe mich an dieser Stelle mit ein - jedes Jahr Zustände hinnehmen, die über die Dimensionen dieses schrecklichen Attentats weit hinausgehen. Jedes Jahr veröffentlicht der Deutsche Kinderschutzbund Zahlen, die uns erschrecken müssen. Ich möchte sie nur einmal für das letzte Jahr vortragen: 1 Million Kinder werden jedes Jahr mit Gegenständen geschlagen, 100 000 Kinder werden jährlich sexuell missbraucht, und 1 000 Kinder werden jedes Jahr durch das Schlagen von Eltern getötet, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Wenn es also nicht gelingt, Eltern in größerem Umfang dazu zu bewegen, sich wieder intensiver - das muss klar zum Ausdruck kommen - mit ihren Kindern zu beschäftigen, werden alle staatlichen und sonstigen Maßnahmen nichts bewirken.

(Beifall bei der CDU und Zustim- mung von Möhrmann [SPD])

Mit anderen Worten: Entweder schaffen wir es, mit den Eltern gemeinsam etwas zu bewegen, oder wir schaffen es eben gar nicht. Auch unter wissenschaftlicher Begleitung, Herr Justizminister, schaffen wir es nicht ohne die Eltern. Anders ausgedrückt: Die besten Gesetze und die engagiertesten Lehrerinnen und Lehrer können auf Dauer nicht das kompensieren, was in unseren Elternhäusern an Erziehung und Zuwendung versäumt wird. Gott sei Dank begreifen immer mehr Menschen, dass wir die Fähigkeit zur Toleranz, zur Mitmenschlichkeit, ja, zur Nächstenliebe, zur Friedensfähigkeit und zu sozialem Verhalten - es gab auch schon einmal welche, die dies als Sekundärtugenden diffamiert haben - nicht in die Wiege gelegt bekommen, sondern dass diese Eigenschaften erlernt, anerzogen und eingeübt werden müssen.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, in diesem Prozess sind Eltern und Elternhäuser ohne jede Alternative. Im SPD-Antrag - vielleicht ist es etwas missverständlich ausgedrückt; ich muss es aber dennoch erwähnen - steht:

„Es ist unsere gesellschaftliche Aufgabe, jungen Menschen die Entwicklung eines inneren Kompass zu ermöglichen.“

Wenn mit dem Wort „unsere“ unsere Politik und unser Staat gemeint sind, muss ich allerdings heftig widersprechen. Der innere Kompass, also das - ich bezeichne es einmal so - Seelengerüst von Kindern, wird Gott sei Dank mehr als von allen anderen Institutionen von unseren Eltern beeinflusst. Dazu sage ich: Das ist auch gut so. Denn unsere Kinder gehören nicht dem Staat, sondern sie sind eigenständige Persönlichkeiten mit engen Beziehungen zu den Eltern, die unvergleichbar sind und über die biologischen Gegebenheiten weit hinausgehen.

(Beifall bei der CDU)

Der Staat, meine Damen und Herren, ist aufgerufen, Rahmenbedingungen zu setzen, durch die sich die Kinder positiv entwickeln und entfalten können. Er hat auszuhelfen, wo Eltern versagen, und er hat in seinem politischen und humanitären Verhalten Vorbild zu sein. Der Staat kann aber niemals auch nur annähernd die Rolle von Eltern übernehmen oder ersetzen.

Meine Damen und Herren, da wir schon mehrfach gehört haben und vielfach lesen können - Frau Harms hat es hier richtigerweise gesagt -, was uns alles empfohlen wird, möchte ich uns allen heute eine Empfehlung nicht ersparen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns wird allenthalben gesagt, junge Menschen brauchen Vorbilder, weil sie Orientierung brauchen. Wenn das richtig ist - ich glaube, es ist richtig -, dann müssen wir auch über uns reden. Ich habe mir lange überlegt, ob ich das sagen soll, was ich jetzt sagen werde. Als ich gestern aber die Zeitung aufgeschlagen habe, war ich der Meinung, dass ich es sagen müsste.