Protokoll der Sitzung vom 20.11.2002

Etwa 20 Millionen Menschen werden mit Schreiben der Rentenversicherungsträger aufgefordert, ihre Anträge zu stellen. Ich habe es eben bereits ausgeführt: Diese Anträge, meine Damen und Herren, sind so umfangreich und kompliziert, dass es für die Betroffenen wirklich Schwierigkeiten bereiten wird, diese Anträge auszufüllen. Zusätzlich müssen Berater hinzugezogen werden, oder die Betroffenen müssen weitere Stellen aufsuchen, um diese Anträge ausfüllen zu lassen.

(Beifall bei der CDU - Frau Schwarz [CDU]: Das ist Bürgernähe à la SPD!)

Die Kommunen haben berechnet, dass bei circa zwei Drittel der Betroffenen, die einen Antrag auf Grundsicherung stellen, derartige Auswirkungen eintreten, dass sie keinen einzigen Cent mehr in der Tasche haben. Ein großer Teil - das habe ich auch bereits gesagt - wird weiterhin auf zusätzliche Sozialhilfe angewiesen sein. Mit 50 % bis 60 % Mischfällen wird gerechnet.

Geradezu irrwitzig werden die Finanzierung und die Antragstellung für Menschen in Pflegeeinrichtungen. Hier ist neben Rente, Pflegekasse, Pflegewohngeld, Unterhaltszahlungen von Angehörigen, Sozialhilfe plus Grundsicherung noch ein weiterer Antrag auszufüllen. Die Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege hat ebenfalls auf die zusätzlichen Belastungen in der Betreuung und Pflege der Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen hingewiesen.

Die Abwicklung der Grundsicherungsleistung ist alles andere als praktikabel. Leider hat die hiesige Landesregierung die Hinweise der freien Träger der Wohlfahrtspflege völlig außer Acht gelassen.

Diese Hinweise sind überhaupt nicht in die Bearbeitung eingeflossen. Auf alle Anregungen, die gekommen sind, hat die Landesregierung nicht reagiert.

Die betroffenen Sozialhilfeempfänger und –empfängerinnen in den stationären Einrichtungen wurden auf die unausgegorenen gesetzlichen Regelungen des Grundsicherungsgesetzes nicht hingewiesen.

(Zustimmung von Frau Schliepack [CDU])

Beispielhaft möchte ich hierfür anführen, dass das Land derzeit davon ausgeht, dass Grundsicherungsleistungen wie Renteneinkünfte bei der Errechnung des bewohnerbezogenen Aufwendungszuschusses zu berücksichtigen sind. Da das Land durch das Haushaltsbegleitgesetz 2002 den bewohnerbezogenen Aufwendungszuschuss gedeckelt hat, entsteht eine weitere Belastung.

(Beifall bei der CDU)

Dies führt bei allen Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern, die aufgrund der Leistung Grundsicherung nicht mehr sozialhilfebedürftig sind, zu einer Leistungsverschiebung vom Land zu den Grundsicherungsträgern. Es werden höhere Grundsicherungen gefordert, als bisher an Sozialhilfeleistungen und Grundsicherungsbetrag festgesetzt sind. Die Heimbewohner müssen nunmehr einen Teil der Grundsicherungsleistung, die sie vom Grundsicherungsträger erhalten, zur Deckung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtung einsetzen.

(Frau Schliepack [CDU]: Das ist ja toll!)

Damit bleibt für den Bewohner oder die Bewohnerin selbst nicht mehr übrig als bisher, nämlich ein Taschengeld.

(Beifall bei der CDU)

Trotzdem hat das Land Geld gespart, und der Grundsicherungsträger muss dieses zulegen.

Unverständlich ist, dass das Land zwar selbst bei der Gesetzesbegründung zu der Erkenntnis kommt, dass das Hinzutreten der Grundsicherung im Pflegeheimbereich zu keiner erheblichen Reduzierung der Leistungen nach dem Niedersächsischen Pflegegesetz führen würde, es aber nicht bereit ist, entsprechende Änderungen im Gesetz vorzunehmen.

Meine Damen und Herren, die Fälle im Tabellenwohngeld werden erheblich zunehmen. Dadurch wird auch noch eine weitere zusätzliche Personalbelastung für die Kommunen eintreten.

Zuletzt möchte ich auch noch auf die Änderung des Artikels 2, der das Betreuungsgesetz betrifft, hinweisen. Es ist eine Katastrophe für die Betreuungsvereine, dass das Land künftig die Unterstützung, die Zuwendung für anerkannte Betreuungsvereine als Kann-Bestimmung durchführen will. Hierdurch haben viele Betreuungsvereine in Zukunft Probleme, ihre Arbeit fortzusetzen. Sie werden ohne Mittel nicht mehr existieren können. Für die Eltern der betroffenen Menschen, die die Betreuung als ehrenamtliche Aufgabe wahrnehmen, wird ein Unsicherheitsfaktor entstehen, der so belastend sein wird, dass die Eltern künftig im Regen stehen gelassen werden und die Betreuungsvereine kaputt gehen, sodass es künftig nur noch Berufsbetreuer geben wird.

(Glocke des Präsidenten)

Diese Berufsbetreuung wird erheblich teurer werden, als es bisher mit ehrenamtlichen Kräften möglich war. Ich wünschte mir, Sie lehnten dieses Gesetz genauso ab wie wir. Wir werden als CDUFraktion keine Zustimmung erteilen. - Danke schön.

(Beifall bei der CDU)

Wir hören nun Frau Kollegin Pothmer. Bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Jahn, ich weiß nicht, auf welcher Veranstaltung Sie waren; die Anhörung zum Grundsicherungsgesetz jedenfalls können Sie hier nicht wiedergegeben haben.

Natürlich ist es so, dass die Anzuhörenden an der einen oder anderen Stelle Kritik geäußert und zum Teil gesagt haben, dass das, was an Sätzen vorgeschlagen wurde, nicht ausreicht. Das ist etwas, was wir in dem Zusammenhang immer haben werden. Dass es bei einer grundlegenden Veränderung im Sozialsystem, wie es die Einführung einer Grundsicherung darstellt, auch Friktionen gibt, dass es bürokratische Anpassungsprobleme gibt, will ich gerne zugestehen und hier nicht bestreiten. Ich finde, wir sollten auch die in der Anhörung vorge

schlagene Änderung des Wohngeldgesetzes auf der Bundesebene in Angriff nehmen, wie es von den kommunalen Spitzenverbänden gefordert worden ist.

Frau Jahns, die Anpassungsprobleme, die es bei der Umsetzung jetzt gibt, nehmen natürlich nichts weg von dem sozialpolitischen Fortschritt, den dieses Gesetz für die Betroffenen darstellt. Das will ich hier ausdrücklich betonen.

(Zuruf von Frau Jahns [CDU])

Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass die Sozialhilfe, die eigentlich einmal als nachrangige Hilfeleistung konzipiert worden ist, mit den derzeitigen Problemen hoffnungslos überfordert ist,

(Frau Jahns [CDU]: Durch das Gesetz auch!)

dass die Kommunen überhaupt nicht in der Lage sind, mit der Sozialhilfe auf diese Probleme angemessen zu reagieren, dass die Sozialhilfe verschämte Armut, insbesondere bei älteren Menschen, produziert. Sie produziert die verschämte Armut u. a. deshalb, weil die Sozialhilfe das Rückgriffsrecht auf die Angehörigen betont. Das heißt, es gibt sehr viele ältere Menschen, die auf die Sozialhilfe verzichten, weil sie nicht wollen, dass ihre Kinder dann herangezogen werden.

(Frau Jahns [CDU]: Das wird sich durch das Gesetz auch nicht ändern!)

- Das wird sich durch das Gesetz grundlegend ändern. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen, das Sie, Frau Jahns, eigentlich gut kennen müssten. Wir haben uns in einer der letzten Sitzungen mit einer Petition befasst, mit der sich eine 77-jährige Rentnerin und ihr 80-jähriger Mann an den Landtag gewendet haben. Beide haben zusammen eine Rente von weniger aus 1 500 Euro. Sie sind verpflichtet, mit dieser Rente ihre 54-jährige Tochter finanziell zu unterstützen, und zwar lebenslang, weil diese Tochter alkoholabhängig und behindert ist. Die 54-jährige Tochter hat drei Jahre lang den Versuch unternommen, alleine außerhalb des Heimes zu leben. Das hatte für dieses Ehepaar die Folge, dass es eine Rechnung von der Stadt Emden von mehr als 20 000 DM bekommen hat.

(Frau Jahns [CDU]: Sie glauben doch nicht, dass sich das ändert!)

Das sind die Regelungen, die Sie, Frau Jahns, weiterhin verteidigen.

(Plaue [SPD]: Unglaublich!)

Wissen Sie, wie Ihre Bundestagsfraktion das nennt? - Ihre Bundestagsfraktion sagt, der Solidaritätsgedanke der Familie müsse aufrecht erhalten werden. So weit zu der Sozialpolitik à la CDU.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Nein, meine Damen und Herren, die Grundsicherung ist die richtige Antwort auf die Probleme in unserer Gesellschaft. Die Grundsicherung muss nicht etwa abgeschafft werden, wie Sie das in Ihrem Wahlprogramm versprochen haben, sondern die Grundsicherung muss weiter ausgebaut werden, wenn wir mit den Problemen hier angemessen umgehen wollen.

(Decker [CDU]: Haben Sie einen Fi- nanzierungsvorschlag? – Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Einen Augenblick bitte! Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich konnte von dieser Stelle aus leider nicht allen Gesprächspartnern hier das Wort erteilen. Ich habe es ausdrücklich nur für Frau Pothmer gemacht. Ich bitte Sie, das bei Ihren Gesprächen zu berücksichtigen und diese Gespräche draußen zu führen, hier jedenfalls einzustellen. - Bitte sehr!

Herr Präsident, ich danke Ihnen.

Lassen Sie mich bitte noch kurz etwas zu dem Artikel 2 dieses Gesetzes sagen, der nichts, aber auch rein gar nichts mit der Grundsicherung zu tun hat. Dadurch wird by the way die Finanzierung der Betreuungsvereine auf eine neue Grundlage gestellt. Was es bei der SPD heißt, etwas auf eine neue Grundlage stellen, wird sich in der Region Hannover in wunderbarer Weise zeigen. Wir haben hier fünf Betreuungsvereine. Wir werden hier zukünftig maximal zwei Betreuungsvereine haben. So wird das jetzt nach diesem Artikel 2 zukünftig geregelt sein.

Meine Damen und Herren, der Versuch, im Sozialhaushalt 3,50 DM zu sparen, wird in der Konsequenz dazu führen, dass die Ausgaben für Betreuung im Justizhaushalt weiterhin exorbitant in die Höhe schnellen werden, und zwar in zweistelliger Millionenhöhe. Was Sie hier machen, ist nicht nur

finanzpolitischer Nonsens, in jeder Hinsicht kontraproduktiv, sondern das ist auch eine Ohrfeige für diejenigen, die derzeit in erster Linie ehrenamtlich die Betreuung ihrer eigenen Familienangehörigen, ihrer behinderten Kinder leisten. Damit torpedieren Sie nicht nur die Arbeit dieser ehrenamtlichen Mitarbeiter, sondern auch die mühselige Aufbauarbeit, die die Betreuungsvereine in der Vergangenheit geleistet haben und zu der Sie qua Gesetz aufgefordert sind.

Diese Änderung des Artikels 2, die im Zusammenhang mit diesem Gesetz jetzt verabschiedet werden soll, lehnen wir ausdrücklich ab. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Zu Wort gemeldet hat sich nun Frau Ministerin Dr. Trauernicht. Bitte!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Gesetz zur bedarfsorientierten Grundsicherung ist tatsächlich ein wichtiger Meilenstein beim Umbau unseres Sozialversicherungssystems. Mit diesem Gesetz - das wurde schon deutlich bekommen ältere Menschen das Einkommen, das sie für ihren Lebensunterhalt brauchen, und zwar ohne dafür Sozialhilfe beantragen zu müssen, ohne auf das Einkommen der Kinder zurückgreifen zu müssen und auch,

(Frau Jahns [CDU]: Bei dem büro- kratischen Aufwand? Völlig unprakti- kabel!)

ohne dass die Kinder ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse offenbaren müssen. Wir alle wissen, dass dies entscheidende Hinderungsgründe dafür waren, dass Frauen - zumeist Frauen - ihr Recht in Anspruch genommen haben.

Wenn die Rente nicht reicht, gibt es nun die Grundsicherung. Das, meine Damen und Herren und insbesondere Frau Jahns, ist doch ein entscheidender Schritt im Kampf gegen die verschämte Altersarmut und für ein Altern in Würde und müsste doch ausdrücklich von Ihnen begrüßt werden.