Protokoll der Sitzung vom 16.11.2000

Meine Damen und Herren, da das heute meine letzte Rede hier auf diesem Platz als Ministerin ist, möchte ich mich bei Ihnen für die Zusammenarbeit und Auseinandersetzung bedanken. Sollte ich gelegentlich jemanden gekränkt haben, dann entschuldige ich mich. Mir fällt das allerdings im Moment nicht auf.

Ich darf Ihnen sagen: Sie werden mich auf der Bank etwas weiter unten genau so kämpferisch erleben, wie Sie mich hier auch erlebt haben. Schönen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Frau Ministerin, vielen Dank. Ein solcher Beifall tut gut. Das war auch - wenn ich das trotz Neutralität sagen darf - in Ordnung.

Frau Pothmer, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine solche große Anfrage, wie sie die CDU-Fraktion hier gestellt hat, gibt immer die Gelegenheit, auch einige grundsätzliche Anmerkungen zum Stand der Arbeit für und mit Menschen mit Behinderungen zu machen. Das tut die Landesregierung ihrerseits auch gleich auf Seite 1, wenn sie von einem Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik spricht hin zu einer Bürgerrechtspolitik. Meine Damen und Herren, offensichtlich ist nicht nur mir, sondern auch dem Behindertenbeauftragten des Landes dieser Paradigmenwechsel nicht richtig aufgefallen. Ich meine auch, dass dieser Paradigmenwechsel aus der Beantwortung der Großen Anfrage nicht zu erkennen ist. Möglicherweise liegt das auch ein bisschen an den Fragen. Er wird aber jedenfalls nicht deutlich.

Der Landesbehindertenbeauftragte bezieht sich ja nicht auf die Große Anfrage, sondern auf die Politik hier im Lande. Das war auch der Grund, aus dem heraus er einen Gesetzentwurf eingebracht hat, der ausdrücklich die Behindertenpolitik hin zu einer Bürgerrechtspolitik in diesem Lande führen will. Es ist richtig, Frau Ministerin, wenn Sie hier

sagen, die Positionen des Behindertenbeauftragten müssten nicht 100prozentig die Positionen einer Landesregierung oder auch der SPD sein. Das stimmt, kann ich nur sagen.

(Frau Elsner-Solar [SPD]: Das stimmt aber nicht! Wir sind überein!)

- Das hörte sich in der letzten Rede gerade von Ihnen, Frau Elsner-Solar, noch ganz anders an. Aber es freut mich immer sehr, wenn Sie auch dazu lernen.

Ich möchte nur sagen: Ich kritisiere nicht, dass Sie diesen Gesetzentwurf nicht eingebracht haben. Ich kritisiere aber durchaus, dass Sie diese Arbeit, die vorgelegt worden ist - von der Sie übrigens in der Antwort auf die Große Anfrage sagen, dass sie aus Mitteln der Landesregierung bezahlt worden ist; ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dieser Teil der Antwort hat mich amüsiert; denn es stellt sich die Frage, wie das hätte sonst bezahlt werden sollen und ob der Behindertenbeauftragte die Erarbeitung des Gesetzentwurfs etwa von seinem Taschengeld bezahlen sollte; das finde ich ein bisschen merkwürdig -, nicht aufgegriffen und nicht einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt haben, sondern, nachdem dieser Gesetzentwurf vorgelegen hat, von der SPD-Fraktion ein relativ unverbindlicher Entschließungsantrag eingebracht worden ist. Das war nach dem Stand der Debatte und nach dem, was vorgelegt worden ist, wirklich nicht mehr angemessen.

Ich habe den Eindruck, dass die Tatsache, dass wir diesen Gesetzentwurf eingebracht haben - das hat im übrigen dazu geführt, dass das Geld nicht zum Fenster hinaus geworfen worden ist -, durchaus auch Druck auf die Landesregierung ausgeübt hat und dass dieser überfällige Schritt jetzt vielleicht endlich kommt.

Meine Damen und Herren, Behindertenpolitik ist immer auch Bundespolitik. Deswegen möchte ich ein paar Sätze zu dem sagen, was die Berliner Koalition in diesem Bereich macht. Man kann fast sagen, seit Jahrzehnten fordern die Menschen mit Behinderungen und fordern diejenigen, die in diesem Bereich tätig sind, ein Gesetz, das alle Maßnahmen, alle Belange, die Menschen mit Behinderungen betreffen, in einem Gesetzesvorhaben zusammengefasst werden. Dieser Entwurf liegt nun vor. Wir alle können sehr zuversichtlich sein, dass es dieses Sozialgesetzbuch IX sehr bald geben wird. Ich finde das sehr gut. Darin wird es Kon

kretisierungen und auch Verbesserungen bisheriger Rechtsvorschriften geben. Darauf will ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen, weil dazu in der Antwort auf die Große Anfrage einiges gesagt wird.

Ich will aber auf zwei Punkte hinweisen, die aus meiner Sicht in der Diskussion bis jetzt noch nicht hinreichend beachtet worden sind. Erstens. Wenn dieses Gesetz erarbeitet wird, dann brauchen wir, glaube ich, eine präzisere Abgrenzung in Bezug auf die Leistungen der Eingliederungshilfe und der pflegerischen Hilfen. Ein zweiter Bereich ist mir außerordentlich wichtig. Herr Seehofer hat damals mit Zustimmung der SPD-Fraktion den § 3 a geändert. Der besagt, dass immer dann, wenn ambulante Hilfen teurer sind als stationäre Hilfen, der Vorbehalt der Wirtschaftlichkeit zieht. Dieser Paragraf stellt, wie ich finde, ein richtiges Problem dar. Darüber müssen wir noch einmal diskutieren. Wenn wir hier immer wieder davon reden, dass das Selbstbestimmungsrecht der Behinderten gestärkt werden muss, dass sie die Wohnform selbst wählen sollen, dann müssen wir diesen Vorbehalt der Wirtschaftlichkeit neu diskutieren und gegebenenfalls zurücknehmen.

Meine Damen und Herren, ich komme noch einmal zu Niedersachsen zurück. – Unter Rot-Grün hat es – das wissen Sie alle ja – die Fachkommission für Behindertenhilfe gegeben. Die hat nicht nur eine sehr gute Analyse der Situation für Niedersachsen erstellt,

(Glocke des Präsidenten)

sondern auch einen Riesenkatalog von Maßnahmen, der – das kann man auch der Antwort auf die Große Anfrage entnehmen – immer noch nicht abgearbeitet worden ist. Ich will nur ein paar Sachen aufzählen: Öffentlicher Personennahverkehr für Behinderte – völlig unzureichend geregelt. Bei vorhandenen Bauwerken kein barrierefreier Zugang. Integrative Erziehung von Kindern mit Behinderungen. Ich finde es, offen gestanden, sehr merkwürdig, wenn Sie hier behaupten, Sie wüssten gar nichts von dem zigfach geäußerten Wunsch von Eltern, ihre Kinder in einen integrativ arbeitenden Kindergarten zu geben. Erwerbslose Schwerbehinderte. Meine Damen und Herren, ich bin auch froh darüber, dass es hierzu jetzt dieses Gesetz gibt. Nur hätte die Landesregierung über den flächendeckenden Einsatz von Integrationsfachkräften hier längst vorangehen können und das

leisten können, was durch das Gesetz jetzt erzwungen wird.

(Glocke des Präsidenten)

Dass die Beschäftigungsquote beim Land nicht eingehalten ist, hat die Frau Ministerin gerade noch einmal betont. Das, finde ich, können wir nicht hinnehmen. Das Spektrum dessen, was das Land anzubieten hat, ist sehr breit. Wenn es hier nicht gelingt, die Quote zu erfüllen, dann können wir uns, glaube ich, politische Debatten mit entsprechenden Forderungen an die Wirtschaft ersparen.

Zusammengefasst: Menschen mit Behinderungen haben in Niedersachsen nach wie vor nicht die Chance, ihr Leben nach ihren Möglichkeiten und Wünschen zu gestalten. Ich glaube, dass ein Gesetz, wie es der Behindertenbeauftragte vorgelegt hat, also ein niedersächsisches Gesetz zur Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen, die richtigen Antworten auf die noch anstehenden Fragen gibt. Ich hoffe, dass dieses Gesetz jetzt in den parlamentarischen Beratungen in Angriff genommen und dann auch verabschiedet wird. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich darf zwischenzeitlich mitteilen, dass sich die Fraktionen darauf verständigt haben, nach der Besprechung dieser Großen Anfrage den Punkt 22 – Ungerechtfertigte Benachteiligung niedersächsischer Beamter aufheben – zu beraten. Danach wird Frau Birthler vortragen.

Jetzt hat Frau Elsner-Solar das Wort.

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Entsprechend dem Thema der großen Anfrage hatte ich mir eigentlich vorgenommen, auf jegliche Polemik zu verzichten. Aber manche Provokationen kann man nicht ganz ignorieren. Darum sei den Damen der Opposition gesagt – nur ein Satz -: Es wird Ihnen nicht gelingen, einen Keil zwischen die Fraktion und den Behindertenbeauftragten oder einen Keil zwischen die Fraktion und die Landesregierung zu treiben.

(Beifall bei der SPD)

Bei der Besprechung einer Großen Anfrage muss man, finde ich, zunächst einmal einen Dank sagen, weil sowohl die Erstellung des Fragenkataloges als auch die Beantwortung einen erheblichen Arbeitsaufwand erfordert. In dem Zusammenhang muss ich auch eine kleine Kritik anbringen. Die Abgrenzung von Behindertenrecht und Pflegeversicherung ist eigentlich, liebe Frau Jahns, eine geschlagene Schlacht. Ich habe gedacht, das sei inzwischen nun wirklich so klar und so detailliert rübergekommen, dass man darauf nicht mehr eingehen muss. Ich bedauere, dass die Landesverwaltung dann noch mit solchen Themen beschäftigt wird.

(Zustimmung von Groth [SPD])

Die SPD, verehrte Frau Kollegin von den Grünen, begrüßt nicht nur den Paradigmenwechsel, der meiner Ansicht nach auch in der Antwort auf die Große Anfrage sehr deutlich geworden ist; sie hat ihn von Anfang an unterstützt.

(Frau Pothmer [GRÜNE]: Das ist schön von euch!)

Das wird, finde ich, in der Antwort auf diese Große Anfrage sehr deutlich. Ich möchte nur einige Punkte herausgreifen.

Arbeit und Beschäftigungsförderung. – Wir als Politiker wissen aus vielen Studien und Forschungsergebnissen, dass Arbeit der wichtigste Faktor ist, wenn es um Integration oder Desintegration in die Gesellschaft geht. Von daher ist unser Hauptaugenmerk auf dieses Thema gerichtet. Ich bin froh darüber, dass Bund und Land da sozusagen Hand in Hand gehen und dass – wie aus der Antwort auf die Große Anfrage ersichtlich – in dem Programm der Landesregierung zu Arbeit und Qualifizierung zu 10 % bis 15 % Menschen mit Benachteiligungen oder – wie es hier beschrieben ist – mit Behinderungen sind. Ich bin auch froh darüber, dass im 7. Sonderprogramm mit 14 Millionen DM die Qualifizierung von Frauen mit Behinderungen bevorzugt gefördert wird.

Dass es bei der Bereitstellung von ambulanten Rehabilitationsangeboten, die besonders von Frauen genutzt werden könnten, eine Lücke gibt, die eigentlich die Träger der Rehabilitation, also z. B. die Rentenversicherungen, auszufüllen haben, ist, denke ich, ein Umstand, den wir alle miteinander nicht gutheißen und an dem wir alle miteinander auf den Feldern, auf denen wir tätig sind, noch zu arbeiten haben, immer dann, wenn wir Gespräche

mit den Kolleginnen und Kollegen der Träger der Rehabilitation führen.

In der Gesamtheit allerdings – das haben Sie, verehrte Kolleginnen, vielleicht überlesen – hat es in den letzten zehn Jahren eine positive Entwicklung zum Thema „Beschäftigung und Arbeit“ gegeben. Allein im letzten Jahr sind sechs neue Berufe entstanden und zugelassen worden. Wer ein bisschen davon weiß, wie kompliziert Schulpolitik ist, der weiß auch, was an Absprachen, an Gremienarbeit dahinter steht. Ganz besonders stolz bin ich darauf, dass es gelungen ist, wenigstens einen Schulversuch, und zwar in dem Stadtteil, aus dem ich komme, zu installieren. Dabei geht es um die Zusammenarbeit von Schulen für geistig Behinderte und berufsbildenden Schulen im Hinblick auf ein spezielles Qualifizierungsangebot für geistig Behinderte, nämlich eine Ausbildung zum Helfer im Gartenbau.

Wir haben in den letzten Jahren ebenfalls erreicht, dass es flächendeckend Integrationsfachdienste zur Vermittlung von Beschäftigten aus Werkstätten in den normalen Arbeitsbereich gibt. Auch das sind Entwicklungen, denke ich, die man nicht unter den Tisch fallen lassen darf.

(Zustimmung von Groth [SPD])

Schaut man sich die haushaltsrelevanten Entscheidungen im Gesamten an, fällt etwas sehr positiv auf, und das sollte hier durchaus auch einmal festgehalten werden: Während im Haushalt 1990 ca. 900 Millionen DM für den gesamten Bereich der Förderung von Menschen mit Benachteiligungen ausgegeben wurden, handelte es sich im Jahr 1998 um eine Summe von ca. 1,9 Milliarden DM. – Das ist eine Entwicklung, die man ebenfalls nicht unter den Tisch fallen lassen darf.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich möchte dann noch das Thema Zivildienst ansprechen, obwohl ich meine, dass wir das an anderer Stelle schon differenziert und häufig beraten haben und auch noch beraten. Es wird ja sogar eine Anhörung vorbereitet. Deshalb nur ein paar wenige Sätze dazu.

Wir sehen in dieser neuen Entwicklung auch eine wünschenswerte Richtung und hoffen, dass diese mit der Einrichtung fester Arbeitsplätze für bestimmte Berufsgruppen verbunden ist. Ich gehe davon aus, dass durch die Veränderungen, die wir zum Niedersächsischen Ausführungsgesetz zum

Bundessozialhilfegesetz gestern hier beschlossen haben - Stichwort „Quotales System“ -, auch die Kommunen viel mehr Spielräume haben, um in diesem Bereich aktiv zu werden. Ich hoffe sehr, dass unsere Kollegen mit kommunalpolitischem Engagement diese Spielräume sehen und nutzen können. Wenn das nicht der Fall sein sollte, dann biete ich mich gern dafür an, mit Ideen in die einzelnen Städte und Gemeinden zu kommen.

(Beifall bei der SPD - Eveslage [CDU]: Ideen haben die Städte und Gemeinden genug; ihnen fehlt nur das Geld!)

Des Weiteren ist das Thema Landesbildungszentren hier angesprochen worden. Das ist auch im Zusammenhang mit dieser Großen Anfrage ein wichtiges Thema, weil die Hinweise des Landesrechnungshofs zu großer Verunsicherung bei Beschäftigten der Landesbildungszentren und in den Elternkreisen geführt haben. Deshalb betone ich hier noch einmal ausdrücklich Folgendes:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Pothmer?

Ich möchte das gern zunächst vortragen, weil ich nicht weiß, wie lange ich dafür brauche. - Es ist der feste Wille der SPD-Landtagsfraktion, diese Landesbildungszentren an den Standorten zu erhalten, auch wenn diese wegen der historischen Entwicklung meiner Ansicht nach eigentlich günstiger verteilt sein könnten, damit sie ihre Funktion als regionale Kompetenzzentren in stärkerem Maße wahrnehmen könnten. Wir halten es aber für notwendig, dass sich die Landesbildungszentren weiter entwickeln. Dazu wird gehören, dass sie sich der Überprüfung stellen daraufhin, ob sie ihre Arbeit und ihre Angebote nicht selbständiger organisieren könnten. Wir haben in den Fachgesprächen z. B. erfahren, dass viele der Beschäftigten keinen Überblick darüber haben, was ihre Leistungen kosten. In einer Zeit wie der heutigen halten wir das für volkswirtschaftlich nicht mehr vertretbar.

(Beifall von Abgeordneten der SPD)

Der Landesrechnungshof muss sich im Zusammenhang mit den Landesbildungszentren im Übrigen prinzipiell vorhalten lassen, dass den Zusatz

kosten, die durch Fahrten oder durch Internatsunterbringungen entstehen, einmal abgesehen von den menschlichen Zumutungen, die dabei unerwünschterweise auf die Betroffenen zukommen, die erreichbaren Einsparungen gegenzurechnen sind.

Damit komme ich zum Thema Integration. Bei den integrativen Angeboten handelt es sich prinzipiell um Selbstverwaltungsangelegenheiten der Städte und Gemeinden, wenn ich das als Mitglied des Ausschusses für Rechts- und Verfassungsfragen in der Vergangenheit richtig gesehen habe. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass sich die Kollegen der CDU einmal entscheiden müssen, ob sie diese Finanzmittel nun haben wollen oder ob sie sie nicht haben wollen. Wir halten es jedenfalls für fachlich geboten, dass bestimmte Entwicklungen durch den Einsatz von Landesmitteln unterstützt werden, auch wenn die entsprechenden Maßnahmen damit nicht immer dauerhaft finanziert werden können.