Die Antwort auf unsere Anfrage zeigt aber auch sehr deutlich, dass es dringend notwendig ist, in Niedersachsen zu handeln, weil wir einfach zu wenig wissen. Diese Landesregierung hat hier zu wenig hingeschaut. Nicht eine unserer Fragen nach der Armutssituation von Kindern konnte zufriedenstellend beantwortet werden. Das fängt schon damit an, dass die Landesregierung nicht einmal sagen kann, wie viele Kinder in Niedersachsen in Armut leben. Wir kennen nur die bundesdeutsche Statistik. Hinzu kommt, dass diese Statistik auf Erwachsene fixiert ist. Dass die Armut von Kindern und Jugendlichen ein eigenständiges Problem ist, ist offenbar überhaupt nicht angekommen. Es gibt keine präzisen Angaben darüber, wie viele Kinder in Schlichtwohnungen, in Obdachlosenquartieren leben, wie viele Kinder in überschuldeten Familien aufwachsen, wie viele Kinder bei suchtkranken Eltern leben usw. usf. Auch über die besondere Situation der in Armut lebenden Kindern ausländischer Herkunft kann uns diese Landesregierung schlichtweg gar nichts sagen. Dabei sind diese Kinder überproportional von Armut bedroht. Vielleicht will man nicht zur Kenntnis nehmen, welcher soziale Sprengstoff darin liegt. Offenbar werden auch die wissenschaftlichen Untersuchungen, die es zum Thema Kinderarmut gibt, von der Landesregierung nicht ausreichend zur Kenntnis genommen.
Sonst wüsste die Landesregierung, dass arme Kinder öfter übergewichtig bzw. deutlich schlechter ernährt sind. Dies legten erst kürzlich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung und die Landesvereinigung für Gesundheit dar. Sie wüsste, dass jedes dritte Kind aus einer armen Familie wegen seiner schlechten Ernährung gesundheitliche Probleme hat, wie in der AWO-Kinderstudie festgestellt worden ist. Sie wüsste auch, dass legale und illegale Kinderarbeit deutlich zugenommen haben und dass es nur die Spitze des Eisberges ist, wenn sie feststellt: Es gab elf Verstöße gegen das Kinderarbeitszeitgesetz. Das ist also nur die Spitze des Eisbergs.
Gerade am vergangenen Wochenende hat der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, wieder auf dieses Problem hingewiesen und hinsichtlich der Bekämpfung der Kinderarbeit ein Vollzugsdefizit lateinamerikanischen Ausmaßes beklagt. Das sollten wir auch hier zur Kenntnis nehmen.
Die Landesregierung verweist auf eine Reihe von Jugendhilfe- und Sozialhilfeangeboten, die immer auch den in Armut lebenden Kindern und Jugendlichen helfen sollen. Offenbar gibt es nur sehr wenig gezielte Angebote, und wenn es sie gibt, dann nur sehr punktuell, wie man es im medizinischen Bereich auch sieht; und zentriert auf und um Hannover.
Das Programm zur Aktivierung von Selbsthilfe in sozialen Brennpunkten ist auf Initiative der Grünen damals in den Landeshaushalt aufgenommen worden. Es führt leider nach wie vor ein beklagenswertes Schattendasein und steht bei jeder Haushaltsberatung auf der Kippe. Es rettet uns immer die SPD-Fraktion, wenn das Kabinett den Rest auch noch streichen will.
Mit 550 000 DM kann man zur Aktivierung der Selbsthilfe und zum Aufbau von Gemeinwesenarbeit in sozialen Brennpunkten nur sehr wenig bewegen. Andere Bundesländer wie Hessen haben
hier seit über 30 Jahren unter Führung der SPD mit Millionenbeträgen zu enormen positiven Verbesserungen der Lebenssituation beigetragen. Das sollte sich Niedersachsen als Vorbild nehmen.
Die Tatsache, dass Niedersachsen im Gegensatz zu Hessen kaum über Vorerfahrungen zur Revitalisierung von Wohngebieten, die "soziale Brennpunkte" genannt werden, verfügt, führt leider auch dazu, dass das lobenswerte neue Bund-LänderProgramm "Soziale Stadt" vor Ort zum Teil in katastrophaler, den Intentionen des Bundes völlig zuwiderlaufender Weise umgesetzt wird. Ich belasse es dabei und will keine Beispiele anführen. Aber Sie können mich direkt danach fragen. Es geht hier nämlich nicht um die Wiederholung des klassischen Städtebauförderungs- und Sanierungsprogramms. Es geht um ein sozialpolitisch und arbeitsmarktpolitisch orientiertes ressortübergreifendes Programm zur Bekämpfung von Unterversorgung und Ausgrenzung.
Die Landesregierung verweist auch auf die Zuständigkeiten der Kommunen und der Wohlfahrtsverbände. Auch ich möchte loben, wie aktiv die in diesem Bereich sind. Wir sollten aber auch die Frage stellen: Was tut diese Landesregierung, um die Arbeit der Kommunen und auch der Wohlfahrtsverbände zu unterstützen?
Über die Verbesserung der finanziellen Situation der Familien will ich an dieser Stelle nicht viel sagen. Ich bin gespannt, wie dieser Baustein, den die Ministerin vorgestellt hat, weiterentwickelt wird. Unsere Bundestagsfraktion hat ein Konzept zur Kindergrundsicherung vorgelegt, welches die Kinder vor dem Abrutschen in die Sozialhilfeabhängigkeit bewahren soll. Ich hoffe, dass die SPD das mit unterstützt.
Das Land muss die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen verbessern, damit wir ihnen eine optimale Entwicklung ermöglichen. Dafür muss aber erst einmal die Lebenssituation dieser Kinder ganzheitlich in den Blick genommen werden. Wir brauchen dringendst lebenslagenorientierte Untersuchungen über die Situation von in Armut lebenden Kindern. Wir müssen auch über Ressortgrenzen hinweg integrierte Konzepte auf den Weg bringen.
Leider ist meine Redezeit abgelaufen. Das ist so bei einer kleinen Fraktion: Wir stellen eine Große Anfrage und haben dann insgesamt nur zehn Minuten Zeit in der Besprechung. Ich hoffe aber, dass wir im Ausschuss noch Zeit haben werden, weiterzuarbeiten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass diese Große Anfrage gestellt worden ist, weil es Gelegenheit gibt, zum einen das Thema zu diskutieren und zum anderen deutlich zu machen, dass die Politik in diesem Bereich in den letzten Jahren nicht untätig war und auch in Zukunft deutliche Anstrengungen gemacht werden, um die Armut bei Kindern und Jugendlichen zu bekämpfen.
Ich möchte noch einmal die für mich wesentlichen vier Bereiche herausstellen, die die Kinder- und Jugendarmut deutlich machen.
Erstens müssen wir feststellen, dass in vielen Bereichen die existentiellen Grundbedürfnisse wie Essen, Kleidung, Wohnung nicht gesichert sind.
Zweitens stellen wir fest, dass es bei der Gesundheit ernst zu nehmende Defizite gibt und dass die psychische und physische Situation in vielen Fällen schlicht alarmierend ist.
Drittens. Auch im Schulalltag sind erhebliche Benachteiligungen und Entwicklungsverzögerungen festzustellen.
Viertens. Kinder, Jugendliche und Familien, die von Armut betroffen sind, erfahren oftmals Ausgrenzung in der Gesellschaft. Wichtige kulturelle, sportliche und soziale Ereignisse gehen an ihnen vorbei. Sie werden schlichtweg ausgeschlossen.
Meine Damen und Herren, Aufgabe der Politik - aber nicht nur der Politik - ist es, die Ursachen und die Folgen von Armut zu bekämpfen. Ich meine, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Alle sind gefordert. Mit "alle " meine ich natürlich die Eltern, Nachbarn, Freunde, die Wohn
gemeinde, die Schul- und Bildungspolitik, selbstverständlich auch die Jugendhilfe, die Sozialpolitik und die Gesundheitspolitik genauso wie die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, aber auch die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Vereine und die Verbände.
Meine Damen und Herren, manchmal glauben einige, dies sei eine Sache nur der Jugendhilfe oder nur der Sozialpolitik. Alle Bereiche würden sich überheben, würden sie sich dieses Problems allein annehmen. Nein, es geht in der Tat darum, das gemeinsam zu machen, jeder an seinem Platz, jeder in seiner Institution. Wir müssen allerdings die verschiedenen Aktivitäten ordentlich vernetzen.
Ich meine, das, was mit der Landesarmutskonferenz angeschoben wurde und was dort an Vorschlägen kommt, ist eine gute Sache, genauso wie die Aktivitäten der Wohlfahrtsverbände, der Arbeiterwohlfahrt und der Kirchen.
Meine Damen und Herren, die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik spielt vielleicht nicht auf den ersten Blick, aber auf den zweiten Blick eine sehr wichtige Rolle in Bezug auf die Bekämpfung von Armut. Der Bund hat sich seit 1998 massiv in die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik eingeschaltet. Wir stellen fest: Es gibt eine stetige Senkung der Arbeitslosenzahlen und damit auch eine stetige Senkung der Zahl der Sozialhilfeempfänger. Das ist, meine ich, eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt, meine Damen und Herren, zu vermeiden, dass die Menschen überhaupt in die Sozialhilfe geraten.
Deswegen müssen wir heute auch noch einmal deutlich machen: Was Rot-Grün - ich sage ganz bewusst: Rot-Grün - seit 1998 in Berlin auf den Weg gebracht haben, ist schon brillant:
das Kindergeld zwei Mal erhöht, das Wohngeld erhöht, das Erziehungsgeld erhöht, BAföG erhöht, die Jugendarbeitslosigkeit jedes Jahr mit 2 Milliarden DM bekämpft, die Steuerreform mit erheblichen Vorteilen für Familien auf den Weg gebracht.
Meine Damen und Herren, Frau Bergmann hat ein Bündel von Maßnahmen angekündigt, um die Situation der Familien zu verbessern. Letztendlich trägt das auch ganz erheblich dazu bei, dass die Armut bekämpft wird.
Verehrte Frau Vockert, auch wir hier in Niedersachsen tun eine Menge, um in diesem Bereich etwas Positives zu schaffen. Eine aktive und vorausschauende Wirtschaftspolitik sichert Arbeitsplätze und schafft neue Arbeitsplätze.
Das Sozialministerium, meine Damen und Herren, steuert zahlreiche Arbeitsmarktprogramme. In Niedersachsen werden für Arbeitsmarktprogramme im Jahr immerhin über 200 Millionen DM zur Verfügung gestellt, um jugendliche Arbeitslose, Langzeitarbeitslose, arbeitslose Frauen und viele andere in ihrer Existenzlage zu unterstützen,
und zwar - ich will das hier überhaupt nicht weglassen - mit Hilfe der EU. Aber 200 Millionen DM sind ja kein Pappenstiel.
Ich füge hinzu, meine Damen und Herren: Von 1990 bis 1998 - begonnen mit Rot-Grün, danach haben wir Sozialdemokraten das allein weitergeführt - sind in Niedersachsen 85 000 neue Kindertagesstättenplätze geschaffen worden.
(Schirmbeck [CDU]: Von den Land- kreisen bezahlt! - Möllring [CDU]: Die haben die Kommunen bezahlt!)
- Dafür hat das Land Niedersachsen in dieser Zeit weit über 240 Millionen DM zur Verfügung gestellt.
(Schirmbeck [CDU]: Wie bei Fiel- mann! Und 500 Millionen DM im kommunalen Finanzausgleich gestri- chen! Das ist die Wahrheit!)
- Herr Kollege Schirmbeck, noch heute werden im Finanzausgleich 240 Millionen DM an die Kommunen verteilt, um die laufenden Kosten der Kindertagesstätten mit abzudecken.
Von Rot-Grün wurde der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in Niedersachsen erreicht, meine Damen und Herren!