Hinzu kommt das Spektrum von Sonderschule bis zum Gymnasium. Schulkindergärten werden geschlossen, alle gehen in eine Grundschule, und über die veränderte Kindheit haben wir dabei überhaupt noch nicht gesprochen. Es wundert mich gar nicht, wenn Lehrkräfte dann sagen: Ich frage mich - ich zitiere aus einem Schreiben- , „wie man dann seinem pädagogischen Auftrag noch gerecht werden kann“. Verärgerung, Ratlosigkeit und Ohnmacht über solch ein politisches Konzept spürt man bei sehr vielen Lehrerinnen und Lehrern ganz deutlich. Hier ist Bildungsabbau am Werke. Grundschulen, die bisher im Rahmen eines Kooperationsvertrages mit den Sonderschulen einige wenige Stunden, in denen die Sonderschullehrerinnen gerade im Grenzbereich zwischen Sonderschule und Grundschule eingesetzt waren, Unterricht angeboten haben, sind systematisch in Vorbereitung des regionalen Integrationskonzeptes unter Druck gesetzt worden nach dem Strickmuster: Wer nicht mitmacht, verliert die Grundversorgung, muss etwas abgeben. Es gibt Schulen in Brennpunkten, die bis zu 20 Stunden abgeben mussten, ohne auch nur irgendeinen Ersatz dafür zu bekommen. Von daher wundert es nicht, wenn die Lehrkräfte betroffen sind und sagen: Die Leidtragenden sind unsere Kinder. Der Bildungsabbau schreitet voran. - So macht die Landesregierung aus den Grundschulen und Sonderschulen verlassene Schulen und aus den Förderbedürftigen Almosenempfänger. Betroffene Familien werden dem Schicksal überlassen, und die Zukunftsperspektiven dieser Kinder werden mit Füßen getreten. Der Fachverband für Behindertenpädagogik sieht in der Umsetzung der Rahmenplanung zu „Lernen unter einem Dach“ die Gefahr, dass hierdurch die über Jahre mühsam für die Betroffenen erreichten, noch immer unzureichenden Standards in der sonderpädagogischen Förderung weiter reduziert werden. Aber gerade integrative Modelle darf es nicht zum Nulltarif geben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bildungspolitik der Landesregierung - das haben wir heute Morgen deutlich spüren können - ist davon geprägt, dass jede Woche eine neue Idee serviert,
keine einzige Idee mehr zu Ende gedacht und die Oberflächlichkeit zum Standard wird sowie die Schlagzeile in der Presse das einzig verbleibende Ziel ist.
Dabei will der Finanzminister etwas anderes als die Kultusministerin. Der Ministerpräsident will etwas anderes als die Landtagsfraktion der SPD. Man versucht, ständig neue Konzepte zu servieren, um von der schwierigen Lage in Niedersachsen abzulenken. Aber gerade an der Sonderpädagogik zeigt sich, wie unsozial, wenig zukunftsorientiert und unmenschlich die Politik der Landesregierung ist.
Wie wird mit den Schwächsten der Schwachen umgegangen? Interessant ist für mich, dass Sie das in der Antwort auf die Große Anfrage selber dokumentiert haben. Man kann das an vielen Stellen nachlesen. Deshalb kann ich Sie nur auffordern, mit dieser sonderpädagogischen Fehlkonstruktion aufzuhören. Lassen Sie uns gemeinsam mit den Betroffenen an einem Tisch sitzen und alle Anstrengungen unternehmen, um ein zukunftsweisendes, von einem breiten Konsens getragenes Konzept zu erarbeiten und zu installieren.
- Schade, dass Sie lachen. Ich finde es überhaupt nicht zum Lachen, wie sich die Situation zurzeit in den Sonderschulen darstellt, Frau Ministerin.
Dabei kann es nur ein Gebot geben, nämlich eine optimale sonderpädagogische Förderung, die auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes einzelnen betroffenen Kindes zugeschnitten ist.
Verschanzen Sie sich nicht hinter der Formel: Kein Geld. - Wenn Politik wirklich etwas für sozial Schwache tun will, dann war bisher auch immer Geld dafür da.
Frau Litfin, ich werde mich jetzt mit Ihnen nicht auf eine Geschäftsordnungsdebatte einlassen. Möchten Sie jetzt das Wort ergreifen?
(Frau Litfin [GRÜNE]: Entschuldi- gung. Wenn Sie es möchten, dann er- greife ich jetzt das Wort! - Fischer [CDU]: Die Landesregierung muss doch erst antworten! - Wulff (Osna- brück) [CDU]: Das ist nicht mehr verfassungsgemäß!)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind die Hilfsbedürftigsten oder - so formulieren es die Engländer über die verhaltensschwierigen Kinder - die Verletzlichsten unserer Gesellschaft. Deshalb ist es - Frau Kollegin Mundlos hat völlig Recht - ein großer Skandal, dass die Landesregierung ausgerechnet für diese Kinder die schlechteste Unterrichtsversorgung bereithält. Es ist, Frau Kollegin Mundlos, verdienstvoll von Ihnen, dass Sie mit Ihrer Großen Anfrage hierauf erneut hinweisen.
Am 8. Februar 2001 lag die Unterrichtsversorgung der Sonderschulen bei nur noch 93,8 %. So schlecht ist sonst nur noch die Hauptschule versorgt. Daran erkennt man, welche Prioritäten in dieser sozialdemokratischen Landesregierung gesetzt werden. Dass die Sonderschulen beim Grad der Unterrichtsversorgung schon immer unter dem Durchschnitt lagen - dies ist der Antwort auf die Große Anfrage zu entnehmen -, ist für mich überhaupt keine Entschuldigung dafür, auch weiterhin die Sonderschulen als rote Laterne, als Schlusslicht im Schulbereich zu behandeln, zumal noch 1988 auch an den Sonderschulen die Unterrichtsversorgung bei mehr als 100 % lag. Seit drei Einstel
lungsrunden, meine Damen und Herren, finden wir nicht mehr genug Sonderschullehrer und lehrerinnen, um die frei gewordenen Stellen wieder zu besetzen. Es ist skandalös, dass es trotz dieses Engpasses in Niedersachsen immer noch einen Numerus clausus für das Sonderpädagogikstudium gibt.
Wenn sich die Landesregierung in der Beantwortung der Großen Anfrage darauf hinausredet, dass der Einstellungsbedarf gedeckt werden soll, indem man aus anderen Bundesländern Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen anwirbt, dann kann ich nur lachen. Wir alle erinnern uns doch daran, dass die Landesregierung heute Morgen erzählt hat, dass es in allen anderen Bundesländern auch einen eklatanten Lehrermangel gebe und dass dort die fach- bzw. schulspezifischen Mängel die gleichen seien wie in Niedersachsen.
Es ist also wirklich eine sehr schlecht erfundene Ausrede, die uns hier serviert wird, um von eigenem Fehlverhalten abzulenken.
Die CDU-Position zum Förderkonzept - Frau Mundlos, das kann ich Ihnen nicht ersparen - bleibt merkwürdig unentschieden. Einerseits ist es wirklich schön, beobachten zu können, dass Sie nicht mehr prinzipiell gegen integrierende Konzepte sind - vielleicht haben ja unsere gemeinsamen Reisen dazu beigetragen -, andererseits erscheinen mir alle Ihre Fragen zum Integrationskonzept eher von dem Gedanken getragen zu sein, die Bedrohung vom Bestand der Sonderschulen abzulenken. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn Sie sich einmal eindeutig, dezidiert auch zur Zukunft der Sonderschulen in Niedersachsen äußerten, damit wir klarer sehen.
Aus meiner Sicht muss es beim Förderkonzept zuerst und vor allem um die Frage gehen, was für die Kinder am besten ist. Hierbei kann es nicht um den Bestandsschutz für irgendwelche Schulen gehen.
Sie wissen, dass ich das Konzept der Landesregierung "Sonderpädagogische Grundversorgung" vom Ansatz her mittrage, aber es ist immer noch viel zu
schlecht ausgestattet. Zwei SonderpädagogikWochenstunden pro Klasse reichen zumindest in sozialen Brennpunkten bei weitem nicht aus, und für die Arbeit mit verhaltensschwierigen Kindern muss zusätzlich der Einsatz von Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen möglich sein. Außerdem setzen wir uns nach wie vor dafür ein, dass die Klassengröße auf 23 bis 25 Kinder gesenkt wird, weil man wirklich nur dann, wenn man nicht vor 28 oder 29 Kindern stehen und diese unterrichten muss, in der Lage ist, integrierend zu arbeiten.
Auch die Beratungsangebote sind unzureichend, und der Verzicht auf wissenschaftliche Begleitung, weil es sich bei der sonderpädagogischen Grundversorgung erst einmal um eine Erprobungsphase handelt, ist nicht zu verantworten; denn andere Schulen, andere Regionen sollen doch die Gelegenheit haben, aus den Erfahrungen, die gemacht werden, zu lernen. Deshalb finde ich es unverzichtbar hier eine wissenschaftliche Begleitung einzuführen, wenn tatsächlich gewollt ist, dass dieses Modell irgendwann flächendeckend in Niedersachsen eingeführt wird. Dafür allerdings sind die Hürden noch zu hoch. Ich meine, in Zukunft darf es nicht mehr so sein wie jetzt in Hannover-Linden, dass alle Grundschulen trotz der mehr als mangelhaften Zusatzstunden, die sie bekommen werden, zwar integrativ arbeiten wollen, dass aber die betroffene Sonderschule die Gelegenheit hat, mit einer Mehrheit ihrer Gesamtkonferenz da ein Veto einzulegen.
Wir fordern die Landesregierung auf, endlich für eine ausreichende Unterrichtsversorgung insbesondere bei der sonderpädagogischen Förderung zu sorgen. Dass die Landesregierung so etwas kann, wenn sie den politischen Willen dazu hat, belegt das Beispiel der Verlässlichen Grundschulen. Die mussten unbedingt sein, wurden mit großer Kraft durchgepeitscht, und sie haben eine Unterrichtsversorgung von 103,3 %. Wenn die Landesregierung das gleiche Engagement bei behinderten Kindern zeigte, dann wäre sie heute zu loben. So ist sie allerdings zu tadeln.
(Fischer [CDU]: Die hätte davor schon reden müssen! - Wulff (Osna- brück) [CDU]: Die wollen wir jetzt nicht mehr hören! Nach der Geschäftsordnung ist das abgelaufen! Die Landesregierung war schon dran! - Weitere Zurufe von der CDU)
(Wulff (Osnabrück) [CDU]: § 45 der Geschäftsordnung, Frau Vizepräsidentin! - Sonst müssen wir eine Ältestenratssitzung machen!)
(Wulff (Osnabrück) [CDU]: Aber doch gegen die Geschäftsordnung! Wofür haben wir eine Geschäftsordnung?!)
- Herr Kollege Wulff, ich bitte Sie zu akzeptieren, dass Frau Ministerin Jürgens-Pieper jetzt zu der Anfrage Ihrer Fraktion Stellung nimmt. - Bitte schön!
Ich möchte mich ja auch bei der CDU-Fraktion und bei Ihnen, Frau Präsidentin, ausdrücklich dafür entschuldigen, dass ich mich eben nicht sofort eingeschaltet habe.
- Ich weiß, aber ich wollte das hier deutlich sagen, weil das Irritationen hervorgerufen hat. Es ist schon richtig, dass eigentlich die Landesregierung erst antwortet.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Jahren ist der Konsens darüber gewachsen - wir haben das auch in der vorsichtigen Rede von Frau Mundlos wahrnehmen können -, dass es weniger auf den Förderort, sondern mehr auf den Förderbedarf des Kindes ankommt. Das ist inzwischen wohl einhellige Meinung. Dieser gesellschaftliche Konsens hat auch Niederschlag gefunden im Schulgesetz, in Artikel 3 Abs. 3
Satz 2 des Grundgesetzes und in der vielfältigen Rechtsprechung, die es zu dieser Materie gibt. Auch der Wille des Gesetzgebers auf Bundes- und Landesebene zeigt dies. Insofern, Frau Mundlos, sollten wir an dieser Stelle keine Schulformdebatte beginnen, sondern sollten uns wirklich über den Förderbedarf streiten, worüber man sich an mancher Stelle wirklich streiten kann. Alles andere, d. h. wenn wir jetzt wieder eine Schulformdebatte beginnen würden, wäre wirklich nicht taufrisch.