Protokoll der Sitzung vom 14.11.2001

Lassen Sie mich - weil jetzt bei Ihnen allen auch die Polizei immer wieder eine große Rolle spielt jetzt auch noch ein paar Worte zur Polizei sagen. Ich bin, ehrlich gesagt, über den Verlauf des Polizeieinsatzes erleichtert gewesen. Ich hatte große Befürchtungen, dass es wegen der von der Polizei so oft angesprochenen Überlastung und Überforderung der Beamtinnen und Beamten in dieser Situation zu einer Eskalation kommen wird. Ich muss Ihnen sagen: Insbesondere Einsätze von Hannoveraner bzw. niedersächsischer Polizei, die ich direkt erlebt habe, sind - obwohl die Zustände sehr schwierig waren und den Beamten die Konflikte mit den Bürgern sehr präsent sind - sehr oft besonnen verlaufen. Eine Ausnahme bildeten die meiner Meinung nach völlig überzogeneN Hunde- und Pferdeeinsätze, über die wir sicherlich noch reden werden. Insgesamt glaube ich aber, dass der Einsatz, der für die Beamten insgesamt wie eh und je eine Zumutung war, tatsächlich besonnen verlaufen ist. Das heißt aus meiner Sicht aber nicht, dass es weiterhin zu verantworten sein wird, für sechs Atommüllbehälter, die von Frankreich nach Deutschland transportiert werden sollen, 15 000 bis 20 000 Polizisten einzusetzen. Meiner Meinung nach ist das eine Unverhältnismäßigkeit der Mittel, die endlich beendet werden muss.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Herr Kollege Wojahn möchte noch einmal sprechen.

Herr Präsident! Meine sehr geehrteN Damen und Herren! Das, was Frau Harms gesagt hat, bringt mich auf eine Idee, die ich hier schon immer einmal kundtun wollte. Wir von der CDU und ich persönlich wollen uns nicht weiter gefallen lassen, dass die damalige Entscheidung für den Salzstock Gorleben als rein politische Entscheidung herabgewürdigt wird. Denn das ist nicht wahr. Ich fordere den Innenminister bzw. den Ministerpräsidenten auf - den Ministerpräsidenten habe ich schon einmal persönlich darum gebeten -, in den Akten nachzugucken. Wir würden es gern einmal nachlesen wollen. Die sind bestimmt da. Ich würde gern einmal hineingucken. Solange uns das nicht ermöglicht wird, Herr Minister Jüttner, so lange sage ich: Wenn wir alle zusammen Konfliktmanagement betreiben wollen, können wir solche Vorwürfe nicht stehen lassen. - Dann werde ich immer sagen: Die Landesregierung sagt die Unwahrheit. Ich weiß auf Grund meines damaligen Mitwirkens, dass dies wohl begründet war. Natürlich ist es nachher immer eine politische Entscheidung. Das ist völlig klar. Dazu sind Regierungen und Parlamente doch da. Wir möchten gern einmal in die alten Akten hineingucken. Ich möchte mich davon überzeugen. Ich lasse mir nicht den Vorwurf gefallen, wir seien mit der damaligen Entscheidung leichtsinnig umgegangen. Deshalb möchte ich einmal in die Akten hineingucken.

(Beifall bei der CDU)

Jetzt hat der Herr Ministerpräsident ums Wort gebeten.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen natürlich nicht, dass eine solche Bitte hier unbeantwortet stehen bleibt. Selbstverständlich können Sie, Herr Wojahn, und alle anderen auch dies machen. Das ist kein Problem.

Angesichts des aufgeregten Debattenbeitrags von Frau Harms möchte ich jetzt einmal eine Frage an Frau Harms richten: Warum erklären die Grünen hier nicht einmal, dass man in Deutschland auf der

Grundlage von Recht und Gesetz zwar demonstrieren kann, ohne dabei Polizeieinsätze zu provozieren, dass man sich dabei aber schlicht und ergreifend an das zu halten hat, was bei allen anderen friedlichen Demonstrationen in der Republik üblich ist, nämlich seine Meinung zu sagen und sich dabei trotzdem an Recht und Gesetz zu halten? Warum geht das nicht?

(Beifall bei der SPD)

Frau Harms hat sich angesprochen gefühlt. Bitte!

Ich habe den Kolleginnen und Kollegen in der Vergangenheit schon mehrfach angeboten - dieses Angebot gilt selbstverständlich auch für den Abgeordneten Gabriel -, mich während eines solchen Gorleben-Einsatzes einmal zu begleiten. Vielleicht kommen Sie dann zu einer anderen Einschätzung der Abläufe.

Erstes Beispiel: Der ehemalige Landarzt Dr. Mackrodt möchte in Govelin auf seinem Privatgrundstück ein Camp für Atomkraftgegner ermöglichen. Er beginnt nach Recht und Gesetz mit dem Anmeldeverfahren für dieses Camp bei der Bezirksregierung Lüneburg im September dieses Jahres. Bis zur Nacht vor Einrichtung des Camps wird ihm von Mitarbeitern der Bezirksregierung Mut gemacht mit dem Hinweis darauf, dass er alles richtig gemacht habe und die Genehmigung für den nächsten Tag zu erwarten sei. Stattdessen aber kommt in den Abendstunden vor Einrichtung des Camps ein Verbot. Am nächsten Tag sieht sich Herr Mackrodt, der gegen dieses Verbot noch Rechtsmittel einlegen wollte, in der Nähe seines Grundstückes aber mit einer Übermacht an Polizei konfrontiert. Herr Mackrodt wollte sich an Recht und Gesetz halten, hat alles richtig gemacht. Am Ende hatte er keine Chance mehr, ein Camp durchzuführen.

Zweites Beispiel: Die Bürgerinitiative meldet eine Kundgebung in der Nähe der Transportstrecke an. Es ist geltendes Recht, in der Nähe einer Anlage, gegen die sich der Protest richtet, eine Demonstration durchzuführen. Aber auch diese Kundgebung wird erst so spät verboten, dass es für eine Organisation wie die Bürgerinitiative kaum noch möglich ist, einen Ersatzort bekannt zu geben oder die technischen Möglichkeiten zu organisieren.

Genau das sind Fälle, die im Hinblick darauf zu überprüfen sein werden, ob diejenigen, die den Versuch machen, sich an Recht und Gesetz zu halten, dann auch nach Recht und Gesetz behandelt werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zum Tagesordnungspunkt 2 b liegen mir nicht vor.

Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, darf ich unsere neuen Abgeordneten begrüßen. Es sind Frau Ursula Groskurt, Frau Gerda Krämer, Frau Ulrike Schröder, Herr Dr. Dietrich Stratmann und Herr Gerd Will. Ich begrüße Sie herzlich in unseren Reihen. Zwei von Ihnen haben wir hier schon einmal vom Gesicht her gesehen. Vielleicht erheben Sie sich einmal, damit alle sehen, wo Sie sind.

(Beifall)

Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihre Arbeit zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger gut verrichten können und sich vor allem unter uns weiterhin wohlfühlen.

Im Übrigen darf ich nachtragen, dass meine anerkennenden Worte für die Kandidatinnen und Kandidaten, die bei den Kommunalwahlen nicht gewonnen haben, auch für den Kollegen Althusmann gelten, den ich vorhin vergessen hatte.

Ich rufe jetzt auf die Tagesordnungspunkte 2 a und 2 c sowie 15 und 16:

a) Bildungspolitik à la CDU: 'Erst die Partei, dann die Kinder!' - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 14/2858

c) Kopflos in Hannover - Landesregierung ohne Orientierung in der Schulpolitik - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 14/2873

Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung: Kein 'Zwei-Säulen-Modell' im niedersächsischen Schulsystem nach dem Vorschlag des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 14/2835

Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung: Abitur nach zwölf Schuljahren mit einem achtjährigen Gymnasium landesweit zum nächsten Schuljahresbeginn einführen Einheit des Gymnasiums und Freiheit des Elternwillens sicherstellen Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 14/2836

Wir sind bei der Einbringung. Den Antrag der Fraktion der SPD zur Aktuellen Stunde bringt Frau Kollegin Seeler ein.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Untersuchungsergebnisse des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung waren wohl für Kritiker und Befürworter der Orientierungsstufe gleichermaßen erstaunlich.

(Zurufe von der CDU)

Das Gutachten hat nämlich ergeben, dass die Orientierungsstufe besser ist, als die Kritiker glaubten.

(Busemann [CDU]) : Was? Mit mehr als 70 % Akzeptanz bei Eltern, Schülern und Lehrkräften ist die OS viel beliebter als von der CDU angenommen. Vernichtend ist andererseits das Urteil über das Schulstrukturmodell der CDU. (Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Das angeblich begabungsgerechte dreigliedrige Schulsystem ab Klasse 4 mit Freigabe des Elternwillens wird von vier Fünfteln der so genannten Abnehmer, also von Vertretern der weiterführenden Schulen, der Wirtschaft und der Wissenschaft, abgelehnt. Begründung - dazu zitiere ich aus dem Gutachten -:

„Die Mehrheit lehnt das Modell ab, weil es zur Auflösung der Hauptschule, die nicht mehr angewählt werde, führe und einen ständigen Wechsel ab Schuljahrgang 5 mit Folgeproblemen und Belastungen für gescheiterte Schüler nach sich ziehe. Überdies zweifeln sie die Prognosesicherheit an.“

Ja, Herr Busemann, da wäre es wohl besser gewesen, erst das Gutachten zu lesen, bevor Sie eine halbe Stunde nachdem das Gutachten übergeben wurde, ihr altes Strukturmodell wieder als das Strukturmodell der CDU in einer Pressemitteilung verkaufen. Ihr Modell will nämlich außer ein paar unverbesserlicher Gymnasial- oder Realschullehrkräften kaum jemand.

Andererseits sind die Ergebnisse der Orientierungsstufe auch schlechter, als die Befürworter behaupteten. Die Erwartungen, die an die OS gestellt wurden, kann sie nicht oder nur sehr bedingt erfüllen. So selektiert die Orientierungsstufe überall dort, wo sie in der sechsten Klasse in drei Niveaustufen differenziert, nämlich in A-, B- und C-Kurse, genauso wie das dreigliedrige Schulsystem. Das heißt, da ist nicht die Leistungsfähigkeit der Kinder entscheidend, sondern der Sozial- und Bildungsstatus der Eltern.

(Zurufe von der CDU)

Dies darf selbstverständlich so nicht bleiben, wollen wir wirklich die Bildungsreserven ausschöpfen und jedes Kind nach seinen Fähigkeiten fördern. Das ist nämlich der Grundsatz unserer sozialdemokratischen Bildungspolitik. Wir wollen die gleichen Chancen für jedes Kind.

Meine Damen und Herren, auch die Prognosesicherheit - bisher eines der Hauptargumente für die Beibehaltung der OS - wird durch die Untersuchungsergebnisse stark relativiert. So bestätigen sich zwar die Schullaufbahnempfehlungen der OS, vor allem aber deshalb, weil die Lehrkräfte im

Zweifelsfall immer die niedrigere Schulform empfehlen. Und obwohl der Elternwille die Schülerzahlen an Gymnasien und Realschulen in immer höhere Prozentzahlen nach oben korrigiert, wird trotzdem noch fast ein Drittel aller Realschulabschlüsse an den Hauptschulen erlangt, und 38 % der Realschülerinnen und Realschüler verlassen die Realschule mit einem erweiterten Sek I-Abschluss; sie könnten also auf die gymnasiale Oberstufe gehen.

Diese Ergebnisse müssen alle verantwortungsbewussten Politikerinnen und Politiker nachdenklich stimmen. Warum sind die Lehrkräfte so vorsichtig in ihren Empfehlungen? Trauen sie unseren Kinder nichts zu? Wird die Leistungsfähigkeit so vieler Jugendlicher erst später entwickelt? Haben die Lehrkräfte tatsächlich nur den Erhalt der jeweils angebundenen Schulen im Kopf, wie die Untersuchung behauptet? - Fragen, auf die wir Antworten gefunden haben, die nicht durch ideologische Scheuklappen eingeengt sind, wie z. B. der Vorschlag der CDU. Schließlich geht es hier um Veränderungen, die die Zukunftsfähigkeit des Schulsystems verbessern und die Qualität der Bildung unserer Kinder erhöhen sollen.

Meine Damen und Herren von den Grünen, es hilft uns in der Diskussion auch nicht weiter, wenn Sie ihre Wunschvorstellung von der sechsjährigen Grundschule wieder herausholen, obwohl das Gutachten sehr deutlich sagt, dass dieser Vorschlag pädagogisch dem Fachunterricht ab Klasse 5 nicht angemessen ist und vor allem aber überhaupt nicht zu unseren ländlichen Strukturen in Niedersachsen passt.

Angesichts der wirklich weitreichenden Folgen der jetzigen schulpolitischen Entscheidung lässt uns vor allem aber das polemische Gerede der CDU von einem angeblichen Zickzack- oder Schlingerkurs in der Bildungspolitik nun wirklich völlig kalt.

(Zurufe von der CDU)

Ja, wir haben uns Zeit genommen, das Gutachten auszuwerten und dann die Konsequenzen zu ziehen.

(Beifall bei der SPD)

Gestern haben wir unsere Eckpunkte für die Veränderung des Schulsystems beschlossen. Ich will sie hier ganz kurz darstellen.

Erstens. Die qualitative Verbesserung von Schule und Unterricht steht im Vordergrund. So zeigt das Gutachten, dass die Förderung sowohl der leistungsstarken als auch der leistungsschwächeren Kinder viel stärker in den Mittelpunkt der pädagogischen Überlegungen rücken muss.

(Möllring [CDU]: Das muss man doch nicht erst beschließen!)

Deshalb werden wir, wie in der Bildungsoffensive beschlossen, bis zum Jahre 2004 die Mittel für die Förderung in Klasse 5 und 6 erheblich erhöhen, und zwar bis zu 30 Millionen jährlich.

(Beifall bei der SPD)

Außerdem muss jede Schule ein Förderkonzept erarbeiten und für jedes Kind einen eigenen individuellen Förderplan erstellen. Diese inhaltliche Veränderung schlägt sich dann auch im Namen und in der Strukturveränderung nieder: Die Orientierungsstufe wird abgeschafft. Die Klassen 5 und 6 werden in ihrer wichtigsten pädagogischen Funktion entsprechend zu Förderstufen, die vorzugsweise an Gymnasien, an kooperierenden Haupt- und Realschulen sowie an Gesamtschulen angebunden sind.