Protokoll der Sitzung vom 24.01.2002

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen: Einer wirksamen Kriminalitätsbekämpfung erteilen wir ein eindeutiges Ja. Zu Populismus aber sagen wir: Nein danke. - Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Schröder, bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt keinen Vorschlag der Schill-Partei zur Kriminalitätsbekämpfung, der in den letzten Jahren nicht auch schon von der CDU in Niedersachsen erhoben worden ist. - Meine Damen und Herren, ich habe an dieser Stelle auf Ihren Beifall gehofft; denn das war ein Originalzitat Ihres Fraktionsvorsitzenden Christian Wulff anlässlich der Gründung des Landesverbandes Niedersachsen der SchillPartei am 10. Januar dieses Jahres. Der Ablauf des heutigen Tages gibt uns ja einen gewissen Vorgeschmack auf das, was uns in den kommenden Wochen und Monaten noch erwartet. Heute Vormittag die Übertragung der Hamburger Brechmitteldebatte auf niedersächsische Verhältnisse, und am heutigen späten Nachmittag ein Antrag zum Totalumbau des Jugendgerichtsverfahrens, der ziemlich genau 1 : 1 dem Programm der Schill-Partei entspricht. Der einzige Unterschied besteht vielleicht darin, dass die Formulierung vom „Kartell der strafunwilligen Jugendrichter“ fehlt. Diese Formulierung kann man in der zweiten Beratung aber noch einfügen.

Vielleicht habe ich der CDU-Fraktion aber auch Unrecht getan, und vielleicht hat Christian Wulff Recht. Kann ja sein. Ich habe deshalb ein bisschen nachgeschlagen und in der Tat festgestellt, dass das, was ich auf den ersten Blick für original Schill gehalten habe, aber tatsächlich original CDU ist. Da hat das Bayerische Kabinett im Mai 1998 - also fast noch vorgestern - zur inneren Sicherheit Folgendes beschlossen - so jedenfalls nach der Deutschen Richterzeitung:

„Wiederum steht das Heranwachsendenrecht auf der Agenda, begleitet von der Forderung nach Anhebung der Höchststrafe gegen Jugendliche auf 15 Jahre,“

- ich glaube, darüber haben wir schon beim letzten Plenum gesprochen

„nach der Einführung des so genannten ‚Einstiegsarrestes‘, nach geschlossenen Heimen“

- ich glaube, das machen Sie wahrscheinlich nächstes Mal

„sowie nach einem selbstständigen Fahrverbot - - -„

Das ist im Antrag mit drin. Das heißt, dass das, was Sie uns hier als frischen aktuellen Antrag servieren, nichts weiter ist als ein vier Jahre alter aufgewärmter Stoiber. Über die Sache haben wir oft genug gesprochen. Wir werden es auch weiterhin tun.

Ich mache Ihnen jetzt noch einen letzten Vorschlag zur Güte. Lassen Sie uns doch bitte eine Anhörung mit Jugendrichtern, mit Jugendstrafanwälten, möglicherweise auch mit Kriminologen und Erziehungswissenschaftlern durchführen. Wenn sich dann herausstellen sollte, dass all das populistischer Quark ist, dann können Sie sagen: Jawohl, habe ich eingesehen, bin jetzt ruhig. - Sollte sich aber das Gegenteil herausstellen, werde ich Ihren Antrag sehr gern unterstützen. Ich glaube aber, dass diese Gefahr nur sehr, sehr gering ist. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, jetzt spricht Minister Pfeiffer zu diesem Antrag. Bitte schön, Herr Minister!

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Gerne möchte ich mich zu dieser These äußern, die die Grundlage des CDU-Antrages ist, dass es nämlich einen dramatischen Anstieg bei der Jugendkriminalität und auch bei der Jugendgewalt gegeben hat. Stimmt das denn überhaupt? Gilt das auch für die letzten Jahre? - Zunächst einmal: Es stimmt. Jedenfalls ist die Jugendkriminalität in dem Zeitraum 1990 bis 1998 bundesweit - also auch in Niedersachsen - deutlich angestiegen.

(Möllring [CDU]: Den haben Sie doch selbst ermittelt!)

- Richtig. - Dieser Anstieg ist aber nicht deshalb eingetreten, weil etwa das Jugendstrafrecht versagt hätte; denn das selbe Jugendstrafrecht galt auch schon in den 80er-Jahren. In den 80er-Jahren war aber eine völlige Stabilität zu verzeichnen. Nein, die Ursache ist eine ganz andere, und die Fachleute sind sich darüber völlig einig: Die seit 1990 offenen Grenzen nach Osten haben uns einen enormen Armutsimport beschert. Das ist das eine Problem. In dem Vortrag über die PISA-Studie werden wir gleich noch hören, dass wir es nicht sehr gut geschafft haben, diese jungen Menschen in unser

Schulsystem zu integrieren. Auch das ist ein Faktor. Ein weiterer Aspekt ist der, dass der Reichtum in Deutschland in den 90er-Jahren so geboomt ist wie noch nie. In der Folge ist die Schere zwischen Arm und Reich immer größer geworden. In Deutschland wie auch in den anderen europäischen Ländern hat sich immer mehr eine Winner-LoserKultur herausgebildet. Solch eine Kultur aber ist ein Nährboden für Jugendkriminalität.

Es kommen noch zwei weitere Probleme hinzu, die ich gar nicht leugnen will. Wir haben erstens nicht nur Armut importiert, sondern auch Machokulturen mit all den Problemen, die sich daraus für Männlichkeitskonzepte ergeben. Zweitens muss ich das Drogenproblem erwähnen, das uns heute schon einmal in einem anderen Zusammenhang beschäftigt hat. All diese Umstände sind ein günstiger Nährboden für Jugendkriminalität. Das ist aber freilich noch kein Anlass, am Jugendstrafrecht herumzubasteln.

Es gibt auch noch einen Sonderaspekt, auf den ich jetzt aufmerksam machen möchte. Es geht um ein Stück Mitverantwortung, das auch die CDU mitzutragen hat. Die Kohl-Regierung hat das Problem mit der von ihr betriebenen sehr problematischen Einwanderungspolitik für Aussiedler drastisch verschärft.

(Beifall bei der SPD)

Zwischen 1989 und 1991 sind mehr als 1 Million Aussiedler in die Bundesrepublik zugewandert. Die hat man noch gut integriert, weil man seinerzeit noch ausreichend Geld hatte. Im Jahr 1992 aber hat man den Geldhahn zugedreht und die Fördermittel drastisch gekürzt, obwohl jetzt Leute nach Deutschland kamen, die noch mehr Sprachunterricht benötigt hätten. Das Gegenteil geschah aber: Die Mittel sind gekürzt worden.

(Beifall bei der SPD)

Trotzdem hat man in den fünf Jahren, nachdem die Mittel drastisch gekürzt worden sind und alles auf die armen Kommunen verlagert worden ist, noch 1 Million weitere Menschen ins Land geholt.

(Möllring [CDU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

- Gerne, wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen.

Wenn, dann erteile ich dazu das Wort, Herr Minister. - Bitte schön!

Herr Minister Professor Pfeiffer, welche Fraktion hat denn gestern beschlossen, das CJD-Jugendheim zu schließen, weil es nicht mehr erforderlich ist, Leuten mit ausländischer Sprache Deutsch beizubringen?

Es wird nicht genügend nachgefragt, weil die Aussiedler selbst andere Lösungen finden. Es gibt nicht mehr genügend Klienten, die in dieses Jugendheim gehen wollen. Das ist der wahre Grund.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt komme ich aber zu dem Punkt: Es gab seit 1992 dramatische Signale des Arbeitsmarktes. Es gab Probleme bei der Integration der jungen Aussiedler. Es gab Hinweise darauf, dass es im Kriminalitätsbereich problematisch wird. Trotzdem hat die Union eine weitere Million Menschen ins Land geholt.

(Zurufe von der CDU)

Warum wohl? Warum hat sie erst in den Jahren 1996 und 1997 auf die Bremse getreten? In der Folge gingen die Zahlen dann plötzlich zurück. In den Jahren 1998 und 1999 hat sich diese Entwicklung fortgesetzt.

Ich möchte jetzt noch einmal auf die Probleme zu sprechen kommen. Wir reden mit der Presse gerade über das, was sich in Hameln abspielt. Warum haben wir dort Subkulturprobleme, wie es sie in den 80er-Jahren nie gegeben hat? - Weil 20 % der Insassen in Hameln junge Aussiedler sind. Ihr Anteil ist damit drei- bis viermal so hoch wie ihr Anteil an der jungen Wohnbevölkerung in Niedersachsen. Warum ist in Baden-Württemberg jeder sechste Drogentote ein Aussiedler? Ihr Anteil ist dreimal so hoch wie ihr Anteil an der Wohnbevölkerung. Warum sind diese Menschen zu einer besonderen Randgruppe geworden?

(Frau Pawelski [CDU]: Warum haben Sie in Niedersachsen nicht mehr ge- tan?)

- Weil die Bundesregierung Einwanderung unter einem problematischen Aspekt betrieben hat. Ich frage Sie: Hat eine ganz gewichtige Rolle nicht das Ergebnis von Umfragen gespielt, nach denen 70 % der Aussiedler die Kohl-Regierung wählen? Ist das nicht der Hauptgrund gewesen?

(Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der CDU)

Bei den Ausländern haben Sie gesagt: Das Boot ist voll. - In der Folge haben Sie das Asylrecht geändert. Mit Blick auf die Aussiedler war das Boot aber plötzlich nicht voll.

(Beifall bei der SPD - Zurufe von der CDU)

Von daher trägt die CDU ein Stück Mitverantwortung. Ich erinnere mich noch: Ich war auf Einladung der CDU-Fraktion als Sachverständiger selbst in Bonn und habe zu diesen Fragen Stellung genommen. Da sagt mir doch ein CDUAbgeordneter mit Blick auf Herrn Waffenschmidt, der mit mir gesprochen hat: Das ist unser bester Wahlhelfer. - Na gut.

Nun aber zurück zu den Zahlen, die eingangs behauptet worden sind. Abschließend möchte ich deutlich machen, dass es für die letzten drei Jahre einen ausgesprochenen Hoffnungsschimmer gibt. Plötzlich haben wir neue Erkenntnisse, die mich und vier andere Sachverständige bewogen haben, im periodischen Sicherheitsbericht zu sagen: Es gibt Hoffnung, dass wir uns auf einem guten Kurs befinden. - Warum? - Wir hatten sowohl für das Jahr 1998 als auch für das Jahr 2000 im Rahmen einer Dunkelfeldbefragung ermittelt, wie hoch die Jugendgewalt in den Städten ist. Im Rahmen dieser Ermittlung hat sich für das Jahr 2000 erstmalig seit langer Zeit wieder ein Rückgang der Jugendgewalt gezeigt. Warum wird das bei der Polizei nicht deutlich? - Auch das konnten wir erklären. Weil die Anzeigebereitschaft gestiegen ist. Die jungen Leute sind - was gut ist - heute häufiger als früher mit ihren Sachen zur Polizei gegangen. Dadurch erhöht sich die Sichtbarkeit von Kriminalität, notwendigerweise aber nicht das Ausmaß der Kriminalität.

Warum ist die Kriminalität zurückgegangen? Drei Faktoren kann ich dafür benennen, die höchst erfreulich sind: Erstens. In den Familien wird weniger geprügelt als früher. Zwischen 1998 und 2000 ist auch die innerfamiliäre Gewalt zurückgegangen. Zweitens. Die Lehrer schauen in den

Schulen mehr hin. Wir haben immer gefragt: Schauen die bei euch in den Schulen hin oder weg? Im Jahr 2000 gab es sehr viel mehr erfreuliche Antworten. Wir haben in den Schulen also in zunehmendem Maße eine Kultur des Hinschauens. Hinzu kommen die Konfliktlotsen, die sich um Jugendgewalt kümmern. Drittens hat sich die Ächtung von Gewalt erhöht. In der Gesellschaft wird deutlich darüber geredet: Wir wollen keine Gewalt. - Diesbezüglich hat sich etwas verändert.

Der Anteil der Jugendlichen, die darüber berichten, dass sie von ihren Eltern gelobt werden, wenn sie jemanden zusammen geschlagen haben, ist deutlich zurückgegangen. Auch der Anteil unter den Gleichaltrigen, die Gewalt prima finden, ist zurückgegangen. Das heißt: Diese drei Faktoren mehr Ächtung von Gewalt in der Gesellschaft, mehr Kultur des Hinschauens, eine leichte Besserung bezüglich der innerfamiliären Gewalt - sind Grund dafür, weshalb plötzlich auch die Jugendgewalt zurückgeht. Das zeigt, was wir machen müssen, nämlich effektive Prävention betreiben und nicht am Jugendstrafrecht herumbasteln, wie Sie es uns hier vorgetragen haben.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Herr Kollege Dr. Biester hat noch einmal ums Wort gebeten.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe etwas gegen einfache Antworten. Ich würde niemals sagen, an der Situation, die wir hier im Zusammenhang mit dem Jugendstrafrecht diskutieren, sind die Ausländer schuld.

(Beifall bei der CDU)

Aber ich würde auch niemals sagen, Herr Minister Pfeiffer - ich bedauere, dass Sie das in dieser Form zum Ausdruck gebracht haben -, daran sind die Aussiedler schuld.

(Beifall bei der CDU)

Ich widerspreche Ihrer Äußerung, dass die Zahl der Straftaten Jugendlicher zurückgegangen ist. Das steht auch im Widerspruch zu Äußerungen, die Sie - Anfang Januar in der Welt - selbst gemacht haben.