Protokoll der Sitzung vom 10.10.2006

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Jetzt hat Herr Albrecht zu einer Kurzintervention für anderthalb Minuten das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Korter, vielen Dank für den Hinweis, dass es eine Kurzintervention gibt. Auf diese Idee wäre ich zur Not auch noch selber gekommen. Aber es wäre einfacher gewesen, wenn Sie meine Frage gleich beantwortet hätten: Wissen Sie, dass sich nach der PISA-Studie die soziale Komponente - also die soziale Selektion in den verschiedenen Schulformen in Deutschland - an der Gesamtschule am schlechtesten darstellt? - Vor diesem Hintergrund halte ich dieses Schulsystem für das schlechteste, das wir in Deutschland haben.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Frau Korter!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Albrecht, diese Ausführungen müssen Sie erst einmal belegen. Das habe ich noch nie gesehen. Ich glaube, das gehört mit zu Ihrer Diffamierungskampagne. Gerade Gesamtschulen kümmern sich ganz besonders um die sozial Schwachen.

(Astrid Vockert [CDU]: Falsch!)

Gerade Gesamtschulen versuchen in besonderer Weise, sozial Schwache und Kinder aus bildungsfernen Schichten zu fördern.

(Zuruf von der CDU: Das funktioniert nicht!)

Das wissen Sie ganz genau. Deshalb wurden sie zum Teil in Brennpunkten eingerichtet. Andere Informationen müssten Sie erst einmal belegen.

(Bernd Althusmann [CDU]: Warum gelingt das denn in den anderen Bun- desländern besser?)

Was Sie sagen, passt zu dem, was Herr Klare immer sagt: Bei PISA hätten die Gesamtschulen schlecht abgeschnitten. - Auch das ist nicht belegt. Das sehen die Gesamtschulverbände völlig anders.

(Beifall bei den GRÜNEN - Wider- spruch von Astrid Vockert [CDU])

Nächster Redner ist Herr Busemann.

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Meinhold, angesichts des Gesetzentwurfes bin ich ein bisschen befremdet. Haben wir nicht 30 Jahre Strukturdebatte im Lande Niedersachsen hinter uns? So etwas Leidiges!

(Elke Müller [SPD]: Sie hätten nicht ein solches Schulgesetz machen müssen!)

Wie oft hat es abendliche Diskussionen, oft in gleicher Zusammensetzung, gegeben! Die Lehrerschaft hat uns mit Recht gebeten, mit den Systemdiskussionen aufzuhören und an den inhaltlichen Dingen zu arbeiten. Da gibt es genug Handlungsbedarf.

(Beifall bei der CDU)

Nach all den Debatten über das Schulgesetz aus dem Jahr 2003 dachte ich, jetzt würde Ruhe einkehren. Wir sind nun doch gemeinsam zu neuen Ufern unterwegs. Mit der Eigenverantwortlichen Schule entwickeln wir die Schulen von innen heraus neu. Ich dachte, diese Systemdebatten würden uns nicht länger lähmen. Das war wohl ein Irrtum.

Ich bin fast schon dankbar, dass wir ein Gesamtschulneuerrichtungsverbot im Gesetz haben. Denn wenn sich diese Debatten an jedem Standort fortsetzten, stünde es nicht gut um die Weiterentwicklung unseres Schulwesens. Das muss ich einmal ganz deutlich sagen.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

In der Einführung der Eigenverantwortlichen Schule liegt die Chance, für das Innenleben der Schule das Notwendige zu tun. Gibt es irgendein System, in dem es verboten ist, Sprachförderung zu betreiben? Gibt es irgendein System, in dem es verboten ist, Berufsorientierung zu machen? Gibt es ein System, in dem es verboten ist, das Abitur nach zwölf Jahren zu machen? Gibt es ein System, in dem es verboten ist, individuell zu fördern? Diese Forderung proklamieren Sie sehr stark. Das ist aber überall möglich. Ich muss das System nicht ändern, um das Richtige zu tun.

Ich sehe die Richtung, in die es bei Ihnen gehen soll. Irgendwo scheinen wieder Wahlen zu sein. Es entspricht einem altlinken Ansatz, wie Sie sich hier präsentieren. Herr Jüttner, zu einem guten 68er gehört offenbar, dass auf der Visitenkarte etwas von einer Gesamtschule, einer gemeinsamen Schule, einer Wohlfühlschule oder einer regionalen Schule steht. Was haben wir schon für Begriffe erlebt! Es ist mir fast egal. Aber wenn wir ausgemacht haben, was im Paket drin ist, möchte ich es auch als Einheitsschule bezeichnen dürfen. Sie können es uns nicht nehmen, das entsprechend zu würdigen und zu gewichten.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, es geht um die abgewiesenen Schülerinnen und Schüler, die zum Schuljahresbeginn an den Gesamtschulen keinen Platz finden konnten. Frau Korter, Sie haben recht, es hat hier wieder eine leichte Steigerung gegeben.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Guck an!)

Insgesamt sind jetzt 2 068 Schülerinnen und Schüler abgewiesen worden. Das ist für Sie ein Grund, eine Strukturdebatte zu beginnen, ein neues Gesetz zu fordern und das ganze System im Lande umzukrempeln, damit es in die richtige Ecke geht. Stellen Sie das doch einmal in Relation zu unserem gesamten Schulwesen! Wir haben 1,25 Millionen Schülerinnen und Schüler. Frau Korter, was ist das für ein Demokratieverständnis, wenn Sie wegen 2 068 das ganze System für alle verändern wollen?

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Was für ein „ganzes System“ denn? Stimmt doch überhaupt nicht!)

Das ist, glaube ich, doch ein bisschen hoch gegriffen.

Wir haben im Lande, die freien Träger inklusive, etwa 3 300 Schulstandorte. Ganze 59 davon waren bzw. sind Schulen des sogenannten integrierten Schulwesens, also Gesamtschulen. Sie müssen sich darüber klar sein, was los ist. Wir haben uns vor drei Jahren für die Beibehaltung des gegliederten Systems entschieden,

(Elke Müller [SPD]: Sie, nicht wir!)

aber auch für seine Reform, u. a. deshalb, weil es das beste System für die Aufrechterhaltung einer wohnortnahen Beschulung im Lande ist, auch mit

neuen Standorten, auch mit neuen Außenstellen. Das ist unheimlich wichtig.

Da können Sie erzählen, was Sie wollen! Wenn Sie eine gemeinsame Schule nach Ihrer irgendwann zu definierenden Couleur machen, dann wird das zu einer Konzentration von Schulstandorten führen. Sonst könnten Sie ein solches System gar nicht fahren. Gaukeln Sie den Leuten nicht vor, Sie könnten bei Zwergschulen mit 60 Kindern eine gemeinsame Schule von der Hauptschule bis zum Abitur durchziehen! Das ist doch absolut neben jeder Realität. Das müssen Sie irgendwann bekennen.

(Beifall bei der CDU)

Sie wollen mich immer gerne mit dem Argument in die Ecke drängen: Der benachteiligt die Gesamtschulen, der gibt ihnen keine fairen Chancen, der lässt keinen Wettbewerb zu. - Ich will Ihnen etwas anderes erzählen. Wir haben damals in der Tat ein Neuerrichtungsverbot in das Gesetz geschrieben, weil wir keine Schulstrukturdebatten mehr haben wollten und Ruhe an den Standorten wollten. Ich habe den Gesamtschulen im Rahmen der örtlichen Bedingungen die notwendige und sinnvolle pädagogische und organisatorische Weiterentwicklung ermöglicht. So besuchen - hören Sie gut zu! heute rund 3 500 Schülerinnen und Schüler mehr als 2003 Gesamtschulen, und das, obwohl das Interesse der Erziehungsberechtigten an Gesamtschulplätzen für die Kinder eigentlich nicht in diesem Maße gestiegen ist.

Ich habe dort - das hat dem einen oder anderen auch aufseiten der Koalitionsfraktionen nicht gefallen -, wo ein Bedarf nachgewiesen wurde, sowohl bei Kooperativen Gesamtschulen als auch bei Integrierten Gesamtschulen gymnasiale Oberstufen genehmigt. - Das zu der Behauptung: Der benachteiligt die Gesamtschulen. - Ich habe Außenstellen zugelassen, wenn eine räumlich getrennte Unterbringung erforderlich war und es nicht nach einer Umgehung des Errichtungsverbotes roch. Die Schülerzahlen sind dort gestiegen. Die Angebotspalette ist dort erweitert worden.

Ich korrigiere den Kollegen Klare ungern. Wir haben keine Gleichstellung der gegliederten Schulen und der Gesamtschulen bei der Stundenzuweisung herbeigeführt. Die Gesamtschulen sind immer noch bessergestellt - damit das einmal klar ist! Nicht dass da eine andere Mär unterwegs ist. Die kommen auch gut damit klar.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Jörg Bode [FDP])

Ich will nun in den Anspruch der Gesamtschulen nicht weiter hineindiskutieren. Ich will nur auf einen Punkt im Vergleich zu den Hauptschulen eingehen, der vorhin anklang. Wir sind dabei, die Hauptschulen im Lande zu profilieren. Das scheint sich zu bewähren. An den Hauptschulen wird unseren jungen Leuten im 8. und 9. Jahrgang auch Berufsorientierung zuteil. Das bieten bei allem Respekt die Gesamtschulen den Kindern mit Hauptschulempfehlung nicht an. Das ist ein kleiner Unterschied, auf den ich hinweisen möchte.

(Walter Meinhold [SPD]: Das stimmt gar nicht!)

Meine Damen und Herren, die Zahl der 2 068 Schüler bedarf zudem einer differenzierteren Betrachtung. Es lässt sich nämlich feststellen, dass die Plätze an den Kooperativen Gesamtschulen durchaus dem Bedürfnis entsprechen. Lediglich an einigen Standorten Integrierter Gesamtschulen kommt es zu Ablehnungen. Wir haben das schon früher debattiert. Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass an diesen Standorten die Schulträger die Höchstzügigkeit der IGS nicht ausgeschöpft haben. Es leuchtet nicht ein, warum sie das nicht tun. Wilhelmshaven lassen wir in Gottes Namen außen vor. Die meisten IGSen fahren ihre Kapazitäten nicht aus.

Wir haben 28 Integrierte Gesamtschulen. Alle 28 könnten nach unserer Verordnung zur Schulentwicklungsplanung achtzügig fahren. Nur vier von den 28 tun das. 10 fahren sechszügig, 14 Schulen fahren nur vierzügig. Warum machen die das? Wir haben einmal hochgerechnet, welche freien Kapazitäten die derzeit im Lande tätigen Gesamtschulen haben. Wenn sie ihre Kapazitäten auffüllen würden, würde dies 76 neue Klassen ergeben, und es könnten zusätzlich 2 280 Schülerinnen und Schüler aufgenommen werden. Das ist mehr als das Defizit, das Sie beklagen. Dies ist vielleicht nicht ganz schulstandortscharf. Das möge Sie aber dazu veranlassen, einmal zu überlegen, ob Sie mit Ihrem Antrag - von wegen Demokratieverständnis wirklich richtig liegen.

Ich plädiere noch einmal ausdrücklich dafür, dass wir in der Eigenverantwortlichen Schule die Möglichkeiten haben, die wir vielleicht alle miteinander suchen.

Herr Busemann, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Nein, keine Zwischenfrage. Ich bin sofort fertig. Was das niedersächsische Schulwesen nicht gebrauchen kann, sind leidige Systemdebatten. Mich stört an diesen Debatten grundsätzlich, dass man meint - irgendwann werden die Leute möglicherweise darauf abfahren; so denkt man jedenfalls -: Wir bieten nun ein neues System an; halleluja, alles ist dann toll, alles stimmt, es gibt super Abschlüsse, und man braucht sich nicht mehr anzustrengen.

(Zuruf von der SPD: Wer sagt denn das?)

- Das klingt ja unterschwellig mit an. Es wird so getan, als komme ein neues System, und damit seien alle Probleme gelöst. Ich sage Ihnen dazu - ich bin lange genug Kultusminister, um dies sagen zu können -: Ohne eine Mehranstrengung aller im ganzen System werden wir beim nächsten PISA-Test und bei dem, was noch kommen wird, nicht besser werden. Damit auch das einmal klar ist! Systemdebatten lösen nicht das grundsätzliche Problem. Es war mir wichtig, das in diesem Zusammenhang noch einmal deutlich zu machen.

Ich habe wirklich eine herzliche Bitte: Wenn man meint, man brauche mehr Gesamtschulen und dass das Neuerrichtungsverbot aufgehoben werden sollte, gehört das natürlich hier ins Parlament. Dann müssen hier entsprechende Anträge gestellt werden und muss darüber diskutiert und dann entschieden werden. Ich hätte aber folgende Bitte: Wenn die Sozialdemokratie oder die Oppositionsparteien vielleicht auch gemeinsam meinen - die Zeit schreitet schließlich voran -, sie wollten so etwas wie eine gemeinsame Schule haben, dann mögen sie bitte das komplette Modell, am besten per Gesetzentwurf, auf den Tisch legen, und zwar in Bezug auf die Lehrerstellen, die Lehrerarbeitszeit und die Baukosten durchkalkuliert und auch mit den Differenzierungsmechanismen versehen; denn eine Gesamtschule braucht auch eine Differenzierung. Wir wollen ja nicht so tun, als gäbe es das dort nicht. Dann werden wir über dieses Modell diskutieren, und dann mögen die Bürgerinnen und Bürger darüber entscheiden.

Ich will Ihnen ganz offen sagen: Jene Massenbewegung, die Sie mit 2 000 abgelehnten Schülern begründen wollen, sehe ich in dieser Form im Lande nicht. Es mag an ein paar Standorten in Ihrem Beritt, Herr Meinhold und andere, vielleicht Entwicklungen in dieser Richtung geben. Sie sollten sich aber einmal an frühere Zeiten erinnern, insbesondere wenn es darum geht, welche Wahrnehmungen man hat. Als ich noch nicht im Landtag war, sollte in Emden in Ostfriesland - ein paar von Ihnen waren schon dabei - eine Gesamtschule errichtet werden. Ihr Vorvorgänger Joke Bruns hat daraufhin hier Debatten inszeniert und Dinge in Bewegung gesetzt, um dies zu verhindern. Auch dies sollten Sie sich einmal vor Augen führen, wenn es um die Frage der tatsächlichen Wünsche und der Beliebtheit von Gesamtschulen im Lande geht. Das mögen Sie dann aber klären. Wir werden hier selbstverständlich miteinander darüber debattieren, und am Ende werden die Bürger entscheiden. - Danke schön.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)