Protokoll der Sitzung vom 29.10.2003

Wenn man über diesen Paragrafen redet, dann gehört auch zu der Wahrheit und Klarheit, dass man ihn vorher in Gänze gelesen hat. Ich muss Ihnen sagen, Herr Bartling, meine Fraktion wartet heute immer noch darauf, dass sich irgendjemand einmal entschuldigt, der vorher durch die Lande gezogen ist und behauptet hat, in dem Entwurf der Fraktion stehe kein Richtervorbehalt. Genau das Gegenteil ist der Fall, und dann ist es nicht ehrlich, entsprechendes in der Öffentlichkeit zu verkünden.

Wenn Sie dann ebenfalls sagen, Generalstaatsanwalt Range habe in der Anhörung viele schreckliche Sachen dazu erzählt, wie das Gesetz laufen würde, dann muss auch ich ganz ehrlich sagen: Das, was Sie in der Pressemitteilung zu der Äußerung von Generalstaatsanwalt Range geschrieben haben, hatte mit dem, was Herr Range in der Anhörung gesagt hat, herzlich wenig zu tun. Entweder waren wir in einer anderen Anhörung, oder Sie haben Ihre Meldung vorher geschrieben. Denn ge

rade deshalb, weil Herr Range nicht zum grünen Dunstkreis gehört

(Rebecca Harms [GRÜNE]: Jetzt schon nahe am Sympathiesanten- sumpf!)

und ich sehr oft und intensiv mit ihm über dieses Thema gesprochen habe,

(Dieter Möhrmann [SPD]: Sagen Sie doch mal etwas Inhaltliches, Herr Kollege!)

ist es ganz klar, dass wir uns diesbezüglich geeinigt haben bzw. einer Meinung sind. Das Abhören bei Gefahr für Leib und Leben, d. h. wenn jemand verunglückt, bei Entführungslagen oder bei Geiselnahmen, wird von allen, auch von ihm und vom Datenschutzbeauftragten, begrüßt - das hat die Anhörung ganz eindeutig gezeigt - und stellt bisher eine Regelungslücke dar.

(Zuruf von Professor Dr. Hans-Albert Lennartz [GRÜNE])

Bei den anderen entsprechend formulierten Fällen des Abhörens gibt es eine ganz klare Regelung. Dazu hat er gesagt: Es muss sichergestellt sein, dass das weitere Verfahren darunter nicht leidet. Wir werden dafür sorgen, dass das auch passiert und dass es hierzu ganz klare entsprechende Regelungen gibt, sodass auch das weitere Verfahren sichergestellt ist. Dann hat auch Herr Range in diesem Punkt nichts mehr einzuwenden.

(Ina Korter [GRÜNE]: Geben Sie Nie- dersachsen die Freiheit zurück!)

Zu dem von Herrn Bartling angeführten Punkt, dass die Telefonüberwachung quasi das Ende des Rechtsstaates in Niedersachsen sei, möchte ich noch einmal an den 28. September 1997 erinnern. Damals hat nämlich der Niedersächsische Landtag den § 35 des damaligen NGefAG beschlossen. Das war die SPD-Regierung. Der § 35 beinhaltet den präventiven Lauschangriff. Das ist das Eindringen in Wohnungen zum Abhören und zum Anfertigen von Bildaufnahmen. Wer damals so etwas gemacht hat, der kann sich, wenn es jetzt um die Telefonüberwachung geht, nicht als Retter des Rechtsstaates aufführen. - Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Vielen Dank. Zu Punkt a) liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Dieser Punkt ist damit erledigt.

Ich eröffne die Beratung zu

b) „Kopftuch-Urteil“ benötigt gesetzliche Regelung - für Neutralitätsgebot in Schulen - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 15/501

und erteile das Wort Frau Harms.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Wir haben eingebracht! - Rebecca Harms [GRÜNE]: Das ist die einbringende Fraktion!)

- Gut. Dann hat das Wort Herr Jüttner.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 24. September 2003 hat sich das Bundesverfassungsgericht vorläufig abschließend zum Thema „Kopftuch an Schulen“ geäußert und das Thema an die Länderparlamente zurückgespielt. Wir waren der Meinung, dass das hier diskutiert werden muss - ohne Zuspitzung, ohne Polarisierung, sachlich, um der Komplexität gerecht zu werden.

Ich habe in der Vorbereitung bzw. bei der Ausarbeitung meiner Rede ein Problem gehabt. Ich hatte zwei Praktikanten der IGS Linden, die ich in der Zeit nicht beschäftigen konnte. Ich habe Ihnen den Auftrag gegeben, parallel zu mir eine Rede vorzubereiten. Wenn die Präsidentin es gestattet, dann nehme ich jetzt nicht meine Vorüberlegungen, sondern ich finde das, was Simon Biester und Nora-Vanessa Wohlert gemacht haben, so gut, dass ich Ihnen einmal vorlese, was Nora-Vanessa - diesen Text nehme ich - von gestern Nachmittag bis heute parallel vorbereitet hat. Ich glaube, es wird dem Thema durchaus gerecht, einmal von außen zu hören, wie sich Schülerinnen und Schüler dazu verhalten.

„Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Das Grundgesetz verbietet muslimischen Lehrerinnen nicht von vornherein das Tragen von Kopftüchern an öffentlichen Schulen. Nach dem Urteil des Gerichts dürfen die Bundesländer den muslimischen

Lehrerinnen das Kopftuchtragen im Unterricht nur dann verbieten, wenn sie dafür eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage geschaffen haben. Das Urteil hat die Entscheidung über das Kopftuch an den Gesetzgeber zurückgegeben, und diese sollten wir nun auf den Weg bringen; denn aufgrund der zahlreichen öffentlichen Diskussionen in den Medien können wir gar nicht umhin. Wir müssen uns eindeutig verhalten.

Vor dem Hintergrund der Zunahme verschiedener Religionsrichtungen in Deutschland können wir nur das Ausmaß religiöser Bezüge in der Schule neu bestimmen, wie z. B. die Möglichkeit, offensichtlich religiöse Kleidung für Lehrer zu untersagen oder eben nicht. Wir sind gefordert, klare Verhältnisse zu schaffen, eine Trennung von Staat und Religion. Allerdings möchten wir hier besonders eines deutlich machen: Wenn wir zu dem Schluss kommen, religiöse Symbole aus der Schule zu verbannen, dann müssen wir alle Religionen gleich behandeln.“

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

„Das heißt: kein Kopftuch in den Schulen, keine Nonnen, kein Kruzifix und auch keine anderen Dinge. Die staatliche Neutralität sollte gewährt bleiben, und dieses bedeutet, dass auch Lehrer und Schulen als Repräsentanten oder als staatliche Institutionen den Schülern gegenüber neutral auftreten sollten.“

(Beifall bei den GRÜNEN)

„Das Einbringen religiöser oder weltanschaulicher Bezüge in Schule und Unterricht durch Lehrkräfte eröffnet die Möglichkeit einer Beeinflussung der Schulkinder. Außerdem kann es zu Konflikten mit den Eltern kommen, die zu einer Störung des Schulfriedens führen und den Erziehungsauftrag der Schule gefährden. Auch die religiös motivierte und als Kundgabe

einer Glaubensüberzeugung zu interpretierende Bekleidung von Lehrern kann diese Wirkung haben.

Natürlich sollten öffentliche Schulen nicht nur für die christlichen, sondern auch für andere Religionen offen sein. Dadurch werden Toleranz und Integrität gefördert. Dies bedeutet aber trotzdem, dass Neutralität gewährt und Religion nicht in der Schule propagiert werden sollten.

In Deutschland identifiziert sich sicherlich nicht die Mehrheit der Bevölkerung mit dem muslimischen Glauben. Deshalb wird gerade gegen dieses absolute Novum in Form einer Kopftuch tragenden Lehrerin gewettert. Aber uns muss auch klar sein, dass sich wohl mittlerweile ein großer Teil nicht mehr mit der christlichen Religion verbunden sieht. Deshalb sollten wir alle Religionen möglichst gleich behandeln und dieses auch in einem Gesetz verankern. Die Interessen von Lehrern, Schülern und Eltern müssen hierbei berücksichtigt werden. Allerdings ist den Betroffenen nicht geholfen, wenn mal ‚hü!‘ und mal ‚hot!‘ entschieden wird. Eine einheitliche gesetzliche Regelung ist deshalb notwendig und würde Klarheit schaffen.

Im Privatleben steht es natürlich jeder Lehrkraft frei, sich für eine Religion und, damit verbunden, eventuell auch für ein Kopftuch zu entscheiden. Im Klassenzimmer - dort, wo eine Lehrerin eine Identifikationsfigur darstellt sieht die Sache allerdings anders aus. Unsere Gesellschaft hat die Aufgabe, ein Zusammenleben unterschiedlicher Religionen, Kulturen und Ansichten zu fördern. Aber das Kopftuch trägt beispielsweise nicht unbedingt zu mehr Integration bei. Das hängt besonders damit zusammen, dass das Kopftuch nicht als religiöses Symbol verstanden wird. Viele finden es unterdrückend, sehen es im Zusammenhang mit Politik oder meinen, es gehe um den Anspruch, den Gottesstaat einzuführen. Lässt man also die Kopftücher in den

Schulen, so ist es gut möglich, damit das konservative Lager zu einer noch stärkeren Ablehnung zu bringen und so das Gegenteil in Form einer noch größeren Ablehnung zu erreichen.

Die Politisierung von Religion ist in unseren Zeiten eine große Gefahr. Deshalb war eine klare Trennung von Staat und Religion noch nie so wichtig wie heute. Wo die genauen Grenzen liegen sollten, wenn es beispielsweise um mittlerweile kulturelle deutsche Bräuche wie Adventskränze geht, bleibt zu diskutieren.

Wir plädieren für Neutralität an unseren Schulen, wollen dabei möglichst alle Religionen gleich behandeln und damit ein Signal in die richtige Richtung setzen.“

Herzlichen Dank bei Nora-Vanessa, die diesen Text zwischen gestern Nachmittag und heute Morgen aufgeschrieben hat. Ich möchte dem in der heutigen ersten Lesung nichts hinzufügen.

(Beifall bei der SPD)

Jetzt hat das Wort Frau Harms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es handelt sich heute natürlich nicht um die erste Lesung. Außerdem debattieren wir heute nicht das erste Mal hier über dieses Thema. Denn auch Frau Renate Jürgens-Pieper hatte das Tragen eines Kopftuches an einer niedersächsischen Schule schon einmal unterbunden. Das liegt allerdings bereits einige Jahre zurück.

Ich bin der Meinung, dass in den letzten Tagen in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit dem Kopftuch ziemlich große Themen diskutiert worden sind: Gleichberechtigung der Frau, Integration, Freiheit, wie z. B. Religionsfreiheit, sowie Trennung von Staat und Kirche. Gemessen an der Größe dieser Themen, die wir auf dem Tisch haben, wird in Niedersachsen, Herr Minister des Abendlandes, Herr Minister Busemann, mit großem Ungestüm eine Gesetzesregelung vorbereitet. Ich kann bis jetzt nicht feststellen, dass zwischen dem,

was man mit einem einseitigen Verbot des Kopftuches erreicht, und dem, was man entsprechend Ihren Absichten gesetzlich einschränkt, eine Abwägung stattfindet. Meiner Meinung nach muss vor einer Einschränkung von Freiheitsrechten sorgfältig abgewogen werden.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Was bedeutet es für die Integration, wenn das Kopftuch verboten wird? - Ist eine muslimische Lehrerin - also eine Frau, die erfolgreich das Abitur abgelegt hat, die ein Hochschulstudium absolviert und sich entschieden hat, in unserem Land berufstätig zu sein - ein Beispiel für muslimische Mädchen in diesem Land, sich einer Integration zu verweigern und sich in der Schule nicht zu beteiligen, oder ist diese Frau möglicherweise nicht doch ein Beispiel dafür, dass es auch für muslimische Mädchen gut ist, sich in deutschen Schulen zu beteiligen und ehrgeizig zu lernen, weil eine solche Integration in der Schule von einem wirklichen Erfolg im Beruf gekrönt ist?

Meine Damen und Herren, was erreichen wir mit einem Kopftuchverbot für die Gleichberechtigung? - Dazu gibt es auch in meiner Fraktion durchaus unterschiedliche Meinungen.

(Zuruf von Bernd Althusmann [CDU])

- Alice Schwarzer gehört nicht zu meiner Fraktion, Herr Kollege. - Bei uns gibt es dazu durchaus unterschiedliche Meinungen. Ich stelle aber trotzdem die Frage: Ist eine erfolgreiche Lehrerin mit Kopftuch ein Beispiel für Unterdrückung und Ungleichheit in Deutschland, wie es Herr Beckstein - neuerdings auch Vorkämpfer für die Freiheit der Frau - meint, oder ist sie nicht vielmehr ein Beispiel für einen großen Schritt in Sachen Emanzipation auch muslimischer Frauen? Meiner Meinung nach ist dies sehr schwierig, zu entscheiden. Deshalb kann ich verstehen, dass dazu auch in meiner Fraktion unterschiedliche Positionen vertreten werden.

Ich selbst meine, Herr Althusmann, dass unseren Lehrerinnen und Lehrern Religionsfreiheit als persönliches Freiheitsrecht zusteht. Das gilt meiner Meinung nach auch für alle Beamten. Ich glaube nicht, dass Lehrerinnen und Lehrern dann, wenn sie in der Schule religiöse Symbole wie z. B. das Kopftuch, die Kipa, das Kreuz oder auch die Mönchskutte tragen, unterstellt werden kann, sie wollten Kinder im Unterricht religiös indoktrinieren. Ich muss Ihnen sagen: Ich gehe davon aus, dass

alle Lehrerinnen und Lehrer in unseren Schulen auf der Grundlage unserer Verfassung tätig sind. Ich bin ausdrücklich gegen Agitation in der Schule, weil sie immer nur das Gegenteil von Bildung bewirken kann. Ich glaube aber, dass dann, wenn eine Lehrkraft in der Schule aus persönlichen Gründen ein religiöses Symbol trägt, immer nur im Einzelfall darüber entschieden werden kann, ob sich die betreffende Lehrkraft der Agitation oder der politischen Indoktrination schuldig macht oder nicht. So viele Einzelfallentscheidungen sollten wir uns angesichts der Fälle, um die es geht, in unserem Lande noch zutrauen. Für mich ist - das muss ich Ihnen sagen - die fehlende Verfassungsfestigkeit der CDU absolut unerträglich. Ich spreche jetzt ausdrücklich Sie, Herr Althusmann, und auch Herrn Busemann an. Wenn Sie Kopftücher verbieten, Symbole oder Kleiderordnungen anderer Religionen aber zulassen, dann outen Sie damit, dass Sie mit Verfassungsrechten, mit Freiheitsrechten in dieser Republik nicht auf gutem Fuße stehen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ich glaube, dass Sie mit der Position, die Sie bisher vertreten haben, nichts anderes erreichen werden als eine neue Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht. Das aber kann nicht im Ernst Ihr Ziel sein.

Derjenige, der die Wahrnehmung eines Freiheitsrechtes einschränken will, muss dies in der Sache begründen, nicht aber derjenige, der in unserem Land ein vorhandenes Recht wahrnimmt. Ich möchte an dieser Stelle einen bekennenden Liberalen, einen glaubwürdigen Liberalen zitieren, nämlich Robert Leicht, der uns allen erst letzte Woche noch einmal ins Stammbuch geschrieben hat, dass Freiheit zuerst immer die Freiheit des anders Denkenden ist und dass Religionsfreiheit zuerst immer die Freiheit des anders Gläubigen ist. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den GRÜNEN)