Protokoll der Sitzung vom 05.03.2003

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Sie sind, Herr Wulff, mit 43 Jahren der jüngste Ministerpräsident in Deutschland. Dazu kommen jetzt noch in Ihrer Fraktion der jüngste Fraktionsvorsitzende und sehr viele junge Abgeordnete. Ich frage mich wirklich seit gestern angesichts von so viel Jugendlichkeit in der CDU: Warum sind diese jungen Politiker so darauf versessen, nach Marschmusik zu schunkeln? Warum werden so gern die alten Lieder gesungen? Warum wird so inbrünstig von vergangenen Zeiten geschwärmt?

(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von der CDU: Was meinen Sie damit? - Bernd Althusmann [CDU]: Welches alte Lied denn? Wir wurzeln darin! Im Gegensatz zu Ihnen! - Weitere Zurufe von der CDU)

Laut Ihrer Regierungserklärung hatte Niedersachsen seinen Idealzustand als „Aufsteigerland“ in den 80er-Jahren erreicht. Verwundert reibe ich mir da die Augen; denn für mich sind die 80er-Jahre auch eine sehr wichtige Zeit gewesen. Ich bin in dieser Zeit nicht nur erwachsen, sondern auch politisiert worden. Das Land, an das Sie jetzt als „Aufsteigerland“ erinnern, das Land, in dem es „brummte“ und „in dem sich was tat“, das hat sich mir anders eingeprägt. Niedersachsen machte damals Schlagzeilen mit großen innenpolitischen Skandalen. Das Celler Loch, die Spielbankenaffäre, die Berufsverbote

(Beifall bei den GRÜNEN)

diese Ereignisse prägten die politischen Debatten. Die FDP hatte dazu meines Wissens damals noch eine etwas andere Auffassung, als heute beim Thema Innenpolitik deutlich wurde. Das Misstrauen des Staates jedenfalls, Herr Kollege McAllister, war allgegenwärtig. Mitglieder von Bürgerinitiativen wurden von Innenminister Hasselmann - das darf man wohl auch nach seinem Tod noch sagen behandelt wie Mitglieder krimineller Vereinigungen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es war eine Zeit der tiefen kulturellen und politischen Spaltung. Ich hatte bisher gehofft - dazu haben meine letzten Jahre in diesem Landtag beigetragen -, dass ein Teil dieser Spaltung überwunden sei und dass die CDU mit dem Scheitern z. B. des Kandidaten Stoiber auch seine Idee der Leitkultur wieder aufgegeben hatte. Aber offensichtlich war das ein Irrtum von mir.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir sollten an dieser Stelle nicht vergessen, daran zu erinnern, dass sich der Ministerpräsident des Jahres 1986, Ernst Albrecht, damit brüstete, den Wunsch der Bevölkerung nach einem Kindergartengesetz abgeschmettert zu haben. Das wurde erst unter Rot-Grün Wirklichkeit. - So weit von mir aus, Herr McAllister, zu diesen „paradiesischen Zuständen“ in den 80er-Jahren, an die Sie sich wirklich nicht so genau erinnern können.

Meine Damen und Herren, erwartet hatte ich gestern die Beschreibung von etwas Neuem. Gehört habe ich tatsächlich eine Neuauflage der Lagebeschreibung für Niedersachsen, wie Herr Wulff sie sehr oft abgegeben hatte: schlimm, schlimm, schlimm. Je öfter sie die Lage des Landes, Herr Wulff, so beschreiben, desto schlimmer kommt es doch den Leuten vor.

Dabei geht dann eben verloren, dass wir in einem der reichsten Länder der Welt leben, auch wenn unser Bundesland im Ranking der Bundesländer etwas weiter hinten liegt. Wer das den Leuten nicht sagt, der betrügt mindestens diejenigen, die wirklich überhaupt nichts haben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Die weitere und andauernde Dramatisierung der Lage soll Ihnen Zeit verschaffen - darauf hat Sigmar Gabriel hingewiesen -, und zwar sehr viel Zeit. Eine der wenigen konkreten Aussagen der neuen Regierung ist ja, dass der „Wiederaufbau“ Niedersachsens mindestens neun und die Haushaltssanierung mindestens zehn Jahre dauern werden. Sie sind aber nur für fünf Jahre gewählt. Daran sei an dieser Stelle mal erinnert.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es wäre doch für uns alle von großem Interesse, zu wissen, was denn in diesen fünf Jahren erreicht werden soll. Diese tiefen, erschütternden und neuen Einsichten in den Haushalt des Landes, die Sie seit der Wahlnacht irgendwie schockartig ereilt haben sollen, kann ich Ihnen nicht glauben. Denn in jeder Rede von Herrn Möllring in den letzten Jahren ließe sich gegen diese Behauptung Ihrerseits mindestens ein Zitat finden.

Dass die Arbeitslosigkeit, die das größte Problem des Landes Niedersachsen und der Bundesrepublik ist, in den fetten Jahren begonnen hat, als die Bundesregierung noch, ohne mit der Wimper zu zucken, Jahr für Jahr Steuern und Sozialabgaben erhöht hat, fließt in Ihre Lageanalyse selbstverständlich wieder nicht ein.

Dass die deutsche Einheit - das sage ich, die noch immer im ehemaligen Zonenrandgebiet lebt und dort groß geworden ist -, so richtig, unumkehrbar und wünschenswert dieses Ergebnis des Aufstandes der Bürgerinnen und Bürger der DDR war, mit ihrer Finanzierung bis heute u. a. auch in Niedersachsen die großen Probleme schafft, erwähnen Sie wieder einmal nicht. Jeder mogelt sich eben auch

nach den größten Erfolgen an seiner Verantwortung vorbei. Meiner Meinung nach haben Sie an dieser Stelle gestern eine sehr große Chance verpasst, mit Ihrem Selbstbetrug in dieser Hinsicht einmal Schluss zu machen.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die Verwaltungsreform - das war Bestandteil jeder Regierungserklärung, die ich hier erlebt habe - soll wieder einmal einen zentralen Beitrag zur Sanierung des Staatshaushaltes leisten. So weit, so gut. Wir finden das auch richtig. Aber bisher haben ja Sie, Herr Wulff, und ich immer wieder Sigmar Gabriel für Sigmar Gabriel zitiert, den jungen Wilden für den dann etwas gealterten Ministerpräsidenten:

(Heiterkeit)

„Von der Notwendigkeit, ins eigene Fleisch zu schneiden.“ Das ist das Papier des Herrn Gabriel und des Herrn Oppermann gewesen.

Seit gestern haben Sie das nun auf eine andere Formel gebracht, Herr Wulff: Die Treppe wird von oben gefegt. Ich finde es immer gut, wenn Männer Frauen die Technik des Putzens erklären.

(Heiterkeit und Beifall bei den GRÜ- NEN)

Aber Besen hin oder her. Ich stelle fest: Eine Kabinettsreform haben Sie auch nur ansatzweise nicht geschafft. Sie wollen bei den Bezirksregierungen, also doch ein bisschen weiter unten, ansetzen. So haben Sie zunächst einmal die Regierungspräsidenten entlassen. Aber was nun? - Die Bezirksregierungen sollen aufgelöst werden. Wir halten das im Prinzip für richtig. Unser Anliegen aber ist es, durch Regionalisierung, Regionsbildung oder die Schaffung von Verbünden die Voraussetzungen für die Abschaffung der mittleren Ebene zu schaffen. Wir vermissen bisher eine Beschreibung des Weges, den Sie gehen wollen. Eine hundertprozentige Übertragbarkeit des Modells aus der Region Hannover auf das ganze Land halten wir für zweifelhaft.

Was wir den ersten Stellungnahmen Ihres Innenministers und dem Koalitionsvertrag entnehmen konnten, lässt befürchten, dass Sie zwar nicht mehr mit den Bezirksregierungen arbeiten wollen, dass stattdessen aber neue Ämter von den ehemaligen Standorten der Bezirksregierungen aus die Politik

jeweils eines Ressorts der Landesregierung zentralistisch umsetzen sollen. Den Standorten mag das nützen. An so etwas soll man auch denken. Ob dadurch aber tatsächlich eine neue, sinnvolle Verwaltungsstruktur geschaffen werden kann, halte ich für fraglich.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, auch nichts gegen die Verantwortung jedes Bürgers und jeder Bürgerin für sein bzw. ihr Leben, für seine bzw. ihre Gesundheit, für Familie, Kinder, Ausbildung und Beruf. Die Grünen vertreten seit ganz langer Zeit den Standpunkt, dass Bürger nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben. Sie wollen allerdings auch, dass sich der Staat aus bestimmten Angelegenheiten der Bürger heraushält, sie also nicht permanent ausschnüffelt.

Herr Wulff, die Bürger, die Arbeit und Einkommen haben, die gesund und mit oder ohne Familie glücklich sind, sind nicht diejenigen, um die wir uns Sorgen machen müssen. Das sind in unserem Land Gott sei Dank - das ist doch offenkundig immer noch die allermeisten, ohne dass jeder tatkräftige Bürger von Ihnen persönlich angespornt worden ist. Probleme haben in Niedersachsen und anderswo in erster Linie doch diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben, krank geworden sind, die in schwierige Verhältnisse hineingeboren worden sind, die in unser Land geflüchtet oder als Aussiedler gekommen sind. Diese Liste ließe sich verlängern.

Angesichts einer Zahl von mehr als 4 Millionen Arbeitslosen bundesweit halte ich es für unverantwortlich, eine Regierungserklärung zu diesem Bereich an einer Drohung gegen die angeblich Unwilligen unter den Arbeitslosen aufzuhängen. Wenn Sie, Herr Wulff, irgendwann so weit sein werden, vielen Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen konkrete Angebote zu unterbreiten, werde ich gern weiterreden. Ich sage Ihnen aber eines: Das muss ein bisschen mehr sein als das Aufsammeln von Dosen; denn die wird es hoffentlich schon bald nicht mehr in dem bisherigen Umfang geben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Dass die Gewährung von Chancen in Niedersachsen - wie Sie es gestern gesagt haben - künftig davon abhängig gemacht werden soll, ob die Menschen in jedem Fall Mut und Engagement mitbringen, werden wir nicht zulassen. Sozialpolitik ist

nämlich sehr viel mehr als die von Ihnen doch nur sehr brüchig beschriebene Nächstenliebe. Sie ist auch mehr als karitatives Engagement gerade für diejenigen, die schon ganz weit unten sind. Wenn eine Regierungserklärung abgegeben wird, in der 15 Mal das Wort „Wachstum“, aber kein einziges Mal das Wort „Gerechtigkeit“ vorkommt, wird mir um die Leute unten ganz bange.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Für mich stellt sich seit gestern ernsthaft die Frage, wer außerhalb dieses Plenarsaales künftig zu den Gewinnern und den Verlierern der letzten Niedersachsen-Wahl zählen wird. Erinnern Sie sich noch an eine Aufschwungdebatte mit dem damaligen Ministerpräsidenten Schröder hier in diesem Hause? - Wir haben ihm damals ein Aufschwungmännchen überreicht. Es ging um einen öffentlichen Auftritt des damaligen Ministerpräsidenten, bei dem er den seinerzeit stattfindenden Aufschwung für sich reklamiert hatte. Sie haben damals gemeinsam mit mir über die Szene hier im Plenum herzlich gelacht. Herr Wulff, Sie wollten sich ja eigentlich nicht so verändern. Sie waren aber noch nicht einmal im Amt, da habe ich in der Zeitung lesen müssen, dass Sie Autokäufe und Umsatzsteigerungen in Hotels und im Einzelhandel bereits als beginnenden Aufschwung infolge Ihrer Amtsübernahme verbucht haben.

(Beifall bei den GRÜNEN - Wolf- gang Jüttner [SPD]: Wulff hat sich ein neues Auto gekauft!)

Das ging dann irgendwie doch sehr flott.

(Beifall bei den GRÜNEN - Enno Hagenah [GRÜNE]: Der Frühling lässt sich nicht aufhalten!)

Der wirtschaftspolitische Teil Ihrer Regierungserklärung - den habe ich mir heute Nacht noch einmal sehr genau durchgelesen - liest sich eher wie eine Sammlung bekannter Beschwörungsformeln: Wachstum dringend erforderlich, weil Wachstum Aufschwung bringt und Aufschwung Arbeit bringt. - So weit, so gut. Aber glauben Sie, dass diese Beschwörung aufgeht? - Die Zahl der Arbeitslosen - ich sagte das vorhin schon - ist ja schon in den Himmel gewachsen, als Wachstum noch stattgefunden hat. Was Sie nicht zugeben, ist doch, dass auch Sie Arbeit nicht schaffen können, dass auch Sie gegen Rationalisierung und Kostendruck - so funktioniert das Wachstum für Unternehmen nichts in der Hand haben. Ich bin sehr gespannt

darauf, wie Sie diesen zentralen Bereich Ihrer Politik gestalten wollen. Ich meine, dass Sie hauptsächlich durch große Versprechungen auf diesem Feld die Wahl gewonnen haben. Ich glaube, Sie werden eines Tages ähnlich erbärmlich bilanzieren wie Ihre Vorgänger.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Ihr Wirtschaftsminister setzt auf öffentliche Investitionen in Infrastrukturgroßprojekte, wie ich von ihm bei vielen Wahlkampfveranstaltungen erklärt bekommen habe. Dies sei eine Hauptaufgabe der Wirtschaftspolitik im Lande. Tiefwasserhafen, Transrapid - fällt das darunter?

Schnelle Züge finde auch ich sehr gut. Auch ich leide unter dem Zustand der Deutschen Bahn. Ein Ende der Vertiefungsmaßnahmen an Elbe und Weser war schon immer ein Ziel der grünen Landtagsfraktion. Großprojekte wie Transrapid, Metrorapid oder der Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven, die schon lange in der Diskussion sind, müssen aber auch ökonomisch darstellbar sein. Die Wirtschaft kann nicht die ökonomischen Risiken und Nebenwirkungen solcher Projekte auf den Staat abwälzen. Das kann nämlich nur in einer höheren Staatsverschuldung enden. Dies gilt meiner Meinung nach für beide Großprojekte. Mit dem Transrapid sind wir dann auch auf diesem Politikfeld wieder in den 80er-Jahren angelangt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Einige der Sonderlasten im niedersächsischen Haushalt stammen übrigens aus den 80er-Jahren und aus der besonderen Verantwortung des Wirtschaftsministers Hirche: Technologiezentrum Nord in Unterlüß und SICAN. Statt in den fetten Jahren etwas zu sparen, wie Sie es sich gewünscht haben, Herr Wulff, wurde auch damals schon das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Herr Hirche, ich habe es Ihnen im Wahlkampf gesagt, ich wiederhole es heute: Bis heute zahlen die Bürgerinnen und Bürger des Landes Niedersachsen dafür ab.

Wegen der Pleite, die es mit dem Flughafen Berlin/Brandenburg gegeben hat - dabei geht es um mehrere 100 Millionen Euro -, musste sich unser neuer Wirtschaftsminister in zwei Untersuchungsausschüssen befragen lassen. Herr Hirche, Ihre Bilanz als Wirtschaftsminister in den beiden Ländern, in denen Sie schon tätig waren, ist wirklich erschütternd. Für mich ist es, wenn ich allein darauf gucke, kein Wunder, dass Sie nie länger als eine Legislaturperiode im Amt gewesen sind.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, auch in der Innenpolitik lässt sich die Bezugnahme der CDU auf die 80erJahre erkennen. Ihr Innenminister Schünemann hat damals noch nicht mitgemischt. Er ist jetzt leider nicht da, sein Staatssekretär auch nicht. Schade eigentlich; denn ich freue mich jetzt schon auf die demnächst hoffentlich stattfindende Debatte mit den beiden, die dafür federführend tätig sein sollen. Staatssekretär Koller ist über die Grenzen Bayerns hinaus für härteste Polizeiübergriffe auf Straßenfeste und andere „linke Demonstrationen“ bekannt. Im Münchener Kessel beim Weltwirtschaftsgipfel wurden hunderte von Menschen wegen ohrenbetäubenden Lärms festgehalten. „Nötigung“ nannte Herr Koller als Begründung. Etliche der zu Unrecht Festgesetzten haben später aber doch ein erstaunlich hohes Schmerzensgeld für dieses härtere Hinlangen auf bayerische Art - so hat es damals die Bayerische Staatsregierung genannt - erhalten.

Vermutlich ist dieser Kessel auch der Hintergrund für die Absicht der Regierung, den Unterbindungsgewahrsam in Niedersachsen auf zehn Tage auszuweiten. Oder ist das Teil der Gorleben-Strategie? Welches Klima soll mit einem solchen Unterbindungsgewahrsam eigentlich geschaffen werden? Verfassungskonform - aber die Verfassung spielt für die CDU-Innenpolitik keine große Rolle - sind bisher maximal 48 Stunden Gewahrsam. Die Ingewahrsamnahmen ohne richterliche Überprüfung in Gorleben in den letzten Jahren verstießen seit je gegen die Grundrechte. Aber wenn ein Staatssekretär berufen wird, der in den 80er-Jahren noch die Ausstattung der Bundeswehr mit Atombomben gefordert hat, der sich einen Dauerclinch mit Datenschützern liefert, der erst 2002 ein absolutes Demonstrationsverbot über München verhängt hat, dann zeigt eine Regierung damit meiner Meinung nach, dass Grund- und Bürgerrechte im Lande Niedersachsen keine wirklichen Anliegen mehr sein sollen.