Protokoll der Sitzung vom 05.03.2003

oder mit der Arroganz der Macht bei der Wahl der Vizepräsidenten und der Vizepräsidentinnen.

(Zurufe von der CDU)

Diesen Stil haben Sie gestern hier eingeführt. Sie selbst haben von „bürgerlicher Mehrheit“ gesprochen. Lassen Sie uns einmal darüber diskutieren, was Sie damit meinen.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich habe das Gefühl, Sie haben uns gestern eine kleine Kulturrevolution zumindest angedroht. Diese Aufklärung - wenn man sich so lange kennt über die Rückkehr zu den Sitten und Gebräuchen der 80er-Jahre, gepaart mit dem Aufklärungsvor

trag des von mir eigentlich sehr geschätzten Kollegen Gansäuer über Werte und charakterliche Anforderungen an Politiker, haben mir ein großes Unbehagen bereitet. Ich hielt es für überflüssig. Wenn ich das alles zusammenbringe - den neuen Stil und beispielhaft die Innenpolitik, die Sozialpolitik, die Frauenpolitik und die Umweltpolitik -, dann fürchte ich, meine Damen und Herren, Hoffmann von Fallersleben wäre emigriert. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Starker, anhaltender Beifall bei den GRÜNEN und Beifall bei der SPD)

Zur Geschäftsordnung hat sich Herr Möhrmann gemeldet. Herr Möhrmann, ich erteile Ihnen das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Entgegen der vollmundigen Ankündigung von Herrn McAllister, nämlich dass hier neue Sitten im Parlament eingeführt werden sollen, und auch entgegen allen von Ihnen in der EnqueteKommission vollmundig geäußerten Absichten stelle ich fest: Der Ministerpräsident war bei über der Hälfte der Rede von Frau Harms nicht im Saal.

Ich stelle weiter fest, dass bis jetzt immer noch fast die Hälfte des Kabinetts nicht anwesend ist.

Ich beantrage nach § 78 der Geschäftsordnung, die Kabinettsmitglieder zu zitieren. - Danke schön.

(Starker Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Damit stelle ich den Antrag von Herrn Möhrmann zur Abstimmung.

(Unruhe)

- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns in der Abstimmung. Nur keine Unruhe!

Wer dem Antrag von Herrn Möhrmann, die Kabinettsmitglieder zu zitieren, seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Das ist nicht der Fall. Gibt es Stimmenthaltungen? - Herzlichen Dank.

Ich unterbreche die Sitzung, möchte Sie aber bitten, hier im Raum zu bleiben, weil ich davon ausgehe, dass alle im Hause sind und dass wir in drei Minuten fortfahren können.

Unterbrechung: 12.24 Uhr.

Wiederbeginn: 12.26 Uhr.

Meine Damen und Herren! Ich möchte Sie bitten, sich wieder auf den Plätzen einzufinden, damit wir die Sitzung fortführen können. Es sind entsprechend des Antrages von Herrn Möhrmann inzwischen alle Minister und Ministerinnen eingetroffen.

Meine Damen und Herren, ich möchte dem Fraktionsvorsitzenden der FDP sehr gerne das Wort erteilen.

(Unruhe)

- Vorher bitte ich noch einmal um Ruhe. - Die Minister sind alle anwesend; dem Antrag ist Rechnung getragen worden. Herzlichen Dank.

Herr Fraktionsvorsitzender von der FDP, Herr Rösler, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jede Zeit hat ihre eigene politische Generation. Jede politische Generation hat ihre eigenen Ziele, Werte, Ideale und Vorstellungen.

Beispielsweise gab es in den 50er-Jahren - natürlich aufgrund der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges - das Ziel bzw. das Ideal von gesellschaftlicher und politischer Sicherheit. Deswegen ist es nicht überraschend, dass das die Zeit der Partei gewesen ist, die den Menschen am meisten Sicherheit versprochen hat. Es war die Zeit der CDU. Es war die Zeit von Konrad Adenauer, seiner absoluten Mehrheit und seiner ständigen Wiederwahl.

20 Jahre später gab es wiederum eine neue politische Generation; die hatte die Nase voll von einem Übermaß an gesellschaftlicher Sicherheit und politischer Bevormundung. Die Menschen in den 70erJahren wollten etwas, was uns als Liberale durchaus sympathisch erscheinen mag: Sie wollten ein Mehr an gesellschaftlicher und politischer Freiheit. Sie sind dafür auf die Straße gegangen, haben da

für gekämpft und demonstriert und durchaus auch einiges erreicht.

Dennoch hat die damalige vornehmlich junge Generation einen ganz entscheidenden Fehler gemacht. Die Menschen in den 70er-Jahren haben nämlich geglaubt, dass man die Freiheit in der Gesellschaft immer nur durch möglichst viel Gleichheit für alle und für jeden in der Gesellschaft erreichen kann. Dabei wissen wir als Liberale - vielleicht auch andere - heute, dass man die freie Gesellschaft immer nur dann erreichen kann, wenn man möglichst viel Freiheit für jeden Einzelnen von uns in dieser Gesellschaft durch- und umsetzt. Oder anders formuliert: Die damalige junge Generation in den 70er-Jahren, die so genannten 68er, also diejenigen, deren Geist uns bis zum 2. Februar 2003 mehrheitlich regiert hat, haben den entscheidenden Fehler gemacht, dass sie die Gleichheit mit der Freiheit verwechselt haben und es zu unser aller Unglück auch auf der Bundesebene noch heute tun.

(Lebhafter Beifall bei der FDP und bei der CDU - Lachen bei der SPD)

Jetzt gibt es wiederum eine neue politische Generation. Ich zähle mich einmal frech dazu, auch als Junger, selbst wenn ich weiß, dass es bei den Jungen Liberalen, wenn ich predige, hinter vorgehaltener Hand heißt: Opi erzählt vom Krieg. - So schnell kann das manchmal gehen. Das Ziel und das Ideal meiner Generation ist tatsächlich ein Mehr an gesellschaftlicher und politischer Freiheit durch mehr Freiheit für jeden Einzelnen von uns.

Man stellt sich dann die Frage: Wo ist die Freiheit in der heutigen Zeit eigentlich überhaupt noch bedroht? Sie können jede beliebige Talkshow anstellen, um festzustellen, dass Sie jeden Unsinn von sich geben können und dafür nicht nur viel Applaus, sondern womöglich auch viel Geld bekommen.

(Dieter Möhrmann [SPD]: Reden Sie über Herrn Möllemann, Herr Kolle- ge?)

Um klassische Freiheitswerte, wie Meinungsfreiheit, geht es in der Auseinandersetzung für mehr Freiheit in der heutigen Zeit nicht mehr. Es muss also andere Bereiche geben, in denen die Freiheit bedroht ist. Ich will Ihnen auch sagen, welche das sind; das möchte ich Ihnen heute nicht vorenthalten. Meine Generation demonstriert auch.

(Zuruf von der SPD: Wo denn?)

Aber wenn meine Generation demonstriert, dann demonstrieren wir nicht gegen irgendetwas, gegen irgendeine Kaffeeplantage in Nicaragua oder gegen irgendeine Startbahn fernab im Hessischen und lassen uns dort womöglich von Polizeibeamten wegtragen, die eine Generation später unsere eigenen Bodyguards geworden sind, nur weil wir zufälligerweise aufgestiegen sind: vom einfachen Steine werfenden Turnschuhdemonstranten bis hin zum Bundesaußenminister.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Wenn meine Generation demonstriert, dann demonstrieren wir für etwas. Wir demonstrieren für mehr Chancengerechtigkeit, für mehr Bildungsgerechtigkeit und für eine bessere Bildungspolitik in Deutschland und in Niedersachsen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich bin - keine Angst - hier in Niedersachsen zur Schule gegangen, also gleichsam Zeitzeuge dieses verkorksten Bildungssystems.

(Beifall bei der SPD - Sigmar Gabriel [SPD]: Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht!)

Ich kann Ihnen nur eines sagen: Meine Generation hat die Nase voll davon, als Versuchskaninchen für Alt-68er-Kuschelpädagogik herhalten zu müssen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich bin damals aus der Grundschule nach Hause gekommen und habe meinem Papa ganz stolz erzählt: Ich muss nicht mehr Mathematik lernen. Es gibt jetzt etwas viel Besseres, nämlich Mengenlehre. - Ich sehe schon, der eine oder andere erinnert sich noch. Da lernt dann ein junger Mensch, dass, wenn fünf Leute in einem Raum sind und sieben Leute diesen Raum verlassen, zwei hereinkommen müssen, damit niemand mehr drin ist.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Wer glaubt, jungen Menschen so Mathematik beibringen zu können, der darf sich über TIMSS und in anderen Bereichen später PISA auf keinen Fall mehr wundern.

(Axel Plaue [SPD]: Wenn Liberale anfangen, über Mathematik zu reden, dann haben wir das Ende der Fahnen- stange erreicht!)

Wir haben uns über PISA auch nicht gewundert. Wir haben schon immer gesagt, dass PISA für uns keine Überraschung war. Sie hätten schon vor zehn Jahren zu jedem Handwerksmeister gehen können. Er hätte Ihnen gleichsam als Abnehmer aus diesem Bildungssystem deutlich gemacht, wie katastrophal unser Bildungssystem eigentlich ist. Dafür brauche ich keine Studie.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Einen Vorteil aber hat die Studie doch gehabt. Pisa ist nicht nur Namensgeber für diese Schulstudie gewesen, sondern es ist auch eine schöne Stadt in Italien. Meiner Meinung nach unterstreicht dies in eindrucksvoller Weise das, was passiert, wenn man 13 Jahre lang von der Toskana-Fraktion regiert wird.

(Beifall bei der FDP - Wolfgang Jütt- ner [SPD]: Sie haben doch während der Regierung Albrecht die Schule besucht! Sie haben 1990 Abitur ge- macht, als Albrecht abgetreten ist!)