Protokoll der Sitzung vom 18.11.2004

Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung: Systematisch-zielgerichteten Belästigungen und Verfolgungen (Stalking) entschlossen entgegentreten! Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 15/1411

Zu Wort gemeldet hat sich Frau EmmerichKopatsch von der SPD-Fraktion.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorgestern lautete die Schlagzeile des Göttinger Tageblatts: „Verschmähte Liebe - Student will Mitbewohnerin töten.“ Häufig gibt es ähnliche Meldungen, die dann von einem Beziehungsdrama reden. In vielen dieser Fälle gab es vorher Anzeichen, die, wären sie rechtzeitig erkannt worden, Schlimmeres hätten verhindern können. Oftmals versteckt sich hinter solchen Meldungen ein vorangegangenes Martyrium, das inzwischen auch in Deutschland unter dem Begriff „Stalking“ bekannt ist.

„Stalking“ stammt aus der englischen Jägersprache und bedeutet: sich heranschleichen, heranpirschen. Der Begriff wird inzwischen aber vor allem auf den Sachverhalt der andauernden Belästigung, Verfolgung, Beobachtung, Annäherung, Bedrohung und andere Arten des Psychoterrors angewandt. Hier beginnt aus rechtlicher Sicht bereits das Problem. Es gibt keine so umfassende, den Sachverhalt klar definierende deutsche Übersetzung des Wortes „Stalking“. Stalking ist ein gesellschaftliches Phänomen, das insbesondere durch die Verbesserung technischer Möglichkeiten wie EMail, SMS, Handys usw. stetig ansteigt. Diese technischen Möglichkeiten begünstigen das komplexe Täterverhalten.

(Unruhe - Glocke der Präsidentin)

Man schätzt, dass es in der Bundesrepublik rund 60 000 Fälle pro Jahr gibt. Opfer sind Frauen und Männer. Die Folgen dieser fortgesetzten, systematischen Belästigung und Verfolgung sind für die betroffenen Personen häufig gravierend, führen zur Einschränkung in der Alltagsgestaltung und lösen Angstzustände bis hin zu Panikattacken aus. Das persönliche Sicherheitsgefühl kommt den Opfern vollständig abhanden. Typisch für Stalking ist auch, dass die Belästigung in ihrer Intensität eher zu- als abnimmt.

Stalking ist ein Delikt, vor dem sich niemand wirkungsvoll schützen kann. Es zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Ich vermute, dass auch einigen hier anwesenden Abgeordnete solche Fällen bekannt sind. Mir ist z. B. der Fall einer jungen Schuhverkäuferin bekannt, die durch monatelange Belästigung, ständige Anrufe und permanente Verfolgung durch einen ihr nicht bekannten Mann das Haus vor Angst nicht mehr verlassen mag. Sie geht auch nicht mehr ans Telefon. Angst macht vor allem, dass man nicht weiß,

ob ein solcher Mensch nicht auf Dauer gewalttätig wird.

Den Tätern selbst geht es um Machtausübung, darum, das Opfer zu terrorisieren und zu kontrollieren. Stalking ist eine Verhaltensweise, die eine unendliche Reihe von Handlungen beinhalten kann, die jede für sich nicht unbedingt als gravierend angesehen werden muss. Erst das Zusammenwirken mehrerer dieser Handlungen sowie deren Intensität werden zu einem Problem.

Einige Handlungen der Täter verstoßen gegen unsere Rechtsnormen. Sie stellen damit schon heute einen Straftatbestand dar. Gegen diese Verstöße kann dann gerichtlich vorgegangen werden. Andere, es können auch mehrere unterschiedliche Handlungen sein, sind in unseren Gesetzen nicht als Straftatbestand berücksichtigt und können dadurch nicht durch Gesetz verfolgt werden. Der Stalker hätte somit die Möglichkeit, sein Opfer zu schädigen, ohne einen Gesetzesverstoß zu begehen.

In 70 % der Fälle kennt das Opfer den Stalker, sei es aus einer vorangegangenen Beziehung oder aus einer flüchtigen Bekanntschaft. Schlimmer noch ist die Situation jedoch, wenn der Täter anonym bleibt.

In der Bundesrepublik ist Stalking erstmals im Jahr 2000 bekannt geworden. Die Medien griffen vor allem Fälle prominenter Opfer auf und beschäftigten sich eher oberflächlich mit dem Thema. Nachdem die Öffentlichkeit sensibilisiert war und ein Regelungsbedarf erkannt wurde, reagierte der Gesetzgeber 2002 mit der Aufnahme in das Gewaltschutzgesetz. Ziel sollte es sein, die Vollstreckung von zivilgerichtlichen Anordnungen, angeordneten Näherungsverboten, Belästigungsverboten und Platzverweisen zu optimieren.

(Vizepräsidentin Ulrike Kuhlo über- nimmt den Vorsitz)

Der Stalker macht sich strafbar, wenn er gegen eine dieser Anordnungen verstößt, und kann mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft werden. Aber wie will man jemandem einen Platzverweis erteilen, der nicht bekannt ist? Wie will man eine Anordnung gegen Unbekannt erwirken? Welche zivilrechtlichen Möglichkeiten hat ein Opfer, den Täter - selbst mit Hilfe eines Anwalts - zu ermitteln? Und, sollte der Täter bekannt sein, ist es durch die Hürde des Zivilverfahrens schwierig, eine Anordnung für teilweise sub

tile Tathergänge zu erlangen. Das Opfer muss den Beweis selbst erbringen, die Anordnung selbst zustellen lassen und kann erst bei Zuwiderhandlung gegen diese Anordnung - wenn erneut Taten begangen werden, die zeitlich nach der Zustellung liegen müssen - Strafanzeige erstatten. Schwierig ist auch, dass diese Anordnungen in der Regel befristet sind.

Diese Schilderung macht, glaube ich, deutlich, dass die bisherigen gesetzlichen Regelungen nicht ausreichend sind. Einige Bundesländer - Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern - haben Bundesratsinitiativen auf den Weg gebracht.

Aber auch diese Gesetzentwürfe haben mit dem Problem der unbestimmten Rechtsbegriffe zu kämpfen und erfassen die Problematik der anonymen Täter nicht. Hier wäre es sinnvoller, das Opfer könnte sich von vornherein auf die Hilfe der Strafverfolgungsbehörden stützen, z. B bei der Ermittlung von Inhabern unbekannter Telefonnummern oder verschleierter Mail-Adressen. Die hierfür erforderliche Regelung zu treffen, liegt schon heute in der Kompetenz des Landes, z. B. auf dem Wege eines Runderlasses oder notfalls über eine Änderung des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung.

Auch ist es zu überlegen, ob Niedersachsen nach dem Beispiel von Bremen Fachbereiche bei der Polizei einrichtet, die in die Fälle eingebunden werden. In Bremen hat man gute Erfahrungen damit gemacht, dass sich die Polizei frühzeitig mit dem Täter auseinander setzt und durch direkte Ansprache des Täters durch Polizeibeamte weitere Belästigungen im Vorfeld vermeidet. Auch könnte im Rahmen von Fortbildungsmaßnahmen bei Polizei, Anwaltschaft und Richterschaft und verstärkter Öffentlichkeitsarbeit ein wirkungsvoller Beitrag zur Prävention geleistet werden.

Meine sehr verehrten Kollegen, auch wenn Sie das vielleicht nicht so spannend finden: Mir geht es - darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen - nicht um Schnellschüsse durch irgendwelche Gesetzesverschärfungen, denn selbst der härteste Straftatbestand läuft leer, wenn die Täter nicht ermittelt werden. Ich bin allerdings sehr dafür, dass der Landtag ein Signal gegen Stalking setzt, um das öffentliche Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es sich beim Stalking um einen massiven Eingriff in die Privatsphäre des Opfers handelt.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Zustimmung von Ursula Körtner [CDU])

Das systematische und zielgerichtete Nachstellen, Belästigen oder Verfolgen von Personen ist mittlerweile zu einem ernst zu nehmenden Problem unserer Gesellschaft geworden. Fortdauernde Angstzustände, Panikattacken, Schlafstörungen und Depressionen sind keine Einzelfälle. Ich bin deshalb sehr dafür zu prüfen, ob die Schaffung eines Stalking-Tatbestandes im Strafgesetzbuch hier Abhilfe schafft.

Wir müssen insbesondere einen Weg finden, die anonyme Belästigung unter Zuhilfenahme der modernen Kommunikationsmittel zu erschweren. Wir müssen auch darüber nachdenken, ob das Gewaltschutzgesetz, das sich im Bereich der innerfamiliären Gewalt ganz hervorragend bewährt hat, so ergänzt werden kann, dass es den StalkingOpfern erleichtert wird, Unterlassungsverfügungen durchzusetzen. Das geht aber nur, wenn der Täter bekannt ist.

Hier erwarte ich ein Konzept der Landesregierung, wie den Opfern bei der Aufklärung solch anonymer Belästigungen geholfen werden kann. Ich würde mich sehr freuen, wenn alle im Landtag vertretenen Fraktionen unsere Initiative gegen Stalking unterstützen könnten. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN - Zustimmung von Ursula Körtner [CDU])

Frau Lorberg von der CDU-Fraktion hat das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den letzten Jahren beschäftigt die Strafverfolgungsbehörden immer häufiger ein neues Phänomen. Dieses hat einen Namen: Stalking. Stalking, das systematische, zielgerichtete Nachstellen und Verfolgen von Personen, ruft bei den Opfern oft eine ohnmächtige Hilflosigkeit hervor. Stalker nehmen Besitz von ihren Opfern und hetzen sie oft monatelang, ja sogar jahrelang. Stalker drohen ihren Opfern oftmals Gewalt an. In einigen Fällen kommt es sogar vor, dass Stalker mit der Tötung ihres Opfers drohen. Man kann dieses nur als unmenschlich und als unmoralisch bezeichnen.

(Beifall bei der CDU)

Die Folgen des Stalkings sind für die Opfer sehr unterschiedlich. Arbeitsplatz- und Wohnortwechsel sind eine Form der Flucht vor dem Stalker. Geheime Telefonnummern bieten nur begrenzten Schutz, da solche Telefonnummern in unserer technisierten Gesellschaft kein wirkliches Hindernis für Stalker darstellen. Gesundheitliche Schäden wie Dauerkopfschmerz, Depression und andere durch Angst und Stress ausgelöste Erkrankungen treten bei den Opfern auf. In einigen schweren Fällen hat Stalking die Opfer in den Suizid getrieben.

Die Bedrohung des Opfers hinsichtlich Körperverletzung oder Mord ist unbedingt ernst zu nehmen. Dass es nicht nur bei der Drohung bleibt, zeigen bereits einzelne Fälle, in denen nach monatelanger Verfolgung und Bedrohung das vorab angekündigte Verbrechen dann auf grausame Art in die Tat umgesetzt wurde.

Stalking ergibt sich überwiegend aus gescheiterten Beziehungen oder Partnerschaften. Diesem Umstand verdankt der Stalker einen genauen Einblick in die Privatsphäre des Opfers. Gezielte Attacken können so perfekt geplant und ausgeführt werden.

Überwiegend sind Frauen betroffen. 17,3 % der deutschen Frauen wurden bereits einmal in ihrem Leben Opfer eines Stalkers. In Einzelfällen sind jedoch auch Männer betroffen. Stalking kennt eben kein Schema und auch keine Grenze.

Experten beschreiben Stalking als emotionale Vergewaltigung oder psychologischen Terrorismus. Anonyme Briefe, SMS, Anrufe oder Mails enthalten meist grobe Beschimpfungen oder Demütigungen. Das Abfangen auf offener Straße oder das Belauern des Opfers vor dem Haus versetzt die Opfer häufig in Panik. Meine Damen und Herren, die eigene Todesanzeige in der Zeitung lesen zu müssen, die man selbstverständlich auch noch vor die Haustür gelegt bekam, ist, wie ich glaube, etwas, was keinen Menschen kalt lässt und was jeden aus der Fassung bringt.

Stalking hat unglaublich viele Gesichter und Facetten. Dagegen bietet das geltende Straf- und Strafverfahrensrecht nur eingeschränkten Schutz. In einigen Fällen muss die Strafverfolgungsbehörde sogar tatenlos abwarten, bis die Bedrohungsspirale in der Eskalation endet.

Einige Handlungen der Stalker erfüllen bereits Straftatbestände. So werden beispielsweise Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Nötigung oder Beleidigung strafrechtlich verfolgt. Stalking beinhaltet jedoch weitaus mehr und ist in den unterschiedlichsten Facetten häufig nicht leicht als Straftatbestand zu benennen.

Auch das Gewaltschutzgesetz bietet in einigen Fällen eine Rechtsgrundlage für Opfer und Behörden. Die vorhandenen Lücken des Gesetzes machen sich Stalker jedoch zu Eigen und setzen ihren alltäglichen Terror fort.

In einigen Ländern wie Japan, England, Belgien, Irland und den Niederlanden sowie in allen australischen und US-amerikanischen Bundesstaaten gibt es bereits Stalking-Gesetze. Aufgrund einer Länderinitiative aus Hessen und Bayern hat nun auch der Bundesrat einstimmig beschlossen, dass eine Expertenprüfung zum Thema Stalking erfolgen soll.

(Beifall bei der CDU - David McAllister [CDU]: Das ist ein erster Schritt! Dank Hessen!)

Dies wird von Niedersachsen ausdrücklich unterstützt.

(Beifall bei der CDU)

Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPDFraktion, wir werden über das Thema Stalking intensiv im Ausschuss beraten müssen. Doch mit dem Prüfungsauftrag des Bundesrates ist die Thematik auf den richtigen Weg gebracht. Nur durch eine eindeutige Rechtsgrundlage kann man dem Stalking entgegentreten.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, der Schutz eines Stalking-Opfers muss künftig breit gefächert gewährleistet sein. Die betroffenen Menschen müssen nachhaltig vor psychischen und physischen Schäden geschützt werden. Diesem Anliegen räumt die CDU-Fraktion oberste Priorität ein. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Nächster Redner ist Herr Briese von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Herr Briese, Sie haben das Wort!

(David McAllister [CDU]: Jetzt hören wir, warum das alles nicht geht!)

Herr Kollege, erst zuhören und dann urteilen!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Stalking ist ein sehr ernstes Thema. Ich will meine Rede mit einem Buchtitel von Sigmund Freud beginnen, da das Stalking-Problem nach wissenschaftlichem Erkenntnisstand viel mit frühkindlichen Störungen zu tun hat und Freud als Schöpfer der Psychoanalyse den frühen Kindheitsjahren und der frühkindlichen Erziehung viel Bedeutung beigemessen hat. Schwere Traumata in Kindheitsjahren führen oftmals zu irreversiblen Störungen und Neurosen im Erwachsenenalter. Diese sind später dann nur noch sehr schwer korrigierbar. Wir kennen das Problem aus der TäterOpfer-Forschung. Fast alle Straftäter im Bereich von Missbrauch und Gewalt waren in ihrer Kindheit Opfer. Daher ist das Recht auf eine gewaltfreie und liebevolle Erziehung so ungemein wichtig für eine möglichst intakte Gesellschaft, um aus dem tragischen Kreislauf der Gewalt auszubrechen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Das Unbehagen in der Kultur lautet der Titel eines späten Buches von Freud, in dem er all die unheimlichen Phänomene und verstörenden Eigenarten in unserer scheinbar doch so aufgeklärten und gebildeten Gesellschaft thematisiert hat.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Stalking-Problem ist solch ein verstörendes Element. Die gesamte Phase der Aufklärung und der rationalen Vernunft hat viel zivilisatorische Scheinsicherheit produziert. In unserer Gesellschaft herrscht aber eben auch heute noch viel Irrationalismus. Das Stalking-Phänomen ist, wie ich denke, solch eine Art Irrationalismus.

Es ist gut, dass sich das Parlament grundsätzlich mit diesem Thema beschäftigt. Ich bin der SPD ausgesprochen dankbar, dass sie dieses Thema hier ins Parlament gebracht hat, um über Lösungen zu diskutieren.