Protokoll der Sitzung vom 15.12.2004

(Zurufe von der CDU: So ist es! - Wi- derspruch bei der SPD)

Ein anderes Thema sollten wir vielleicht heute Mittag miteinander abklären. Ihre Überlegungen, Herr Gabriel, zur Anpassung der Lehrerarbeitszeit, zur Umstellung vom Beamtenstatus auf den Angestelltenstatus bei den Lehrern, wohlgemerkt bei geänderten Lehrerarbeitszeiten sind ein hochinteressanter Vorgang. Ich freue mich auf heute Mittag.

(Beifall bei der CDU - Zuruf von der SPD: Eine schwache Antwort!)

Vielen Dank. - Es hat Frau Ministerin von der Leyen um das Wort gebeten.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Weil das Thema Landesblindengeld mehrfach angeführt worden ist und ich persönlich des Öfteren darauf angesprochen worden bin, möchte ich dazu auch an dieser Stelle noch einmal Stellung nehmen; wir werden darüber sicherlich im Zusammenhang mit dem Sozialhaushalt noch einmal diskutieren.

Über eines sollten wir uns in diesem Hause einig sein - ich denke, darüber besteht Konsens -, dass keine Generation einer nächsten mehr zumuten darf, als sie selbst zu tragen bereit ist. Damit ist der eng begrenzte Handlungsrahmen klar, in dem wir uns bewegen.

Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass man, wenn man sich auch angesichts der Landesfinanzen dieser Prämisse unterordnet, dafür kein Lob, sondern die Art von Beschimpfungen erntet, die wir am gestrigen Tage von Herrn Gabriel vorexerziert bekommen haben und die wir heute erlebt haben. Diese Auseinandersetzungen sind die Folge, die man dann durchstehen muss.

Aber es trägt natürlich keinen Deut zur Sachdiskussion bei, Herr Gabriel, wenn Sie gestern und heute tosende Tiraden loslassen, die eine Mischung von Pharisäerpredigt und Unschuldsengel gewesen sind; denn Sie haben Ihren Teil dazu beigetragen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Sigmar Gabriel [SPD]: Das müssen ausgerechnet Sie sagen!)

Wenn wir die Frage der Generationengerechtigkeit stellen, dann betrifft diese nicht nur jede politische Ebene, die kommunale, die Landes- und die Bundesebene, die sich davor nicht drücken kann - man kann das nicht immer auf die andere Ebene weiter schieben -, sondern auch jedes Ressort. Denn ich kann im Sozialressort die Finanzverantwortung nicht einfach auf die anderen Ressorts abdrücken. Diese haben genauso ihre Berechtigung.

Meine Damen und Herren, wenn im Sozialhaushalt 34 Millionen Euro fehlen, wird es sehr konkret. Dann muss man danach handeln. Es ist klar, dass es dann entsprechende Reaktionen von Ihrer Seite gibt, weil das Handeln sehr viel schwieriger ist als das Reden darüber.

(Beifall bei der CDU)

Wenn wir heute diesem Parlament die Frage stellen würden, ob wir ein Landesblindengeld oder einen vermögens- und einkommensunabhängigen Nachteilsausgleich für eine andere Gruppe von Menschen mit Handikaps neu einführen sollen, wäre unter den heutigen Bedingungen die ehrliche Antwort in diesem Parlament ein Nein.

(Beifall bei der CDU)

Denn wenn sie nicht so ausfallen würde, müsste man konsequenterweise das Fass aufmachen - Herr Gabriel, das habe ich bei Ihrer Rede gestern vermisst - und einen einkommens- und vermögensunabhängigen Nachteilsausgleich für alle Menschen mit Behinderungen fordern.

Ich will einen Leserbrief zitieren, der am 9. September 2004 in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung erschienen ist. Dieser spricht meines Erachtens Bände im Hinblick auf die Frage, worin in unserer heutigen Diskussion das Dilemma besteht und wovor man sich nicht einfach drücken kann, indem man andere beschimpft.

Die Überschrift lautete: Wovon andere nur träumen. Der Leserbrief betraf den Bericht vom 20. August 2004 unter dem Titel „Rotstift gegen Blinde“. Die Autorin schreibt - ich zitiere -:

„Es ehrt Sie, dass Sie sich der Probleme von Sehbehinderten annehmen. Nun müssen Sie sich fragen lassen, warum Sie nicht für alle Gruppen von Schwerbehinderten streiten. Eigentlich müssten Sie sich dafür einsetzen, dass alle Gruppen diesen Nachteilsausgleich erhalten, weil fast alle anderen Schwerbehindertengruppen ebenfalls große finanzielle Probleme haben.“

(Axel Plaue [SPD]: Eine Sozialminis- terin spielt die Behinderten gegenein- ander aus!)

„Wer z. B. durch Multiple Sklerose auf den Rollstuhl angewiesen ist, kann

unter Umständen auch nicht allein einkaufen, kommt überhaupt nicht hin zur Sporthalle und kann allein keine Reisen unternehmen. Auch diese Gruppe Behinderter möchte Hilfeleistungen mal belohnen können, wenn sie, wie Sie schreiben, in Würde leben können. Von einer monatlichen Leistung von 409 Euro träumen wir nur. Für viele MS-Schwerbehinderte, die schon in ihrer Jugend von dieser Krankheit betroffen wurden und ihren Beruf nicht mehr ausüben können, wären diese 409 Euro mehr als die eigene Minirente.“

(Zurufe von der SPD)

„Nicht nachvollziehbar ist in Ihrem Artikel, dass Sie von einer Merkwürdigkeit der Debatte sprechen, wenn z. B. der Sozialverband VdK die Linie der Landesregierung befürwortet.“

Wie perfide und wie vergiftend Ihre Argumentation ist, Herr Gabriel, zeigt sich, wenn Sie etwa wörtlich sagen: Erst nehmen Sie den Blinden das Geld weg und dann den Rollstuhlfahrern die Rollstühle.

(Zuruf von der CDU: Ungeheuerlich! - Axel Plaue [SPD]: Die Kaltschnäuzig- keit, mit der Sie solche Leserbriefe vorlesen, die ist perfide!)

Wer wie Sie, Herr Gabriel, so bewusst die Tatsachen unseres Sozialstaates mit den Füßen tritt, dem glaubt man nicht mehr.

(Beifall bei der CDU - Widerspruch bei der SPD)

Denn die Tatsache unseres Sozialstaates ist, dass wir das Netz der Blindenhilfe haben. Die Tatsache unseres Sozialstaates ist, dass wir den Status quo aus eigener Wirtschaftskraft heute nur mit Mühe aufrechterhalten können. Die Tatsache unseres Sozialstaates ist, dass wir uns gerade deshalb, weil wir dieses Netz der sozialen Sicherung für die sozial Schwachen aufrechterhalten wollen, die schwierige Frage stellen müssen, ob vermögensund einkommensunabhängige Leistungen heute noch angemessen und finanzierbar sind. Wenn man diese Leistungen weiter finanziert, muss man an anderer Stelle im Sozialressort darauf reagieren.

Gerade weil es so schwer ist, diese Dinge zu tun, müssen wir diesen Schritt gehen. Denn sonst bleibt der Staat nicht stark genug, um das zu tun, was wir einfordern, nämlich dass den sozial Schwachen geholfen wird. Deshalb begebe ich mich in diese Diskussion. Täte ich das nicht, müsste ich erbarmungslos den Weg weitergehen,

(Walter Meinhold [SPD]: Das tun Sie!)

den die SPD gegangen ist.

(Walter Meinhold [SPD]: Nein!)

Die SPD hat während ihrer Regierungszeit die Nettoneuverschuldung erbarmungslos von 5 auf 13 % hinaufgetrieben. Deshalb erstickt heute das Land an den Zinszahlungen für diese Schulden. Die Zinszahlungen betragen heute jährlich 2,5 Milliarden Euro. Das ist mehr als der gesamte Sozialetat.

Stellen Sie sich vor, wir hätten diese 2,5 Milliarden Euro heute im Land zur Verfügung. Dann könnten wir sie für Leistungen einsetzen. Aber wir haben sie nicht. Sie haben sie verspielt. Sie haben die Zukunft verhökert.

(Starker, anhaltender Beifall bei der CDU und bei der FDP - Werner Buß [SPD]: Das ist doch keine Sozialmi- nisterin! Sie spielt den Part eines Fi- nanzministers!)

Ich finde das alles spannend. Aber die Justiz hat keine Chance. - Herr Kollege Gabriel, bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, gestern habe ich Ihnen gesagt, dass es nicht Ihre Aufgabe ist, Ihren Vater zu verteidigen, sondern die Behinderten. Heute sage ich Ihnen, Sie sind im Kabinett Sozialministerin.

Wissen Sie, was erbarmungslos ist? Erbarmungslos ist, wenn man sich hier hinstellt und eine Gruppe von Behinderten gegen die andere auszuspielen versucht. Das ist erbarmungslos.

(Starker Beifall bei der SPD und bei den Grünen - Widerspruch bei der CDU)

Ihre Rede hätte dann Bestand und Glaubwürdigkeit, wenn Sie im Bundesrat dem Gesetzentwurf zur Abschaffung von 99 Millionen Euro an unnötigen Steuerprivilegien im Jahr 2005 zugestimmt hätten, bevor Sie den Behinderten das Landesblindengeld gestrichen hätten.

(Beifall bei der SPD - Unruhe bei der CDU)

Solange Sie als Sozialministerin einem Kabinett angehören, in dem Sie zustimmen, dass Grundstücksund Aktienspekulanten in Deutschland nicht angemessen besteuert werden

(Unruhe bei der CDU)

und das Land Niedersachsen dadurch nachweislich in jedem Jahr 25 Millionen Euro verliert, können Sie hier nicht glaubwürdig sagen, dass Sie den Blinden das Landesblindengeld streichen müssten, weil kein Geld da sei, meine Damen und Herren.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Ich kann gut damit leben, dass Sie behaupten, ich würde den Sozialstaat mit Füßen treten. Ich weiß nicht, woher Sie diese Erkenntnis nehmen, aber mich belastet das nicht. Sie sollte es aber belasten, was der Blindenverband über diese Sozialministerin sagt, die heute im Kabinett sitzt. Ich lese es Ihnen noch einmal vor, weil Sie das, was ich Ihnen gestern vorgelesen habe, anscheinend schon wieder vergessen haben. Er schreibt:

„Es entsetzt uns und macht ohnmächtig, mit ansehen zu müssen, wie eine Sozialministerin die ihrem Arbeitsbereich anvertraute Gruppe Blinder eiskalt und berechnend so verheerenden Folgen ausliefert.“

Das ist das Bild, das Sie, Frau von der Leyen, in der Öffentlichkeit abgeben.

(Starker Beifall bei der SPD)

Das Wort hat der Kollege McAllister.

(Axel Plaue [SPD]: Der braucht wohl ein Sauerstoffzelt! - Werner Buß [SPD]: Ganz schön blass um die Na- se!)