Protokoll der Sitzung vom 14.05.2003

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 70 Jahren wurden in vielen deutschen Städten Bücher von Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Erich Kästner und vielen anderen weltweit geachteten und verehrten, aber auch weniger bekannten Schriftstellern öffentlich verbrannt. Auch bei uns, hier in Hannover, wurden am 10. Mai an der Bismarcksäule auf dem Gebiet des heutigen Maschsees tausende Bücher den Flammen übergeben.

Die Verbrennungen gehörten zum Programm der Nationalsozialisten, die nach ihrer Machtergreifung am 30. Januar 1933 ihren Einfluss auf die Hochschulen, Bildungseinrichtungen und die Kultur ausdehnen und sie ihrer Ideologie gefügig machen wollten.

Es war wohl einer der perfidesten Angriffe auf die kulturelle und geistige Freiheit, die jemals in unserem Land stattgefunden haben. Dieser Wahnsinn wurde jedoch nicht allein von den tumben, fanatisierten Braunhemden der SA vollzogen, nein, die Wahrheit ist - ich meine, sie muss ausgesprochen werden -, dass sich daran auch tausende von Professoren, Lehrern und Studenten aktiv beteiligten.

Von Erich Kästner haben wir einen ergreifenden Augenzeugenbericht von diesem grauenhaften Geschehen. Er musste damals mit ansehen, wie seine eigenen Bücher verbrannt wurden.

Was Heinrich Heine mehr als 100 Jahre zuvor auf den Punkt gebracht hatte, wurde erschreckende Wirklichkeit:

„Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“,

hatte er gesagt. Seine Vorahnung war leider richtig und wurde in Auschwitz, Theresienstadt und Majdanek nur wenig später grausame Realität.

Der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa hat es einmal so gesagt:

„Die Freiheit spürt nicht, wer niemals unter Zwang gelebt hat.“

Diese Freiheit, die die meisten Menschen auf dieser Erde nicht kennen - was viele Deutsche manchmal vergessen -, zu bewahren und sie auch in schwierigen Zeiten zu verteidigen, scheint mir das Vermächtnis dieses 10. Mai 1933 an uns alle zu sein. Wir sollten dies nie vergessen!

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie jetzt, sich von Ihren Plätzen zu erheben. - Mit Bestürzung haben wir alle die Nachricht vom Busunglück in Siofok in Ungarn am vergangenen Donnerstag entgegengenommen. 33 Menschen - davon elf aus Niedersachsen - sind ums Leben gekommen. Sieben Personen sind zum Teil lebensgefährlich verletzt.

Bereits am vergangenen Sonntag fand in Siofok eine ökumenische Trauerfeier statt, bei der das Land von Herrn Innenminister Schünemann vertreten wurde. Im Laufe des heutigen Tages sollen die sterblichen Überreste der Opfer nach Deutschland übergeführt werden.

Der Tod, mit dem wir hier konfrontiert sind, ist besonders grausam, weil er so plötzlich gekommen ist. Völlig unerwartet, mitten im Urlaub haben hier Familien ihre Angehörigen verloren, und Kinder sind über Nacht zu Waisen geworden.

Im Namen des Landtages möchte ich den Angehörigen der Unfallopfer unser tiefes Mitgefühl aussprechen. Unsere Gedanken sind bei den Toten und ihren Familien. In Stille wollen wir ihrer gedenken.

Meine Damen und Herren, am 15. März 2003 verstarb im Alter von 92 Jahren der ehemalige Landtagsabgeordnete Gerhard Kowala. Herr Kowala gehörte dem Niedersächsischen Landtag in der 4. Wahlperiode als Mitglied des Gesamtdeutschen Blocks/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten der GB/BHE/FDP-Fraktion an. In dieser Zeit war er in verschiedenen Ausschüssen tätig und von 1965 bis 1983 Mitglied des Staatsgerichtshofs. Für seine Verdienste wurde Herr Kowala das Verdienstkreuz am Bande des Niedersächsischen Verdienstordens verliehen. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. - Ich danke Ihnen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf die Beschlussfähigkeit des Hauses feststellen.

Abweichend von der Tagesordnung sind die Fraktionen übereingekommen, den für Donnerstag vorgesehenen Tagesordnungspunkt 38 - Chancen für eine multifunktionale Landwirtschaft nicht verspielen - Position der EU rechtzeitig deutlich ma

chen heute zusammen mit Tagesordnungspunkt 21 zu behandeln. Der für Freitag vorgesehene Tagesordnungspunkt 41 - Keine Alleingänge des Landwirtschaftsministeriums - Verwaltungsreform aus einem Guss - soll morgen unmittelbar nach der Mittagspause, d. h. vor den Punkten 29 und 30 behandelt werden. Zu Tagesordnungspunkt 32 - Abschaffung der Zweckentfremdungsverordnung - haben die antragstellenden Fraktionen den Antrag auf erste Beratung im Plenum zurückgezogen, sodass dieser Antrag nur an die Ausschüsse überwiesen werden muss.

Für die Aktuelle Stunde liegen vier Beratungsgegenstände vor.

Es liegen drei Dringliche Anfragen vor, die morgen früh ab 9 Uhr beantwortet werden.

Im Ältestenrat sind für die Beratung einzelner Punkte bestimmte Redezeiten gemäß § 71 unserer Geschäftsordnung vereinbart worden. Diese pauschalen Redezeiten sind den Fraktionen und den Abgeordneten bekannt; sie werden nach dem im Ältestenrat vereinbarten Verteilerschlüssel aufgeteilt. Ich gehe davon aus, dass die vom Ältestenrat vorgeschlagenen Regelungen für die Beratungen verbindlich sind und darüber nicht mehr bei jedem Punkt abgestimmt wird. - Ich stelle fest, dass das Haus mit diesem Verfahren einverstanden ist.

Die heutige Sitzung soll gegen 20.10 Uhr enden.

Meine Damen und Herren, ich möchte Sie noch auf eine Veranstaltung hinweisen. In der Wandelhalle ist die Ausstellung prämierter Wettbewerbsarbeiten des Ideen- und Realisierungswettbewerbs „Neugestaltung der Gedenkstätte Bergen-Belsen“ zu sehen, die in der Verantwortung des Staatlichen Baumanagements Celle entstanden ist. Ich empfehle diese Ausstellung Ihrer Aufmerksamkeit.

An die rechtzeitige Rückgabe der Reden an den Stenografischen Dienst bis morgen Mittag, 12 Uhr, darf ich erinnern.

Es folgen nun geschäftliche Mitteilungen durch die Schriftführerin Saalmann.

Entschuldigt haben sich von der Landesregierung der Minister für Inneres und Sport, Herr Schünemann, von der Fraktion der CDU Frau Klopp und von der Fraktion der SPD Frau Dr. Andretta.

Vielen Dank. - Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir treten nun in die Tagesordnung ein. Ich rufe die Punkte 1 bis 5 der Tagesordnung auf, die vereinbarungsgemäß zusammen beraten werden sollen:

Tagesordnungspunkt 1: Abgabe einer Regierungserklärung zur Schulpolitik

Tagesordnungspunkt 2: Erste Beratung: Durchlässigkeit erhalten und ausbauen individuelle Schulzeitverkürzung erleichtern - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 15/117

Tagesordnungspunkt 3: Erste Beratung: Landesprogramm zur Stärkung der Hauptschule mit Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen fortsetzen - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 15/121

Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung: Qualität der Grundschule festigen und steigern - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 15/122

Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung: Qualitätssicherung im Schulwesen durch Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten und Abschlussprüfungen - Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP - Drs. 15/138

Zur Abgabe einer Regierungserklärung zur Schulpolitik hat nun der Kultusminister das Wort. Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schulund Bildungspolitik gehören zu den originären Aufgaben unseres Landes und haben die Wahlentscheidung unserer Bürger am 2. Februar nachweislich in erheblichem Maße beeinflusst. Sie haben in Kenntnis der Programmatik mit großer Mehrheit einer neuen Landesregierung die Verantwortung übertragen und damit die Weichen für einen Wechsel gestellt. Dieser Wechsel - das wissen wir nicht erst seit heute - war gerade im Bildungsbereich angesichts eines chaotischen Schulgesetzes und einer desolaten Unterrichtsversorgung dringend notwendig.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir sind gefordert, diesen Wählerauftrag in schulpolitisches Handeln umzusetzen. Die neue Landesregierung stellt sich dieser Herausforderung und setzt deshalb - Sie konnten dies in den letzten Wochen und Monaten bereits an vielen Stellen erfahren - einen besonderen Schwerpunkt in der Schulund Bildungspolitik.

Wir wissen: Schule kann nur dann Erfolg haben, wenn der vorgesehene Unterricht wirklich erteilt wird. Eine gute Unterrichtsversorgung ist zwar nicht alles, aber ohne eine gute Unterrichtsversorgung ist alles nichts an den Schulen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Die Sicherung der Unterrichtsversorgung und die damit verbundene notwendige Lehrereinstellung bilden das unverzichtbare Fundament für eine gute Schule, die die Zukunftschancen unserer Kinder und Jugendlichen sichert.

Eltern, Schüler, Lehrkräfte, insbesondere auch die Junglehrer, ja eigentlich die ganze niedersächsische Öffentlichkeit wollen in diesen Tagen von der neuen Landesregierung Klarheit über die Unterrichtssituation an unseren Schulen und die damit verbundenen Lehrereinstellungen haben. Für diese Klarheit, aber auch Berechenbarkeit mit Bezug auf die nächsten Jahre möchte ich mit der heutigen Regierungserklärung sorgen.

Wir übernehmen gerade im Bereich der Schul- und Bildungspolitik ein schweres Erbe. Im PISALändervergleich hat unser Bundesland nach 13 Jahren sozialdemokratischer Landesregierung

völlig unzureichend abgeschnitten. Unter 14 untersuchten Bundesländern lag Niedersachsen bei den 15-Jährigen in der „Königsdisziplin“, der Lesekompetenz, auf dem 10. Platz. Im Bereich der mathematischen und der naturwissenschaftlichen Grundbildung finden wir uns sogar nur auf dem 11. Platz wieder. Meine Damen und Herren, ich finde, das ist ein beschämendes Bild. Dabei darf es nicht bleiben.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Die sozialdemokratische Vorgängerregierung hat es nicht verstanden, auf die für jedermann sichtbar steigenden Schülerzahlen mit der Bereitstellung entsprechender zusätzlicher Lehrerstellen zu reagieren. Bei kontinuierlich steigenden Schülerzahlen gab es ein ständiges Auf und Ab: 2 500 zusätzliche Stellen zwischen 1990 und 1994, 2 300 gestrichene Stellen - man achte darauf - trotz steigender Schülerzahlen zwischen 1995 und 1997, 2000 dann wieder 2 200 zusätzliche Lehrerstellen bei wachsenden Schülerzahlen rund um das Thema Verlässliche Grundschule sowie das eine oder andere zusätzlich. Das war keine Kontinuität, sondern alles Flickschusterei. Die Unterrichtssituation war nicht sauber und berechenbar.

Das Ergebnis: Der einzelne Schüler hat an einer allgemein bildenden Schule heute im Durchschnitt fast 10 % weniger Unterricht als zu Zeiten der letzten CDU-geführten Landesregierung. Auf die einzelne Lehrkraft kommen heute fast 20 % mehr Schüler als damals. Die Unterrichtsversorgung war zu Beginn des laufenden Schuljahres an der untersten Grenze des Zumutbaren für Schüler, Eltern und Lehrkräfte angekommen. Der hohe Standard der beruflichen Bildung in Niedersachsen, der ja auch zu den wichtigsten Standortfaktoren des Landes gehört, war gefährdet.

Ich will nun auf die Ausgangslage eingehen. Für die Herausforderungen der Zukunft war keinerlei Vorsorge getroffen worden: Durch die noch steigenden Schülerzahlen, die Einführung weiterer Verlässlicher Grundschulen und durch den verpflichtenden Englischunterricht ergibt sich ein Zusatzbedarf von fast 500 Lehrkräften. Bisher ist dafür aber keine zusätzliche Stelle im Haushalt ausgewiesen.

Die Schülerzahlen an den berufsbildenden Schulen steigen weiter deutlich an. Es wird so sein, dass durch die Lage auf dem Arbeitsmarkt und durch

Ausbildungsplatzmangel die Vollzeitbildungsgänge noch mehr nachgefragt werden. Es war aber keine einzige zusätzliche Lehrerstelle für den berufsbildenden Bereich vorgesehen.

Am schwersten wiegt aber die Vorbelastung durch die so genannten November-Lehrer. Diese von der Vorgängerregierung in der heißen Wahlkampfphase eingestellten 700 Lehrkräfte waren nur übergangsweise für sage und schreibe zwei Monate im Haushalt 2002 abgesichert. Für das laufende Haushaltsjahr 2003 waren von der Vorgängerregierung überhaupt keine zusätzlichen Mittel vorgesehen, sodass diese 700 Stellen quasi in der Luft hängen. Ich halte auch dies für ein unverantwortliches Vorgehen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir haben diese Situation vorgefunden und werden nun versuchen, das Beste daraus zu machen.