Protokoll der Sitzung vom 25.06.2003

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wer behauptet, wir würden mit diesem Gesetz zum gegliederten Schulwesen zurückkehren, hat unser niedersächsisches Schul- und Bildungswesen tagespolitisch und auch historisch überhaupt nicht verstanden. Wir haben in Niedersachsen seit eh und je ein gegliedertes Schulwesen, dem selbst die SPD-Opposition in einer ihrer ersten Anfrage vor wenigen Wochen eine besonders hohe Durchlässigkeit bescheinigt. - Womit haben Sie also Probleme?

(Zuruf von der SPD: Was?)

In der ersten Anfrage im April-Plenum hatten Sie dazu einen Antrag vorgelegt und waren von der Durchlässigkeit begeistert.

Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz bauen wir das bewährte gegliederte Schulsystem aus. Wir stärken und fördern es bewusst und nachdrücklich. Wir orientieren uns dabei an den PISASiegerländern.

(Lachen bei der SPD - Glocke des Präsidenten)

Auch wenn Sie das nicht hören wollen: In Deutschland sind die Bundesländer BadenWürttemberg, Bayern und Sachsen bildungspolitisch nachweislich führend mit den eindeutig besten Ergebnissen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zuruf von den GRÜNEN)

- Halten Sie mal die Luft an! - Diese Erfolge beinhalten gute schulische Leistungen, aber auch eine hohe soziale Integration, wie sie nachweislich in Baden-Württemberg und Bayern vorbildlich geleistet wird.

(Zuruf von der SPD: Im Gegenteil!)

Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Ich weiß nicht, warum Herr Gabriel heute nicht da ist. Vielleicht wollte er sich das alles nicht antun. Aber ich möchte Herrn Gabriel aus der Braunschweiger Zeitung vom 29. April 2003 zitieren. Er sagte:

„Es muss einen auch nachdenklich stimmen, dass Baden-Württemberg mit dem dreigliedrigen Schulsystem im Leistungsvergleich die besten Ergebnisse und zugleich die geringste soziale Selektivität in Deutschland hat.“

Wenn Gabriel schon nachdenkt, dann könnten Sie das vielleicht auch in der gesamten Fraktion tun.

(Beifall und Heiterkeit bei der CDU und bei der FDP)

Wo er Recht hat, hat er Recht. Ich sage Ihnen: Einsicht ist gefragt, nicht Klassenkampf! Wir können und müssen sicherlich von anderen Ländern lernen. Aber wir dürfen nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, wenn es um höchst unterschiedliche Bildungssysteme mit unterschiedlichsten Voraussetzungen geht. So verfügt Finnland - extrem dünn besiedelt und mit einem zu vernachlässigenden Ausländeranteil - über ein höchst binnendifferenziertes Schulsystem und eine rigorose Hochschulzulassung. Die japanischen und südkoreanischen Verhältnisse sind noch etwas anders zu beleuchten. - Es fordert übrigens niemand, dass wir das für Niedersachsen übernehmen sollen. Frau Harms, ich schätze Finnland außerordentlich, aber legen Sie doch einmal durchgerechnete Anträge vor, um das finnische Bildungssystem auf Niedersachsen zu übertragen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich habe den Eindruck, dass das fast eine Alibidiskussion ist, weil Sie seit Jahr und Tag gar nicht wissen, was Sie für Niedersachsen anbieten sollen.

Meine Damen und Herren, niemand hat in der Diskussion die wissenschaftliche Weisheit für sich gepachtet.

(Zuruf von der SPD: Sie auch nicht!)

Wir alle sollten uns zu Herzen nehmen, was uns Prof. Baumert und andere leitende Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in einem Leserbrief der Welt vom 2. April 2003 ins Stammbuch geschrieben haben. Ich zitiere:

„Die Gestaltung der Schulstruktur ist bis heute in erster Linie eine Frage der Tradition und der politischen Präferenz. Sie ist nicht allein mit dem Hinweis auf wissenschaftliche Ergebnisse entscheidbar - weder in die eine noch in die andere Richtung.“

Das gehört zur Seriosität und zur Ehrlichkeit auch dazu.

(Wolfgang Jüttner [SPD]: Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu!)

Jeder möge sein Land aus der jeweiligen Situation weiterentwickeln und nach vorne führen, und nicht mit Modellen und Ideologie von da oder dort etwas klären. Das versuchen Sie ja dauernd.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, wir sehen den Reformbedarf in unserem Schulwesen, und wir handeln danach. Wir setzen auf ein modernisiertes und zukunftsfähiges gegliedertes Schulwesen, dessen Reformnotwendigkeit, aber auch gerade Reformfähigkeit wir nachdrücklich sehen. Wir treffen mit diesem zur Abstimmung vorliegenden Gesetzesentwurf notwendige und unverzichtbare Richtungsentscheidungen zum Wohle der jungen Generation. Wir haben durch die Anhörung und die öffentliche Diskussion zusätzliche Erkenntnisse gewonnen und viele Verbesserungsvorschläge aufgenommen, sodass wir heute in jeglicher Hinsicht ein optimiertes Gesetz – das klang durchaus anerkennend an - verabschieden können. Wenn Sie das selbst noch nicht so nachvollziehen können, schauen Sie sich in diesen Tagen die Landespresse an. Ich würde sagen, wir liegen mit unserem Gesetzentwurf insgesamt richtig.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Lassen Sie mich noch einmal etwas zu den Inhalten sagen: Wir setzen auf ein bildungspolitisches Gesamtkonzept, welches auch vorschulische Bildung und Erziehung einbezieht und fördert. Das wird dadurch deutlich, dass wir die Zusammenarbeit zwischen Schule und Kindergarten nachdrücklich gesetzlich verankern. Den Aufgabenbereich Kindertagesstätten haben wir ins Kultusministerium geholt, um entsprechend schlagkräftig und handlungsfähig zu sein. Die Grundschule wollen wir als Bildungsfundament – mit neuen

Inhalten und erweiterter Verantwortung - nachhaltig stärken. Der Erlass über die Schullaufbahnempfehlung geht demnächst in die Anhörung. Ein umfassender neuer Grundschulerlass folgt zum Schuljahresbeginn 2004.

Die Bildungsaufträge der weiterführenden Schulen werden durch die vorgesehene Gesetzesänderung neu formuliert. Wir dokumentieren damit eine stärkere Profilierung der einzelnen Schulformen und stärken ihre Leistungsfähigkeit.

In den bald folgenden Grundsatzerlassen über die Arbeit an den einzelnen Schulformen wird diese Profilierung ihre besondere Ausprägung erfahren. Dies bedeutet nicht, dass eine pädagogische Zusammenarbeit zwischen den Schulformen unerwünscht sei. Im Gegenteil: Das Gesetz lässt eine organisatorische und pädagogische Zusammenarbeit ausdrücklich zu, wenn es etwa um zusammengefasste Hauptschulen und Realschulen geht. Herr Gabriel hat ja hier jahrelang nach einem passenden Weg gegrübelt, dann ist bei ihm leider die Förderstufe rausgekommen. Bei uns wird es ein gutes Gesetz, in dem wir diese Problematik durchaus zukunftsweisend regeln.

(Beifall bei der CDU)

Wir stärken nachdrücklich die Schulformen des gegliederten Schulwesens: die Hauptschule, die als Restschule diffamiert und abgeschoben war, die Realschule im Realschulland Niedersachsen, die von der SPD als selbstständige Schulform schon gar nicht mehr vorgesehen war, und das Gymnasium, dem jegliche Entwicklungschance fehlte. Neben den Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien wird es keine weiteren Gesamtschulen geben.

(Heinrich Aller [SPD]: Warum denn nicht?)

- Aus mehreren Gründen. Angesichts des prognostizierten Rückgangs der Schülerzahlen ginge die Einführung weiterer Gesamtschulen notwendigerweise zulasten bestehender anderer Schulen.

(Walter Meinhold [SPD]: Das nennt man Wettbewerb!)

- Herr Meinhold, wir haben uns bewusst dafür entschieden, der weit überwiegenden Mehrheit der Elternschaft den Vorrang zu geben, die auch in Zukunft die Möglichkeit haben will, ihre Kinder Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien in erreichbarer Entfernung besuchen zu lassen.

An einer bestimmten Stelle haben wir uns ja auch bewegt: Bestehende Gesamtschulen können ihre Arbeit fortsetzen. Ich hatte seinerzeit angekündigt, dass ich diesen eine faire Chance geben werde, sich dem Wettbewerb der Schulen - darum geht es – zu stellen. Der Gesetzentwurf stellt die Weichen dafür, dass den Gesamtschulen auch künftig ihre Arbeitsgrundlagen gesichert bleiben. Ihnen sollen im Rahmen der örtlichen Bedingungen notwendige und sinnvolle pädagogische und organisatorische Weiterentwicklungen ermöglicht werden. An Integrierten Gesamtschulen und nach Schuljahrgängen organisierten Kooperativen Gesamtschulen wird grundsätzlich das Abitur nach 13 Schuljahren erworben. Für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler dieser Schulformen werden wir den Schulen aber die Möglichkeit einräumen, durch besondere pädagogische Angebote eine individuelle Schulzeitverkürzung anzubieten. Für nach Schulformen gegliederte Kooperative Gesamtschulen gilt das Abitur nach zwölf Jahren. Ich bin froh und dankbar darüber, dass wir mit dem Abitur nach zwölf Schuljahren an Gymnasien und Gesamtschulen eine überfällige Entscheidung treffen, die von sieben anderen Bundesländern schon konsequent umgesetzt wurde und zum Standard in allen Bundesländern werden wird. Mit der Verkürzung der gymnasialen Schulzeit wird wertvolle Lebens- und Lernzeit gewonnen, aber auch ein Jahr im Berufsleben und damit mehr Beitragssicherheit und Beitragsgerechtigkeit in unseren sozialen Sicherungssystemen. Ich bringe Ihnen einmal ein sozialpolitisches Argument: Bevor wir über Rente mit 67 reden, sollten wir doch dafür sorgen, dass unsere junge Generation früher in den Arbeitsprozess hineinkommt.

(Beifall bei der CDU)

Wir werden die gymnasiale Oberstufe reformieren und die Wettbewerbschancen der niedersächsischen Abiturientinnen und Abiturienten weiter verbessern. Fächerübergreifendes, vernetztes und selbstständiges Denken und Lernen wird durch persönliche Schwerpunktsetzung der Schülerinnen und Schüler gefördert, Beliebigkeit dagegen zugunsten einer soliden Allgemeinbildung und unverzichtbarer Bildungsinhalte zurückgefahren.

Wir kommen dem Bedarf nach mehr gymnasialen Angeboten nach. In der Vergangenheit war klar: Willst du ein gymnasiales Angebot haben, dann musst du KGS machen. Alles andere geht nicht. Das ändert sich jetzt. Wir tragen neben dem traditionellen Gymnasium dem Bedarf durchaus Rech

nung, wenn wir sagen, wir lassen Gymnasien ohne Oberstufe oder Außenstellen von bestehenden Gymnasien verstärkt zu. Mit der Errichtung einer Außenstelle kann gerade im gymnasialen Bereich auf die Entwicklung der Schülerzahlen im Einzugsbereich flexibler reagiert werden. Für die Errichtung eines Gymnasiums ohne Oberstufe müssen aber auch folgende grundlegende Voraussetzungen erfüllt sein: Die Frage der Schulträgerschaft und damit der kommunalen Finanzierung muss geklärt sein, die notwendige Unterrichtsversorgung muss gewährleistet werden, den Qualitätsansprüchen des gymnasialen Bildungsgangs muss Rechnung getragen werden, und letztendlich darf das vorhandene Angebot gymnasialer Standorte nicht ausgedünnt und nicht gefährdet werden. Die Schulträger haben aufgrund des Gesetzes eine höchstmögliche Flexibilität. Ich bin sicher, dass sie das nutzen werden.

Mit dem Gesetzentwurf bieten wir ausdrücklich auch weitere Ganztagsmöglichkeiten an den Schulen an. Freiwilligkeit des Ganztagsangebots, die Unterstützung der Familien und der Respekt vor dem elterlichen Erziehungsrecht stehen dabei eindeutig im Vordergrund. In einem geänderten Ganztagserlass werden wir deshalb offenen Modellen den Vorzug geben, gebundene Modelle aber auf Wunsch der Eltern ermöglichen.

Für die Verteilung der Mittel der Bundesregierung für den Ausbau des Ganztagsangebotes werde ich demnächst Förderrichtlinien vorlegen. Dabei werden wir – da sind wir sicher – eine höchstmögliche Flexibilität erreichen.

Wichtig ist auch - vielleicht ein Satz dazu -, dass wir die Stellung der Schulleiterinnen und Schulleiter in der Schule stärken. Sie haben eine wichtige Aufgabe und sollen Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung betreiben. Sie sollen für das verantwortlich sein, was an der Schule geschieht. Das werden wir durch dieses Gesetz entsprechend verankern. Schulleitungen müssen nicht nur Weisungen erteilen, sondern auch Lehrkräfte im Unterricht besuchen und beraten dürfen sowie Zeugniskonferenzen leiten können.

Mit dem Gesetz wird der freie Elternwille gestärkt, ein viel diskutiertes Thema. Erstmalig wird im Gesetz der Zusammenarbeit zwischen Grundschule und Erziehungsberechtigten ausdrücklich ein hoher Stellenwert beigemessen. Deshalb ist auch die Beratungspflicht in den Gesetzentwurf aufgenommen worden, und zwar generell und nicht nur im

Zusammenhang mit der Grundschulempfehlung. Wir halten daran fest - übrigens im Gegensatz zu Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen, wo Grundschulnoten gegeben werden und entscheidend sind -: Nach der Empfehlung der Grundschule treffen die Erziehungsberechtigten die Wahl der für das Kind geeigneten Schulform in eigener Verantwortung. Wenn aber Elternentscheidungen zu einer Überforderung der Kinder durch falsche Schulformwahl führen, müssen Kinder vor Scheitern, vor Lernunlust oder gar völligem Schulversagen geschützt werden.

(Beifall bei der CDU)

Wir haben aus der Anhörung im Kultusausschuss aufgenommen, dass angesichts der pädagogischen und entwicklungsspezifischen Herausforderungen gerade des 5. und 6. Schuljahrgangs eine mögliche Korrektur der Elternentscheidung erst nach Klasse 6 erfolgen soll. Ich will es in diesem Zusammenhang wiederholen: Die Überweisung an die Schule einer anderen Schulform ist kein Automatismus, wie gerne verbreitet wird. Ich werde auch kein Nullachtfünfzehn-Verfahren dulden. Von den Lehrerinnen und Lehrern muss in jedem Einzelfall geprüft werden, welche Lösung für das Kind die jeweils richtige ist.

Neben der Freiheit des Elternwillens ist die Durchlässigkeit des Schulwesens in dieser Schulreform von zentraler Bedeutung. Ich begrüße es ausdrücklich, dass erstmals das Prinzip der Durchlässigkeit im Gesetz festgeschrieben wird. Den Rechtsanspruch auf Wechsel der Schulform bei entsprechenden guten schulischen Leistungen werden wir durch eine dem Kultusausschuss bereits vorliegende Verordnung umsetzen. Diese wird - wie andere Verordnungsentwürfe - unmittelbar nach Verabschiedung der Veränderungsnovelle bereits in Kürze in die Anhörung gehen.

Meine Damen und Herren, wir haben lange und oft darüber diskutiert, wie wir mit denjenigen Schülerinnen und Schülern umgehen sollen, die in wenigen Wochen dann letztmalig in die Orientierungsstufe eintreten. Wir haben uns für einen klaren Schnitt entschieden. Das Aus für die Orientierungsstufe erfolgt einheitlich zum Schuljahresbeginn im August 2004. Deshalb bleiben diese Schülerinnen und Schüler nur noch ein Jahr in der Orientierungsstufe, um dann auf der Grundlage einer Empfehlung in die weiterführende Schulform zu wechseln. Um eine Chancengleichheit zu gewährleisten, wird auch diesen Schülerinnen und