Protokoll der Sitzung vom 23.06.2006

1. Vertreten die niedersächsischen Wohlfahrtsverbände in Gesprächen mit der Landesregierung entsprechende oder ähnliche Thesen? Wenn ja, welche?

2. Wie beurteilt die Landesregierung die Forderungen der Wohlfahrtsverbände?

3. Welche Entwicklungschancen sieht die Landesregierung für Hartz IV in Niedersachsen?

Danke schön. - Für die Landesregierung antwortet Frau Ministerin Ross-Luttmann. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Artikel der Financial Times vom 18. Mai 2006, auf den die Kleine Anfrage Bezug nimmt, geht auf eine persönliche Erklärung zurück. Diese persönliche Erklärung haben die Präsidenten der kommunalen Spitzenverbände, ihre geschäftsführenden Präsidialmitglieder sowie der Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, der Bundesgeschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt, der Präsident der Diakonie und der Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes unterzeichnet. Die Unterzeichner haben dabei folgende wesentliche Thesen vertreten:

Eine grundlegende Revision des SGB II muss darauf ausgerichtet werden, die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zurückzuführen und verstärkt Erfolge der Wiedereingliederung zu erzielen.

Die Überarbeitung der gesetzlichen Grundlagen muss dem Ziel dienen, personelle und finanzielle Ressourcen für die notwendigen aktivierenden Hilfen zu sichern.

Eine Senkung passiver Leistungen ist notwendig, um ein dauerhaft tragfähiges und finanzierbares Leistungssystem zu erhalten.

Die persönliche Erklärung macht deutlich, dass quer durch alle Interessen- und Bevölkerungsgruppen eines ganz deutlich gesehen wird: Die Entscheidung, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen, war richtig, ebenso der Ansatz des Förderns und Forderns. Allerdings ist die Zeit zu kurz, als dass sich diese neue Hilfe schon bewähren konnte. Die derzeitige Entwicklung beim SGB II stellt die Reform am Arbeitsmarkt aber in einigen Punkten infrage.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Kleine Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1: Die Unterzeichner der persönlichen Erklärung sind Vertreter der entsprechenden Bundesorganisationen. Vergleichbare Äußerungen der niedersächsischen Organisationen sind mir nicht bekannt.

Zu 2: Die Landesregierung teilt die Sorge über die ausbleibenden Erfolge bei der Wiedereingliederung in Arbeit. Das System des SGB II wird tatsächlich überfordert, wenn es als laufende Aufstockung defizitärer Erwerbseinkommen herhalten

soll. Wir werden es uns nicht leisten können, einen so großen Personenkreis in einem System ergänzender Sozialleistungen zu halten. Und wir wollen das auch nicht! Wir sehen es weiterhin als unser politisches Ziel, die Menschen unabhängig von Sozialleistungen zu machen.

(Beifall bei der CDU)

Das heißt auch, sie dabei zu unterstützen, eine Arbeit zu finden, die ihre Existenz sichert. Neben mehr Arbeitsplätzen ist ein wichtiger Baustein der Kombilohn, ein Instrument, mit dem nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit gefördert wird.

Zu 3: Zur Entwicklung und effektiveren Gestaltung des SGB II bedarf es eines gemeinsamen Vorgehens des Bundes, der Länder und der Kommunen. Ziel muss dabei u. a. sein:

Erstens. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende muss in ihrem Charakter als vorübergehende Hilfe entwickelt werden. Dabei ist der Aspekt der Aktivierung im Verwaltungsvollzug entschieden zu stärken.

Zweitens. Die sachgerechte Erledigung der Aufgaben des SGB II erfordert klare Verantwortlichkeiten, Steuerungs- und Handlungsmöglichkeiten sowie eine zweifelsfreie statistische Datenlage.

Drittens. Die Schnittstellenprobleme bei der Berufsberatung und Ausbildungsstellenvermittlung für ALG-II-Empfänger, bei der beruflichen Rehabilitation und den Leistungen für stationär untergebrachte Personen müssen im Sinne einer klaren Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit gelöst werden. An der Verwirklichung dieser Ziele wird die Niedersächsische Landesregierung konstruktiv im Bundesrat und in Arbeitsgruppen mitarbeiten.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Danke schön. - Eine Zusatzfrage stellt die Kollegin Frau Prüssner.

Frau Ministerin, ein Ziel von Hartz IV war es ja, den Bürokratieabbau voranzubringen. Inwieweit sehen Sie dieses Ziel erreicht?

Danke schön. - Frau Ministerin!

Niedersachsen hat sich immer sehr deutlich für klare Zuständigkeiten ausgesprochen. Es hat sich auch dafür ausgesprochen, dass Finanzverantwortung und Handlungsverantwortung in einer Hand bleiben. Wir haben, jedenfalls in der Anfangsphase, beobachten können, dass der Abstimmungsbedarf in den ARGEn sehr hoch war bzw. dass sich der Aufbau ihrer eigenen Organisation teilweise sehr schwierig gestaltet und eine lange Zeit in Anspruch genommen hat, worunter dann ihre Hauptaufgabe, nämlich Menschen in Arbeit zu bringen, ein wenig gelitten hat. Aber noch einmal: Niedersachsen hat sich ganz klar für klare Zuständigkeiten, möglichst in einer Hand, ausgesprochen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Danke schön. - Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.

Ich rufe auf

Frage 3: Amigo-Wirtschaft im Justizministerium? Welche Rolle spielt der JustizStaatssekretär?

Die Frage wird gestellt von der SPD-Fraktion. Herr Kollege Plaue, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Weser-Kurier berichtet in seiner Ausgabe vom 8. Juni 2006 über Vorgänge im Zusammenhang mit der Besetzung der Stelle des Präsidenten des Verwaltungsgerichts Hannover, die laut Weser-Kurier den Verdacht aufkommen lassen, dass der Justiz-Staatssekretär einem alten Freund einen einflussreichen Posten zuschanzen wollte. Der Bewerber, ein Verwaltungsgerichtspräsident aus Sachsen-Anhalt, glaubte nach dem Gespräch mit dem Staatssekretär, den frei werdenden Stuhl des Präsidenten des Verwaltungsgerichts Hannover bereits sicher zu haben, und zog mit seiner Familie nach Hannover. Als die Landesregierung während des laufenden Auswahlverfah

rens den Bewerberkreis nachträglich auf Bewerbungen aus Niedersachsen eingeschränkt hatte,

(Dr. Harald Noack [CDU]: Aha, also doch nicht „Amigo“!)

zog der Bewerber aus Sachsen-Anhalt vor Gericht.

Am 22. November 2005 hat der Bewerber aus Sachsen-Anhalt bei dem Verwaltungsgericht Hannover um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. In dem erstinstanzlichen Verfahren hat er eine eigene eidesstattliche Versicherung vom 17. November 2005 vorgelegt. Die Landesregierung hat ihrerseits eine dienstliche Erklärung des Staatssekretärs vom 28. November 2005 zu den Gerichtsakten gereicht. Beide Dokumente haben u. a. den Inhalt des im Jahre 2004 geführten Telefongesprächs zum Gegenstand. Im Beschluss 5 ME 31/06 des OVG Lüneburg vom 9. Mai 2005 wird in dieser Angelegenheit Folgendes ausgeführt:

„Der Sachverhaltsdarstellung des Antragstellers, die dieser durch eine eidesstattliche Versicherung vom 29. Januar 2006 bekräftigt hat, ist zu entnehmen, dass ihm durch den Staatssekretär bedeutet worden ist, dass seine, des Antragstellers, Bewerbung, soweit es in der Zuständigkeit des Ministeriums liege, nicht daran scheitern werde, dass er sich aus einem fremden Bundesland bewerbe. Allerdings wird diese Sachverhaltsdarstellung durch die dienstliche Erklärung des Staatssekretärs vom 28. November 2005 nicht bestätigt, weil der Staatssekretär verbindliche Aussagen zu den von dem Antragsteller angeführten Gesprächsthemen in Abrede stellt. Der Senat legt aber für die in diesem Eilverfahren zu treffende Entscheidung das Vorbringen des Antragstellers zugrunde. Hierbei berücksichtigt der Senat, dass der Antragsteller eine nach den §§ 156, 163 StGB strafbewehrte eidesstattliche Versicherung abgegeben hat und sich - insbesondere als Präsident eines Verwaltungsgerichts der Bedeutung einer derartigen Versicherung bewusst sein muss.“

- Jetzt können Sie wieder „Aha“ dazwischenrufen!

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

1. Welche Kontakte gab es zwischen dem JustizStaatssekretär und dem Bewerber aus SachsenAnhalt bzw. seiner Ehefrau im Vorfeld der Bewerbung, wann haben sie stattgefunden, und welchen Inhalt hatten diese Gespräche?

2. Was hat die Landesregierung bewogen, die Ausschreibung nachträglich auf Bewerber aus Niedersachsen zu beschränken, und wie ist die ursprüngliche Ausschreibung mit dem damals ausnahmslos verhängten Einstellungsstopp zu vereinbaren?

3. Wie bewertet die Landesregierung den Widerspruch zwischen der dienstlichen Erklärung des Staatssekretärs und der eidesstattlichen Versicherung des Bewerbers aus Sachsen-Anhalt über das zwischen ihnen geführte Gespräch, und welche dienst- und strafrechtlichen Konsequenzen müssen die Beteiligten befürchten, wenn sich die Unwahrheit ihrer Einlassungen herausstellt?

(Beifall bei der SPD)

Danke schön, Herr Plaue. - Für die Landesregierung Frau Justizministerin Heister-Neumann! Sie haben das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben im September 2004 die Stelle der Präsidentin oder des Präsidenten des Verwaltungsgerichts Hannover ausgeschrieben. In dem Verfahren zur Besetzung dieser Stelle hat ein Versetzungsbewerber aus SachsenAnhalt mit niedersächsischen Beförderungsbewerbern konkurriert.

Die unter dem 15. September 2004 in der Niedersächsischen Rechtspflege und unter dem 29. September 2004 im Niedersächsischen Ministerialblatt vorgenommene Ausschreibung ist ohne jegliche Einschränkung erfolgt. Hiervon strikt zu trennen ist die Frage, ob die ausgeschriebene Stelle entweder durch eine Beförderung oder aber durch die Versetzung eines im gleichen Statusamt befindlichen Versetzungsbewerbers zu besetzen ist.

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in seinem Beschluss vom 9. Mai 2006 ausdrücklich bestätigt, dass dem Dienstherrn insoweit ein seiner Organisationshoheit folgendes Wahlrecht zukommt, das dann auch nach pflichtgemäßem Ermessen auszuüben ist. Die Frage, ob die ausgeschriebene Stelle für einen Versetzungsbewerber verwendet werden kann, betrifft das dem Dienstherrn eingeräumte Stellenbewirtschaftungsermessen.

Der Präsident des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts hat vor diesem rechtlichen Hintergrund, der im Übrigen der ständigen und von der Rechtsprechung durchgängig bestätigten Besetzungspraxis entspricht, in seinem Besetzungsbericht vom 18. Mai 2005 die Auffassung vertreten, dass der Berücksichtigung des Versetzungsbewerbers aus Sachsen-Anhalt dringende personalwirtschaftliche Gründe entgegenstünden. Dieser Auffassung hat sich das Niedersächsische Justizministerium angeschlossen und die zu treffende Auswahlentscheidung auf niedersächsische Bewerber beschränkt.

Die Geschäftsentwicklung in der niedersächsischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und damit einhergehende langfristige Stellenabbaukonzepte insbesondere für den richterlichen Dienst sowie haushaltsrechtliche Restriktionen hatten zum Zeitpunkt dieser Entscheidung zu einer deutlichen Verschlechterung der Altersstruktur in dieser Gerichtsbarkeit geführt. Vor diesem Hintergrund bestand das personalwirtschaftliche Ziel, Neueinstellungen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ausschließlich für die Gewinnung lebensjüngerer Kräfte zu nutzen. Zugleich sollten höherwertige Stellen grundsätzlich nur mit niedersächsischen Bewerbern besetzt werden, um so in der weiteren Folge einer Beförderungsmaßnahme frei werdende R-1-Planstellen mit unseren Nachwuchskräften ausfüllen zu können. Die Beschränkung der Auswahlentscheidung auf niedersächsische Bewerber entsprach in diesem Sinne dem wohlverstandenen Interesse der niedersächsischen Justiz.

Es bestanden und es bestehen keine persönlichen oder freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem aus Sachsen-Anhalt stammenden Versetzungsbewerber und dem Staatssekretär im Justizministerium, Herrn Dr. Oehlerking. Es gab lediglich dienstliche Berührungspunkte, und zwar in der Zeit der gemeinsamen Tätigkeit beim Verwaltungsgericht in Hannover - von Mai 1982 bis 1983, ich glaube, April - und gelegentlich der Tätigkeit

von Herrn Staatssekretär Dr. Oehlerking als Abteilungsleiter im Justizministerium des Landes Sachsen-Anhalt und dem Versetzungsbewerber des Landes Sachsen-Anhalt als Präsidenten des Verwaltungsgerichts in Halle. Der Ehefrau des Bewerbers ist Staatssekretär Dr. Oehlerking erstmals im Zusammenhang mit ihrer Bewerbung um die Stelle der Direktorin bzw. des Direktors des Arbeitsgerichts in Hannover begegnet.

Anfang 2004 hat es ein Telefonat zwischen Staatssekretär Dr. Oehlerking und dem späteren Versetzungsbewerber aus Sachsen-Anhalt gegeben. Gegenstand des Telefonats waren die möglichen Bewerbungen dieses Versetzungsbewerbers und seiner Ehefrau. Einzelheiten des Gesprächs sind streitig. Hierzu liegen die eidesstattlichen Versicherungen des Versetzungsbewerbers und eine dienstliche Erklärung von Herrn Staatssekretär Dr. Oehlerking vor. Während der Versetzungsbewerber vor dem Hintergrund des Telefonats den Anspruch geltend macht, unter Leistungsgesichtspunkten in die Auswahlentscheidung einbezogen zu werden, hat Herr Staatssekretär Dr. Oehlerking in seiner dienstlichen Erklärung versichert, dass er in dem Gespräch zweifelsfrei herausgestellt habe, dass über die Besetzung der Stelle natürlich erst im Besetzungsverfahren, voraussichtlich Ende des Jahres 2004, zu entscheiden sein werde.

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat seine Entscheidung vom 9. Mai 2006 zwar auf die eidesstattliche Versicherung des Versetzungsbewerbers gestützt, zugleich, meine Damen und Herren - ich bitte Sie, das wirklich zu berücksichtigen und sich zu vergegenwärtigen -, aber auch betont, dass mit der in diesem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorgenommenen Würdigung der vorliegenden Erklärungen keine endgültige Bewertung des Wahrheitsgehalts der eidesstattlichen Versicherung des Antragstellers und der dienstlichen Erklärung des Staatssekretärs verbunden sei. Eine endgültige Klärung dieses Sachverhalts könne nur durch eine Beweisaufnahme herbeigeführt werden, die indessen einem etwaigen Hauptsacheverfahren vorbehalten bleibe.