Protokoll der Sitzung vom 16.03.2011

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hauses fest.

Geburtstag hat heute der Abgeordnete Wiard Siebels. Ich übermittle Ihnen im Namen des ganzen Hauses herzliche Glückwünsche: Gesundheit und Wohlergehen für das vor Ihnen liegende neue Lebensjahr!

(Beifall)

Tagesordnungspunkt 17: Mitteilungen des Präsidenten

Zur Tagesordnung. Wir beginnen die heutige Sitzung mit der Regierungserklärung des Herrn Ministerpräsidenten zum Thema „Konsequenzen der Katastrophenereignisse in Japan“.

Die Aussprache über die Regierungserklärung wird - entsprechend den Absprachen der Fraktionen von gestern - mit der Behandlung der Anträge zur Aktuellen Stunde, die alle ebenfalls dieses Thema betreffen, zusammengefasst.

Anschließend setzen wir die Beratungen in der Reihenfolge der Tagesordnung fort.

Die heutige Sitzung soll gegen 20.45 Uhr enden.

Bitte geben Sie Ihre Reden bis spätestens morgen Mittag, 12 Uhr, an den Stenografischen Dienst zurück.

Die mir zugegangenen Entschuldigungen teilt Ihnen nunmehr die Schriftführerin mit.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es haben sich entschuldigt von der Fraktion der CDU Frau Prüssner und von der Fraktion der SPD Frau Weddige-Degenhard.

Danke.

Vielen Dank. - Ich rufe jetzt als zusätzlichen Tagesordnungspunkt auf:

Abgabe einer Regierungserklärung zum Thema „Konsequenzen der Katastrophenereignisse in Japan - unsere Verantwortung für eine sichere, nachhaltige und wirtschaftliche Energieversorgung in Niedersachsen“ - Unterrichtung durch die Landesregierung - Drs. 16/3463

Wie soeben erwähnt, sind die Fraktionen übereingekommen, im Rahmen der Aussprache über die Regierungserklärung auch die Anträge zur Aktuellen Stunde zu behandeln, die alle ebenfalls das angesprochene Thema betreffen.

Ich rufe daher zugleich den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Aktuelle Stunde: a) Die Naturkatastrophe in Japan - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 16/3453 - b) Risikotechnologie Atomkraft ist nicht beherrschbar - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 16/3451 - c) Harrisburg - Tschernobyl - Fukushima: Daraus lernen, heißt: unverzüglicher, unumkehrbarer Ausstieg! - Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 16/3450 - d) Die Naturkatastrophe in Japan - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 16/3448 - e) Atomausstieg sofort - Ausbau der erneuerbaren Energien nicht weiter behindern! - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 16/3454

Für die Aussprache haben die Fraktionen vereinbart, dass jeder Fraktion 30 Minuten Redezeit zur Verfügung stehen. Ich will betonen, dass dann nicht, wie sonst in der Aktuellen Stunde üblich, die Fünfminutengrenze gilt, sondern die Fraktionen frei über ihr Redezeitkontingent von 30 Minuten verfügen können.

Zunächst gibt Herr Ministerpräsident McAllister die Regierungserklärung ab. Ich erteile ihm das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Nachrichten und Bilder, die uns seit fünf Tagen aus Japan erreichen, sind erschütternd. Die Menschen in Japan sind Opfer einer bislang

nicht da gewesenen Naturkatastrophe. Bis zur Stunde sind die Folgen des Erdbebens und des Tsunamis für die Japaner und die Schäden an Gebäuden und Infrastruktur kaum zu ermessen.

So wie es gestern der Herr Landtagspräsident bereits getan hat, ist es mir und der ganzen Landesregierung in diesen schweren Stunden ein besonderes Anliegen, dem japanischen Volk von ganzem Herzen unser Mitgefühl auszusprechen. Wir trauern um die Toten und bangen um das Schicksal der Vermissten.

Meine Damen und Herren, Niedersachsens Partnerpräfektur Tokushima ist 500 km südwestlich von Tokio gelegen und glücklicherweise nicht direkt betroffen. Der Tsunami war hier nur 70 cm hoch, und auch die Beben haben keine Gebäude zerstört. Die Stromversorgung ist nicht beeinträchtigt. Wir stehen seit dem Unglück in engem Kontakt mit der Präfektur und haben dem Gouverneur unsere Anteilnahme übermittelt. Er weiß, dass auch wir bereit sind, zu helfen, um unseren japanischen Freunden und Partnern beizustehen.

Noch ist das ganze Ausmaß dieser Katastrophe unklar. Einiges lässt sich aber schon jetzt mit Sicherheit feststellen: Japan hat Tausende Tote zu beklagen. Zehntausende Menschen werden vermisst, und die Hoffnung, noch Überlebende zu finden, sinkt stündlich. Unzählige Menschen haben ihr Zuhause verloren. Das Leid und die Not der betroffenen Menschen sind groß.

Meine Damen und Herren, aufgrund der Erdbeben und des Tsunamis sind die Kernkraftwerke an der japanischen Ostküste in eine dramatische Lage geraten. Die Strahlung in der Umgebung von Fukushima steigt bekanntlich besorgniserregend. Wir hoffen, ja wir beten, dass es den Experten noch gelingt, den Austritt von Radioaktivität und damit die Folgen für die Menschen zu begrenzen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Ereignisse in Japan sind eine Zäsur für die Welt. Viele sagen völlig zu Recht: Wenn schon ein Land wie Japan mit seinen sehr hohen Sicherheitsanforderungen die nuklearen Folgen eines Erdbebens und einer Flutwelle augenscheinlich nicht verhindern kann, dann können auch wir in Europa und in Deutschland mit unseren ebenfalls sehr hohen Sicherheitsstandards nicht darüber hinweggehen.

In Japan hat es sehr hohe Sicherheitsannahmen für den Bau und den Betrieb von Kernkraftwerken gegeben. Diese sind durch die Natur übertroffen worden. Das, was bislang nur in mathematischen Rechenmodellen durchgespielt wurde, das sogenannte Restrisiko, ist in Japan Realität geworden. Es ist das eingetreten, was für Kernkraftwerke in Hochtechnologieländern als nahezu ausgeschlossen galt. Das Restrisiko ist seit dem letzten Freitag nicht mehr nur eine statistische Größe, sondern eine schreckliche Tatsache.

Wir können angesichts dieser Apokalypse nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Der nukleare Notstand in den japanischen Kernkraftwerken infolge dieser Naturkatastrophe erfordert ein Innehalten und Nachdenken über das Geschehene. Beantwortet werden muss insbesondere die Frage, welche sicherheitsbezogenen Konsequenzen aus den Ereignissen in Japan für die Anlagen bei uns in Deutschland zu ziehen sind.

Wir alle sind gut beraten, dabei nicht in Aktionismus zu verfallen. Es gilt vielmehr, die Lage genau zu analysieren und dann besonnen, überlegt und entschlossen zu handeln. Die Sicherheit der Menschen hat dabei oberste Priorität. Alles - ich betone: alles - gehört auf den Prüfstand.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Die Bundesregierung hat beschlossen, die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke für drei Monate vorerst auszusetzen. Gestern haben die Bundesregierung und die fünf Ministerpräsidenten der Länder mit Kernkraftwerken sich in Berlin darauf verständigt, dass für diesen Zeitraum die sieben älteren Anlagen, die vor 1980 in Betrieb genommen wurden, für eine zusätzliche Sicherheitsüberprüfung abgeschaltet werden sollen. Dies betrifft in Niedersachsen das Kernkraftwerk Unterweser in Esenshamm. Die Vorsitzenden der fünf Landtagsfraktionen habe ich gestern Nachmittag am Rande des Plenums näher unterrichtet.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nächsten Dienstag gibt es ein weiteres Treffen im Bundeskanzleramt, wiederum mit der Bundeskanzlerin, dem Bundeswirtschaftsminister, dem Bundesumweltminister und den fünf betroffenen Ministerpräsidenten. Dann stehen weitere wichtige Fragen an, u. a. auch Sicherheitsfragen der End- und Zwischenlager. Auf dieses Thema lege ich auch persönlich großen Wert. Das sind erste wichtige Schritte.

Ich stelle fest: Die Bundesregierung nimmt die Entwicklung sehr ernst und ist bereit und entschlossen, die geplante Wende in der Energiepolitik zu beschleunigen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, ganz besonders für mich persönlich ist eines auch klar: Die Beherrschbarkeit der Kernenergie ist durch die Entwicklung in Japan nachhaltig infrage gestellt worden. Die Kernenergie hat jetzt erst recht keine wirkliche Zukunft mehr. Es bleibt daher richtig, aus dieser risikoreichen Energieform geordnet und planvoll auszusteigen und auf Energietechniken umzustellen, deren Risiken beherrschbar und kalkulierbar sind.

Aus meiner Sicht steht nun die Beantwortung der folgenden fünf Fragen auf der Tagesordnung:

Erstens. Welche Regionen sind in Deutschland in Bezug auf Erdbeben, Vulkanismus und Hochwasser besonders gefährdet?

Zweitens. Welche Reaktorlinie könnte besonders anfällig für Kernschmelzunfälle sein? Hier sollten die verschiedenen Reaktorlinien wie z. B. Siede- oder Druckwasserreaktoren und die unterschiedlichen Serien miteinander verglichen werden.

Drittens. Natürlich müssen wir auch den aktuellen Nachrüststand und den möglichen Kostenaufwand für eine weitere Nachrüstung bewerten. Hier müssen auch die aktuellen Sicherheitsanforderungen grundsätzlich auf den Prüfstand. Wenn die Nachrüstung zu teuer ist, dann kann es volkswirtschaftlich Sinn machen, die Anlage lieber vom Netz zu nehmen und das Geld in andere Energietechnik zu investieren.

Viertens. Kernschmelzunfälle können in Zukunft nicht mehr per Wahrscheinlichkeitsrechnung einfach ausgeschlossen werden. Es ist eine Tatsache, dass unsere Kernkraftwerke bislang nur die Anforderungen zur Beherrschung eines GAUs, also eines „Größten anzunehmenden Unfalls“, erfüllen mussten. Wir müssen jetzt prüfen, ob Nachrüstungen zur Beherrschung eines Kernschmelzunfalls möglich sind. Das betrifft die Herausforderungen Notstromversorgung, Schutz gegen Einwirkungen von außen und Zurückhalten einer Kernschmelze. Wenn hier keine sinnvollen Nachrüstungen möglich sind, dann ist das der wichtigste Grund, um die Anlagen abzuschalten, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Fünftens. Nach dem 11. September 2001 haben wir versucht, das Terrorismusproblem in Bezug auf unsere Kernkraftwerke zu lösen. Wesentliche Veränderungen hat es da z. B. beim Beherrschen großflächiger Kerosinbrände gegeben. In Grohnde wurde außerdem ein neues Tarnkonzept eingebaut; an den anderen Standorten laufen dazu noch die Genehmigungsverfahren. Auch die Wirksamkeit dieser Maßnahmen muss geprüft werden; denn Terrorangriffe können grundsätzlich nicht vollkommen ausgeschlossen werden.

Meine Damen und Herren, das Ziel der jetzt beginnenden zusätzlichen Überprüfungen muss sein, dass in jedem Einzelfall die Möglichkeit einer Kernschmelze ausgeschlossen werden kann oder die Anlage eben abgeschaltet werden muss. Dazu müssen die aktuellen Sicherheitsanforderungen an die neuen Erkenntnisse angepasst werden. Es muss jetzt bei jeder Anlage einzeln geprüft werden, ob sie beispielsweise in einem störanfälligen Gebiet liegt und ob die Sicherheitstechnik ausreicht, auch neue Störfallszenarien zu beherrschen. Dazu brauchen wir Zeit.

Die Überprüfung soll eine unabhängige Expertenkommission des Bundes vornehmen. Diese wird die neue Risikoanalyse der vorliegenden Erkenntnisse über die Ereignisse in Japan, insbesondere auch mit Blick auf die Sicherheit der Kühlsysteme und die externe Infrastruktur sowie andere außergewöhnliche Schadensszenarien, vornehmen. Auf der Grundlage der Ergebnisse sollen die möglichen Änderungen der Sicherheitsanforderungen beschlossen und bei den Betreibern durchgesetzt werden.

Das von der Bundesregierung beschlossene Moratorium muss jetzt genutzt werden, um diese noch offenen Fragen zu klären. Am Ende steht eine sicherheitstechnisch begründete Rangfolge von Kernkraftwerken. Die Politik wird dann entscheiden, wie schnell wir aussteigen können.

Geboten ist ein rechtlich und energiepolitisch überzeugender Weg, der die Volkswirtschaft möglichst wenig belastet, der nicht zu Versorgungsengpässen führt und der uns gleichzeitig ein möglichst schnelles und rechtssicheres Abschalten der Kernkraftwerke in Deutschland bringt.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, das ist aus meiner Sicht der nationale Weg. Die Fragen der kerntechnischen Sicherheit müssen aber logischerweise auch im europäischen und internationalen Rahmen

erörtert werden. Es bringt nichts, wenn andere Länder, deren Kernkraftwerke beispielsweise an Deutschland angrenzen, sich nicht im gleichen Maß an der Debatte um mehr Sicherheit beteiligen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Die Bundeskanzlerin hat zu Recht angekündigt, dieses Thema auch im Rat der Europäischen Union am 24. und 25. März in Brüssel und ebenso auf der Ebene der G8- und G20-Staaten intensiv zu erörtern. Das ist zielführend.