Protokoll der Sitzung vom 16.03.2011

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in den vergangenen Tagen haben Tausende von Bürgerinnen und Bürgern in ganz Niedersachsen bei Mahnwachen und spontanen Kundgebungen ihre Sorgen und ihr Mitgefühl ausgedrückt und uns damit noch einmal deutlich auf unsere Verantwortung als Politikerinnen und Politiker hingewiesen, Schaden von unserem Land und seinen Menschen abzuwenden. Wir alle - egal, ob Opposition oder Regierung - müssen uns dieser Verantwortung stellen.

Jede Entscheidung, die nun ansteht, muss sich daran messen lassen, ob sie glaubwürdig dazu beiträgt, dass sich ein atomarer Unfall wie in Japan

in Niedersachsen, in Deutschland insgesamt und auch an anderen Orten nicht wiederholt.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich finde, zu folgender Entscheidung gibt es keine verantwortungsvolle Alternative: Die Atomkraftwerke müssen alle vom Netz, und zwar unverzüglich und unumkehrbar; denn diese Technologie mit ihren nicht vollständig vorausdenkbaren Risiken und Risikokombinationen ist nicht beherrschbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Da es ja so oft heißt, abschalten ginge nicht: Das wurde schon vor dem 12. März gesagt, als es nur um die alten Meiler ging. Jetzt ist es erstaunlicherweise möglich, sieben Meiler vom Netz zu nehmen, ohne dass das Licht ausgeht. Das liegt an der in der Debatte oft unterschlagenen Tatsache, dass wir in Deutschland auch zu Spitzenlastzeiten eine Überproduktion von Strom haben und deshalb sogar Strom exportieren. Diese Energieproduktionsreserven müssen wir nun nutzen, um den kurzfristigen Ausstieg aus der Kernenergie in der Bundesrepublik zu erreichen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die AKWs Unterweser, Grohnde und Emsland müssen umgehend abgeschaltet werden. Diesen Ausstieg dürfen wir in Deutschland auch nicht unter Verweis darauf unterlassen, dass andere EU-Länder sich noch sperren, und uns hinter deren Ablehnung verstecken. Im Gegenteil: Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen, und auf diese anderen Länder muss Deutschland einwirken, um auch sie zum Ausstieg zu bewegen.

(Beifall bei der LINKEN und bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜ- NEN)

In der Endlagerfrage muss die Landesregierung endlich diejenigen ernst nehmen, die sagen, dass Gorleben kein langfristig sicheres Endlager ist und dass jede Art der Lagerung von radioaktiven Abfällen revidierbar sein muss, also Rückholbarkeit gewährleistet sein muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine weitere notwendige Entscheidung betrifft den Ausstieg aus dem EURATOM-Vertrag, in dessen Rahmen immer noch Hunderte von Millionen Euro jährlich für den Ausbau der Atomenergie ausgegeben werden. Damit muss Schluss sein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN und Zustim- mung bei der SPD)

Meine Damen und Herren, Herr Ministerpräsident, ich habe gesagt, die Debatte von heute ist eine sehr alte. Sie wird geführt, seit die technischindustrielle Moderne sichtbar und erfahrbar begonnen hat, die Lebensgrundlagen der menschlichen Gesellschaft zu bedrohen. Ich möchte daher heute einen der wichtigsten Debattenbeiträge in Deutschland zitieren, der immer noch aktuell ist. Bereits vor der Katastrophe in Tschernobyl hat der Münchener Soziologe Ulrich Beck den Begriff der Risikogesellschaft geformt und bereits 1986 festgestellt:

„In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen.“

Meine Damen und Herren, dass Beck recht hatte, zeigt sich uns jetzt auf tragische Weise. Es war ein Fehler, Herr Ministerpräsident, die Atompolitik nur nach den Maßstäben der Reichtumsproduktion und nicht von ihren Risiken aus zu betrachten. Sie haben im vergangenen Herbst die Laufzeitverlängerung unterstützt - eine Fehlentscheidung, für die Sie dauerhaft politische Verantwortung haben.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sie haben die Laufzeitverlängerung als strategische Weichenstellung für den Industriestandort Deutschland bezeichnet. Ich hätte gedacht, dass das auch in Ihren Ohren heute unverantwortlich und peinlich klingt. Aber ich habe mich wohl getäuscht. Ich hätte mir von Ihnen mehr Nachdenklichkeit und mehr Selbstkritik gewünscht.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Es war ein Irrweg, den Ihr Umweltminister Sander im September im Deutschlandradio beschrieb, als er sagte, man müsse die Laufzeitverlängerung nicht nur umweltpolitisch, sondern auch volkswirtschaftlich betrachten - in seinem zu kurz gegriffenen Sinne des Wortes „volkswirtschaftlich“.

Ich bin auch nach Ihren heutigen Ausführungen keineswegs davon überzeugt, dass Sie glaubwürdig von dieser Ausrichtung auf Gewinnmaximierung für die Energieriesen abgehen. Noch traue ich weder Ihnen noch der Bundeskanzlerin beim angeblichen Moratorium über den Weg. Herr Ministerpräsident, verbindliches Auftreten kann nicht schaden. Aber was wir brauchen, sind Rechtsverbindlichkeit und konkrete Entscheidungen. Sie können jetzt zeigen, dass mein Misstrauen und das vieler Menschen, die es teilen, ungerechtfertigt ist, indem Sie konsequent und entschlossen handeln und den Ausstieg aus einer nicht beherrschbaren Energieform voranbringen, in die man nie hätte einsteigen dürfen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Starker Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ebenfalls für die Fraktion DIE LINKE hat sich nun der Kollege Herzog zu Wort gemeldet. Bitte!

(Zurufe von der LINKEN: Wo sind ei- gentlich die Kollegen von der CDU- Fraktion geblieben? - Warum ist die Ministerreihe so leer? - Gegenruf von Jens Nacke [CDU]: Wir hatten gehofft, dass es bei Frau Flauger bleibt! Das wäre besser gewesen!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass die Betreiber einmal ihre AKWs explodieren lassen oder gar sprengen würden, um zu verhindern, dass aus einem GAU ein Super-GAU wird - erfolglos, wie wir inzwischen wissen. Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass CDU- und CSU-regierte Länder ihre AKWs loswerden wollen wie Sauerbier, die für sie bis vorgestern noch ein Ausbund an Sicherheit und westlicher Technologieüberlegenheit waren.

(Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Um es gleich vorweg zu sagen: Mein antiatompolitsches Engagement hatte nie etwas mit parteipolitischem Kalkül zu tun, sondern war und ist immer an die Betroffenheit der Menschen geknüpft gewesen.

(Beifall bei der LINKEN -Jens Nacke [CDU]: Das ist schlicht falsch!)

Und die Formel, Herr Nacke, „Gorleben ist überall“ heißt für mich: Sankt Florian ist mein größter Feind. - Das gilt für akute Katastrophensituationen wie in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima genauso wie für den sogenannten Normalbetrieb; den gibt es nämlich nicht mehr. Normal war gestern!

Wenn sich Bundesumweltminister Norbert Röttgen - wörtlich - gegen die parteipolitische Kapitalisierung der Not aussprach, dann halte ich es lieber mit Anne Will, die als Antwort darauf sagte, gerade der Respekt vor den Betroffenen in Japan erfordere sofortiges Handeln.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Und überhaupt: Es gibt kaum etwas Aufwühlenderes als das, was Politikerinnen und Politiker in den letzten Tagen von sich gaben. Ich habe gelernt, sehr genau auf Worte zu achten, und ich habe mir ein sehr langes Gedächtnis angewöhnt.

Wie eine Perlenschnur baute man in Japan die Atomkraftwerke direkt ans Meer, in unmittelbarer Nähe zu den tektonischen Aktivitätszonen, an deren Rändern verheerende Erdbeben stattfinden, verbunden mit Tsunamis, und das weiß man nicht erst sei 2004. Dass japanische AKWs auf Erdbeben der Stärke 8,25 auf der Richterskala ausgelegt werden, ist eine Sache, nämlich die Theorie. Dass menschliche Hybris davon ausgeht, mehr kann es nicht geben, die andere, die Praxis eben. Die Bauern im Wendland werden ein Schild mehr in die Reihe auf ihren Äckern stecken: Titanic - sicher, Tschernobyl - sicher, Transrapid - sicher, Asse - sicher, ICE - sicher, und jetzt: Fukushima - sicher.

Wo war eigentlich der doppelte Boden, die vierfache Redundanz in Fukushima? - weggespült von einer Welle, Opfer des Station-Blackouts, des Stromausfalls im Gesamtsystem. Ja, richtig, Japan ist nicht Deutschland, der Pazifik nicht die Nordsee, und Asse ist nicht Gorleben.

Hätte ich mir jemals träumen lassen, dass EUHauptkommissar Oettinger einmal sagen würde: „Man muss sicherlich unterscheiden, aber das Undenkbare ist eingetreten“? Warum sagt er nicht, „dass für mich bisher Undenkbare ist eingetreten“? Warum sagt er nicht, „diejenigen, die ich bisher als Spinner bezeichnete, lagen richtig“?

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der SPD)

Warum sagt er nicht: „Die sprachen über Erdbeben auch in Deutschland, über das Problem Stromausfall, über die Möglichkeit von Cyberanschlägen, sie sprachen über mangelnden Schutz gegen Flugzeugabstürze oder Blackouts aus anderen Gründen, ich, Günter Oettinger, der Energiekommissar der Europäischen Union, erst seit heute“? Woher nahmen Sie aus den Fraktionen der Atomfreunde eigentlich die Sicherheit, so etwas könne bei uns nicht passieren?

Heute sagt Ministerpräsident McAllister, die Sicherheit der Menschen hat absolute Priorität. Kaum könnte man auf die Idee kommen, die CDU verlässt ihre Denkverbotszone, da prescht Niedersachsens Atomaufsicht vor, noch während in Fukushima die Kerne schmelzen, und bezeichnet seine AKWs als sicher. Da brauchen wir nicht reinzugehen, sagt die Aufsicht. - Das machen die dann offensichtlich vom Schreibtisch aus. Bereinigen Sie so ein überhebliches Verhalten, Herr Ministerpräsident!

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der SPD)

Wischen Sie einmal feucht durch in Ihrem Laden, und entlassen Sie gleichzeitig Ihren Atomminister, der sich nicht zu schade war, in einem ProAtomkraft-T-Shirt mit der Aufschrift „kerngesund“ zu posieren!

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der SPD)

Aber der Gipfel war sicherlich sein Resümee von gestern, die deutschen Atomkraftwerke seien sicher. Bezüglich vorgesehener Maßnahmen - Zitat -: Da tritt die Vernunft gewissermaßen zurück. - Lieber wäre mir, er träte zurück.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der SPD)

Herr Ministerpräsident, Ihr Minister Sander ist nicht mehr tragbar. Er passt spätestens seit gestern nicht mehr in die Zeit.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN sowie Zustimmung bei der SPD)

Ja, es sind Siedewasserreaktoren in Japan, die dort explodieren, baureihengleich mit immerhin sieben Reaktoren in Deutschland.

In Niedersachsen gefährden uns drei Druckwasserreaktoren. Aber auch bei denen würde ein gezielter Flugzeugabsturz das Ende bedeuten und ein Stromblackout fatale Folgen haben können.

Erdbeben gibt es in Deutschland sehr wohl, selbst in der Zone 0, beispielsweise 2004 in Rotenburg mit stattlichen 4,4 auf der Richterskala. Was heißt vor dem Hintergrund, dass Fukushima auf 8,25 ausgelegt war, aber von 9 überrollt wurde, schon, Unterweser sei auf 6 ausgelegt?