Protokoll der Sitzung vom 14.09.2011

Ihre Interpretation von betrieblicher Teilhabe ist eine völlig andere als unsere. Sie dreschen Phrasen, alles heiße Luft, aber in der Praxis lassen Sie zu, dass immer mehr Menschen von wirklicher Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Der Niedriglohnsektor wird immer größer. Lohndrückerei und Leiharbeit zu Hungerlöhnen sind in diesem Land an der Tagesordnung. In der Aufschwungphase sind 35 % aller Neueinstellungen Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter.

Outsourcing und die Erpressung ganzer Belegschaften sind Realität. Damit wollen wir Sozialdemokraten uns überhaupt nicht abfinden. Darum setzen wir uns für die Stärkung von Arbeitnehmerrechten konsequent ein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Auch eine Fortschreibung der Betriebsratsrechte in der Betriebsverfassung ist längst überfällig. Betriebsräte müssen in ihrer Rechtsstellung deutlich gestärkt werden. Das ist unsere Position, die wir auch im Schulterschluss mit den Gewerkschaften ausdrücklich teilen. Immer weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verfügen über einen Betriebsrat. In Westdeutschland sind es 45 %. In Ostdeutschland sind es nur noch 37 %. Ohne Ta

rifvertrag und ohne Betriebsrat arbeiten in Westdeutschland 31 %, in Ostdeutschland sogar 47 % aller Beschäftigten.

Meine Damen und Herren, diese Zahlen sind traurig und skandalös. Das wollen wir ganz schnell verändern. Wir stehen für mehr Mitbestimmung. Also ermuntern wir erst einmal alle - Frau König, ich betone ausdrücklich: alle - Betriebe, sich einen Betriebsrat zu wählen. Denn das ist die Voraussetzung für eine vernünftige Sozialpartnerschaft, die Sie mit Ihrem Antrag eigentlich auch stärken wollten.

(Klaus Rickert [FDP]: Haben sie denn ausreichend Kandidaten?)

Anständige Tarifverträge sind für uns unverzichtbar, und wir wollen auch die bewährte Tarifautonomie der Tarifpartner in keiner Weise antasten. Auch das sagen wir hier deutlich.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir werden andererseits die Willkür und Alleinherrschaft eines Industriepatriarchen zulasten seiner Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht tatenlos hinnehmen. Wir akzeptieren keine Vorkommnisse wie bei Atlas und werden auf Zustände wie bei Schlecker, Netto, KiK und Lidl mit Veränderungen der Rechtslage reagieren müssen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Denn da, meine Damen und Herren, werden Menschen - zumeist Frauen - einseitig und mit übelsten Methoden um viel Arbeitszeit und Geld betrogen.

Während Sie, meine Damen und Herren, regelmäßig erst dann wach werden, wenn „Monitor“ oder „Report München“ über diese skandalösen Vorgänge bei Schlecker und anderen Discountern berichten, wollen wir präventive Maßnahmen ergreifen, um dieses moderne Sklaventum zu beseitigen.

(Beifall bei der SPD)

Ausbeutung darf erst gar nicht möglich werden. Hier sind Betriebsräte gefordert, Frau König, und hier wäre sicherlich auch an vielen Stellen die Staatsanwaltschaft sinnvoll. Denn das ist oft auch gleichbedeutend mit Rechtsbeugung zum Nachteil der Beschäftigten. Das ist sehr oft Sozialversicherungsbetrug und Steuerhinterziehung, und das ist vor allem insbesondere würdelos. Das ist ein An

griff auf die Würde der Menschen, und das darf man nicht zulassen.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen starke Betriebsräte, Konzern- und Gesamtbetriebsräte und eine moderne Betriebsverfassung, die bei Betriebsaufspaltungen oder bei Neugründungen von konkurrierenden Servicegesellschaften auch Einwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Betriebsräte möglich machen. Sie möchten den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hingegen noch mehr Flexibilität und noch mehr Verantwortung aufdrücken, aber immer weniger Schutz bieten. Das ist Ihre Denke, und das spiegelt sich auch so in Ihrem Antrag wider. Sie dürfen deshalb auch nicht davon ausgehen, dass wir Ihrem substanzlosen Antrag zustimmen. Das ist ein schlechter Beitrag; wir haben das längst geblickt.

Meine Damen und Herren, das Demokratieverständnis darf nicht am Werkstor enden. Betriebs- und Personalräten darf die Fortschreibung einer modernen Mitbestimmung nicht erschwert werden. Es sind oft genug Betriebsräte und Gewerkschaften, die mit innovativen Konzepten dringend nötige Umstrukturierungen in den Konzernen anstoßen, die Einsparpotenziale aufzeigen und dafür sorgen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorübergehend zum Wohle des Unternehmens auf Gehaltsanteile verzichten. Das alles haben wir erlebt. Die Mehrheit eines Betriebes hat das insbesondere in Krisenzeiten auch akzeptiert. Es sind oft genug Gewerkschaften und Betriebsräte, die Versäumnisse des Managements mit eigenen Vorschlägen korrigieren. Es sind auch oft genug Betriebsräte und Gewerkschaften, die mit ihren Konzepten beim ökologischen Umbau der Industriegesellschaft helfen. Wir als SPD-Fraktion haben das erkannt, und wir werden das Gesprächsangebot annehmen und die Sozialpartner einbinden.

(Beifall bei der SPD)

In der Begründung Ihres Antrages haben Sie sich bemüht, einige Stationen der Entstehung unserer heutigen Betriebsverfassung aufzuschreiben. Eines haben Sie sicherlich mit Absicht außen vor gelassen: Es gibt den sogenannten Dritten Weg für Tendenzbetriebe. Der passt nun absolut nicht mehr in dieses Jahrhundert. In vielen kirchlichen Einrichtungen sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Bittstellern degradiert. Es gibt kein Streikrecht für sie, und die sogenannte MAV, die Mitarbeitervertretung, darf bestenfalls um Tariferhöhungen betteln. Meine Damen und Herren, das

sind Bittsteller. Der Dritte Weg ist ein qualvoller Weg für sehr viele Menschen in kirchlichen Pflegeheimen, Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäusern, Klosterbrauereien und sonstigen Einrichtungen der Kirche. Sie sollten dieses Bittstellertum schnellstmöglich beseitigen. Das wäre ein Akt der Gnade und ein Stückchen Wiedergutmachung. Ich meine, es ist an der Zeit, dies zu tun, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Abschließend: Meine Damen und Herren, lassen Sie uns kollektiv den Antrag von CDU und FDP vergessen! Denn er ist grottenschlecht und substanzlos. Der SPD-Antrag hat hingegen eine gute Zielsetzung. Unser Antrag bekennt sich ausdrücklich zu wirklicher Mitbestimmung und demokratischer Teilhabe in den Betrieben, und er ebnet den Weg, die notwendigen Modernisierungen und Mitbestimmungsrechte anzupacken und insbesondere mit den Sozialpartnern zu diskutieren.

Schönen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und Zustimmung von Enno Hagenah [GRÜNE])

Herzlichen Dank, Herr Kollege Schminke. - Zu Wort gemeldet hat sich seitens der CDU-Fraktion der Kollege Toepffer. Bitte schön!

Herr Schminke, das war eine flammende Rede. Ich muss allerdings feststellen, sie hatte einen Schönheitsfehler. Denn Sie haben sich in weiten Teilen natürlich nicht mit dem beschäftigt, was in Ihrem Antrag steht, sondern mit dem, was Ihnen gerade so einfällt. Sie sprechen von Straftaten, von Leiharbeit, von Mindestlohn, Schlecker, Lidl, Sklaventum. - Das alles steht in Ihrem Antrag nicht drin. Wir hätten über alles reden können. Aber vielleicht stellen Sie das nächste Mal einen Antrag, der sich mit den Dingen befasst, die Ihnen offensichtlich auf der Seele liegen.

(Beifall bei der CDU - Oh nein! bei der SPD)

Gegenstand Ihres Antrags ist - so steht es da geschrieben - die Sicherung von Tarifvertragssystemen. Sie reden von der Einrichtung von Betriebsräten und setzen sich dann mit dem amerikanischen Hire-and-Fire-System auseinander, ohne dass Sie das näher ausführen. Das wird einfach

schlagwortartig in den Raum geworfen, allerdings ohne jede Substanz.

Lieber Herr Schminke, in Ihrer Rede machen Sie dann Folgendes: Darin entwerfen Sie ein gesellschaftliches Zerrbild, das mit der Realität in diesem Lande nicht im Geringsten etwas zu tun hat.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich will Ihnen einmal erklären, worin der Unterschied zwischen unseren Anträgen liegt, die sich vielleicht in der Zielsetzung, was Tarifautonomie und Tarifvertragssysteme angeht, durchaus gleichen. Das ist der Ansatz. Ihren Antrag muss man von hinten lesen, um ihn zu verstehen. Denn dann weiß man, warum er entstanden ist. Sie versuchen nämlich, an dem Beispiel von Atlas ein Horrorbild der Arbeitnehmerwelt zu zeichnen, das man so nicht feststellen kann.

(Zuruf von der SPD: Und was ist mit Lidl?)

- Von Lidl steht in Ihrem Antrag überhaupt nichts drin, Herr Schminke. Sie schreiben in einem Drittel des Textes Ihres Antrages von Atlas. Also reden wir einmal über Atlas. Also reden wir einmal über das, was bei Atlas passiert.

(Ronald Schminke [SPD]: Das ist die Freiheit des Künstlers! - Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

- Diese Freiheit will ich Ihnen durchaus zugestehen. Gleichwohl nehme ich mir die Freiheit, jetzt doch über Atlas zu reden.

Was ist also bei Atlas passiert? - Bei Atlas ist Folgendes passiert: Der Atlas-Konzern wurde von einem aus dem Ausland stammenden Investor übernommen, und die Arbeitnehmer haben zu Recht einen Übernahmetarifvertrag verlangt. Diesen hat der Übernehmende verweigert und hat reagiert, indem er Arbeiternehmer in der Tat willkürlich entlassen hat, umgesetzt hat, die Löhne gekürzt hat, und es sind ihm auch noch allerlei andere Dinge eingefallen. Deutsche Gerichte haben gesagt: Das geht nicht!

Die Arbeitnehmerschaft hat reagiert, indem sie einen fünfwöchigen Streik begonnen hat. Wir haben im Wirtschaftsausschuss über alle Fraktionen hinweg mit einer einstimmigen Resolution diese Vorgänge begleitet und gesagt: Das ist nicht richtig, das darf so nicht sein!

Am Ende haben sich die Gewerkschaften durchgesetzt. Es gibt jetzt den Übernahmetarifvertrag,

und die Arbeitsbedingungen wurden kollektiv abgesichert. - Das ist bei Atlas passiert.

Es ist richtig: Zwischenzeitlich ist seitens des Arbeitgebers, des Übernehmers der Versuch unternommen worden, den Arbeitnehmern von Atlas neue Arbeitsverträge aufzubürden. Alle Arbeitsverträge fangen in § 1 mit der Überschrift an: Auf das Arbeitsverhältnis findet kein Tarifvertrag Anwendung. - Das ist erstens rechtlich nicht zulässig, und zweitens waren bisher sämtliche Arbeitnehmer bei Atlas nach meinen Informationen so klug, das nicht zu unterschreiben.

Dieses Fallbeispiel - so nennen Sie das jetzt - nehmen Sie nun zum Anlass, eine schleichende Aushöhlung des Tarifsystems festzustellen. Das ist unseriös; denn das Beispiel Atlas bezeugt genau das Gegenteil: Das System hat exzellent funktioniert. Alles das ist dort verhindert worden.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Lieber Herr Schminke, ich gebe Ihnen in einem Punkt recht.

(Ronald Schminke [SPD]: Das ist ja schön!)

- Ich habe ja ein Herz für die Kunst!

(Heiterkeit bei der CDU)

Die Zahl der tarifvertraglich Beschäftigten ist in den vergangenen Jahren in der Tat leicht gesunken. Aber noch immer unterliegen mehr als zwei Drittel aller Betriebe einer Tarifpflicht. Die Hälfte der nicht tarifvertraglich gebundenen Betriebe orientiert sich an Tarifverträgen. Es gibt also in diesem Lande insgesamt fünf Sechstel der Beschäftigten, die glücklicherweise immer noch den Schutz von Tarifverträgen genießen. Da stellt sich, lieber Herr Schminke, die Frage, was mit dem letzten Sechstel passiert. Sie schreiben in Ihrem Antrag - da wird es dann wirklich klasse, wenn Sie uns Phrasentum vorwerfen -:

„Ohne sie“