Protokoll der Sitzung vom 11.11.2011

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Darüber sollten Sie einmal nachdenken, auch Sie, Herr Schünemann. Aktuell können zudem auch die Schulnoten eines Kindes darüber entscheiden, ob eine ganze Familie hier bleiben darf oder nicht. Ich sage Ihnen: Ein Bleiberecht nach Noten gehört abgeschafft!

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Aufforderung an die Lebensunterhaltssicherung sind kritisch zu bewerten. Notwendig ist hier, dass die Aufenthaltserlaubnis unabhängig von dem Nachweis des eigenen Einkommens erteilt wird. Allein der schwierige Umstand, mit einer befristeten Aufenthaltsperspektive überhaupt einen lebensunterhaltenden Beruf zu finden, ist eine erhebliche Hürde. Denn sämtliche Studien zu Zugangsverteilungschancen zum Arbeitsmarkt zeigen deutlich, dass insbesondere Migrantinnen und Migranten und ganz besonders Flüchtlinge unter starker Diskriminierung leiden. Folglich darf auch eine mögliche Erwerbslosigkeit kein Grund sein, einen seit Jahren hier lebenden Menschen oder gleich die gesamte Familie regelrecht aus dem Land zu werfen.

Meine Damen und Herren, eine neue, humanere Bleiberechtsregelung, wie wir sie fordern, darf ferner nicht mehr auf einen festen Stichtag ausgerichtet sein, sondern muss fortlaufend die Aufenthaltsdauer der Betroffenen zur Voraussetzung machen. Eine neue Bleiberechtsregelung darf nicht zur Familientrennung führen. Eine Regelung, die die Ausreise der Eltern zur Voraussetzung für das Bleiberecht des Kindes macht, ist mit dem

grundgesetzlich zugesicherten besonderen Schutz der Familie nicht zu vereinen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir fordern die Landesregierung zusätzlich auf, sich bei der kommenden Innenministerkonferenz Anfang Dezember für eine umgehende Übergangsregelung starkzumachen, sich für ein menschliches Bleiberecht einzusetzen und es dann einzuführen.

Meine Damen und Herren, ich habe einen ganz besonderen Appell. Dieser Appell gilt den Regierungsfraktionen. Ich möchte, dass Sie sich dafür einsetzen, dass die mehr als 10 000 hier lebenden und von dieser Regelung betroffenen Menschen eine Perspektive haben und ein Leben ohne ständige Angst vor Abschiebung aufbauen können. Ich möchte aber auch, dass Sie sich dafür einsetzen, dass die Familie Nguyen wieder in Deutschland zusammenfindet.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun hat das Wort für die SPD-Fraktion Frau Dr. Lesemann.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema Bleiberecht ist topaktuell, wie die Ereignisse der letzten Tage zeigen. Hätten wir eine stichtagsunabhängige Regelung, hätten wir eine Bleiberechtsregelung, die umfassend und humanitär orientiert wäre, dann hätte die Familie aus Hoya vermutlich nicht nach Vietnam abgeschoben werden müssen.

Seit 2006 haben Bund und Länder mit verschiedenen Bleiberechtsregelungen rund 60 000 Menschen zu befristeten Aufenthaltserlaubnissen verholfen. Eine grundlegende Lösung jedoch fehlt weiterhin.

Alle bisherigen Versuche von Bund und Ländern, langjährig in Deutschland geduldeten Menschen durch sogenannte Altfallregelungen ein legales Aufenthaltsrecht zu gewähren, die an ihrer Situation kein eigenes Verschulden tragen und sich erfolgreich in unsere Gesellschaft integriert haben, sind unzureichend geblieben. Nach dem bevorstehenden Auslaufen der letzten Bleiberechtsregelung zum Ende dieses Jahres ist wieder damit zu

rechnen, dass Menschen unser Land verlassen müssen, obwohl sie schon längst hierher gehören.

Woran liegt das? - Migrantinnen und Migranten, die keine Aufenthaltserlaubnis bekommen, sind zur freiwilligen Ausreise gezwungen oder werden abgeschoben. Wer aber nicht ausreisen oder abgeschoben werden kann, erhält eine Duldung. Der Begriff „Duldung“ ist bei näherem Betrachten nichts anderes als ein Euphemismus, eine Beschönigung dessen, was sich dahinter verbirgt. „Duldung“ bedeutet ein Leben im Provisorium. Die Duldung wird für wenige Wochen oder Monate erteilt, und Geduldete haben nur einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie erhalten Sozialleistungen, die 30 % unter dem Niveau der Sozialhilfe liegen.

Geduldet zu sein, bedeutet, im Ungewissen zu leben. Viele Betroffene leben Jahr für Jahr in einer sogenannten Kettenduldung. Ihre Abschiebung wird immer wieder für wenige Wochen oder Monate ausgesetzt. Die Betroffenen sitzen jahrelang auf gepackten Koffern. Sie leben gewissermaßen zwischen Baum und Borke, weil sie nicht wissen, wie lange sie noch hier sein werden. Im Kopf ist immer der Gedanke, dass man abgeschoben werden kann. Darüber vergeht Jahr um Jahr, und dann kommt es oftmals nicht zu einer richtigen Integration. Denn Integration braucht Vertrauen, Verlässlichkeit und vor allem auch Klarheit darüber, wohin man eigentlich gehört.

Eine weitere Folge des ungesicherten Aufenthaltsstatus besteht darin, dass diese Menschen keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. Selbst wenn sie es aus eigener Kraft und mit eigenem Fleiß schaffen, Sprachkenntnisse zu erwerben, eine Ausbildung zu absolvieren und sich eine berufliche Existenz aufzubauen - siehe den Fall in Hoya - und sich in diese Gesellschaft zu integrieren, bietet alles das keinen Schutz vor einer Abschiebung in ein Land, dessen Staatsbürger sie vielleicht nur noch formal sind. Viele dieser Menschen haben hervorragende Integrationsleistungen erbracht, ohne Aussicht darauf zu haben, dass dies von dieser Gesellschaft hier anerkannt wird.

Meine Damen und Herren, vor allem aber muss es uns um die betroffenen Kinder und Jugendlichen gehen. Viele von ihnen kennen das Land, in das sie abgeschoben werden, überhaupt nicht, höchstens aus den Erzählungen ihrer Eltern. Ein Kontakt dorthin besteht aber nicht. Ihre Heimat ist hier in Niedersachsen. Viele von ihnen haben längst Freundschaften in Schule und Nachbarschaft ge

funden, leben aber dennoch in ständiger Angst vor Abschiebung.

Permanente Unsicherheit und Zukunftsangst, das Gefühl der Ablehnung, die Anspannung in der Familie - das kann man sich vorstellen -, alles das kann gerade bei Kindern zu psychischen Extremsituationen führen.

Beim Bleiberecht ist eine Lösung überfällig. Wir brauchen eine großzügige Bleiberechtsregelung, die auch humanitären Grundsätzen genügt. Nur eine derartige Regelung ist auf Dauer geeignet, das Problem der Kettenduldung zu lösen und den Menschen zu ihrem eigenen Wohl und dem dieser Gesellschaft hier eine Lebensperspektive zu eröffnen.

In diesem Zusammenhang haben wir einige Forderungen, die wir im Ausschuss gern diskutieren wollen. Zu diesen Forderungen gehören auch diejenigen, die schon am Tag des Flüchtlings aufgestellt worden sind. Viele von Ihnen waren in Braunschweig, als wir zum Tag des Flüchtlings aus Büchern vorgelesen haben, und haben sich dazu bekannt, dass sie eine stichtagsunabhängige Regelung fordern. Es ist wichtig, dass wir eine stichtagsunabhängige, eine roulierende Regelung haben, um künftige Kettenduldungen zu vermeiden. Wir brauchen eine Regelung mit realistischen Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherung, die auch alte und kranke Menschen vom Bleiberecht nicht ausschließt.

Völlig klar muss für uns sein, da uns allen das Familien- und Kindeswohl doch so sehr am Herzen liegt: Familien dürfen keinesfalls getrennt werden.

Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei der SPD, bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Herzlichen Dank, Frau Dr. Lesemann. - Für die CDU-Fraktion hat zu diesem Thema jetzt der Kollege Götz das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entschließungsantrag der Fraktion DIE LINKE beschäftigt sich mit der Situation von Menschen ohne Aufenthaltsrecht. Sie geben die Zahl mit 75 000 an. Auf Bundesebene spricht die Linke in ihrem Antrag aber von 50 000 Menschen. Welche Zahl stimmt nun nach Ihren Recherchen? Ist das ein Abschreibfehler oder eine gewollte fal

sche Darstellung? - Vielleicht sollten Sie einmal erläutern, woher Sie Ihre Zahlen haben und auf welchen Berechnungen sie basieren.

(Detlef Tanke [SPD] spricht mit Jo- hanne Modder [SPD])

- Herr Tanke, wollen Sie die Rede halten? Sie sprechen ohne Mikrofon fast so laut wie ich.

(Björn Thümler [CDU]: So ist er!)

Eine große Übereinstimmung ist auch bei den Anträgen der Linken und der Grünen festzustellen. Beide fordern gleiche Fristen für ein dauerhaftes Bleiberecht: fünf Jahre für Alleinstehende und drei Jahre für Familien. Die SPD argumentiert bisher ähnlich, nur in den Aufenthaltszeiten von acht Jahren für Alleinstehende und von fünf Jahren für Familien unterscheidet sie sich von Linken und Grünen.

Es sei auch noch der Hinweis erlaubt, dass Grüne und Linke mit ihren Anträgen eine Initiative von PRO ASYL unterstützen.

Meine Damen und Herren, es ist erforderlich, auf die bestehenden gesetzlichen Regelungen einzugehen. Danach soll verhindert werden, dass wir eine ungeregelte Zuwanderung in die Sozialsysteme zulassen. Wir haben eine Altfallregelung, die an bestimmte Regelungen gebunden ist. Wenn entsprechende Voraussetzungen erfüllt werden, konnten Aufenthaltserlaubnisse gewährt werden.

Nun aber zu fordern, einen Aufenthalt nur bei Vorliegen von Verweilzeiten zu gestatten, widerspricht einer geregelten Bleiberechtsregelung. Wir haben immer gefordert - und dies ist der richtige Weg -, illegal eingereiste Personen, deren Asylanträge rechtskräftig abgelehnt wurden, möglichst zeitnah abzuschieben.

(Zustimmung von Angelika Jahns [CDU])

Damit kommen wir unseren internationalen Verpflichtungen nach. Flüchtlinge stehen unter einem besonderen Schutz. Bei der Zuwanderung gelten jedoch andere Kriterien. Hier haben wir die Möglichkeit, steuernd einzugreifen. Das Aufenthaltsrecht ist eingeschränkt. Nur bei Vorliegen von Gefährdungen kann eine Ausreise aufgeschoben werden. Jeder Staat muss das Recht haben, über die Zuwanderung selbst zu entscheiden.

Meine Damen und Herren, ausgerechnet die Personengruppen zu bevorteilen, die sich hartnäckig gegen die Ausreise wehren, widerspricht jeder

Logik. Übertragen Sie einmal solche von den Linken aufgestellte Normen auf andere Rechtsvorschriften! Dann müssten wir alle Verstöße gegen Regeln in irgendeiner Form belohnen. Das ist doch absurd, abwegig und geradezu grotesk. Ich halte das auch für unmenschlich.

(Zustimmung bei der CDU - Kreszen- tia Flauger [LINKE]: Eiskalt!)

Für Jugendliche haben wir spezielle Regeln geschaffen. Sie sollen nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn die Eltern Rechtsverstöße begangen haben. Allerdings muss der Integrationswille erkennbar und nachweisbar sein. Der Entschließungsantrag widerspricht allen bisher festgestellten Regeln. Eine Steuerung und eine Begrenzung wären nicht mehr möglich. Die CDUFraktion wird diesen Antrag ablehnen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Kreszentia Flauger [LINKE]: Sie soll- ten mal die Bibel lesen!)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Götz. - Nun hat das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Polat.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss mich wirklich wundern: Sie sprechen ständig von Rechtsverstößen. Sie alle wissen aber, dass viele Menschen, die einen Duldungsstatus haben - auch in Niedersachsen sind es mehr als 10 000 -, Asylverfahren betrieben haben. Das als Rechtsverstoß zu bezeichnen, nur weil die sich über Jahre hingezogen haben, halte ich für sehr fragwürdig.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zuruf von Editha Lorberg [CDU])

- Frau Lorberg, Sie wissen ganz genau aus allen Stellungnahmen im Petitionsausschuss, dass sie die rechtskräftigen Urteile zum Teil erst bis 2002 erhalten haben und dass Serbien seine Staatsangehörigen, wie z. B. die Roma, danach rechtswidrig nicht angenommen hat. Das wissen Sie selbst.

Bis vor Kurzem gab es einen Abschiebestopp für Flüchtlinge in den Kosovo. Unterstellen Sie diesen Menschen also nicht ein rechtsmissbräuchliches Verhalten.

Ein Weiteres: In der ganzen Debatte über die Bleiberechtsregelung - das ist jetzt die vierte unter dieser Landesregierung in Folge - wird der Begriff der Integration ad absurdum geführt. Mich würde wirklich interessieren, was die Integrationsministerin dazu sagt. Integration bedeutet, gleichberechtigte Chancen zu haben, um auch an diesem Leben teilzunehmen. Hier wird mit § 25 a eine Bleiberechtsregelung für gut integrierte Jugendliche eingeführt, und das Bleiberecht der Kinder, die sich in diesem maroden Bildungssystem befinden und dort scheitern, wird davon abhängig gemacht. Das ist doch völlig irre!