Protokoll der Sitzung vom 11.11.2011

2. Die andere Sicht sieht den Niedriglohnsektor als eine notwendige Bedingung, um Arbeitnehmer mit eher geringer Produktivität besser in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Niedriglohnbeschäftigung wäre damit unerlässlich, wenn Vollbeschäftigung hergestellt werden soll.“

Diesen beiden Thesen stehen anerkannte wissenschaftliche Ausarbeitungen gegenüber. Auch dort sind die Fronten verhärtet, genauso wie wir es hier bei den Redebeiträgen haben hören können.

Meine Damen und Herren, ich bekenne mich ausdrücklich zur zweiten These.

(Dr. Gabriele Andretta [SPD]: Ach! Das überrascht uns jetzt aber!)

Ich bin gegen einen gesetzlichen Mindestlohn.

(Beifall bei der FDP)

Ich betrachte eine derartige gesetzliche Regelung als einen Eingriff in die Tarifautonomie. Wie oft haben wir hier im Plenum die Tarifautonomie gelobt, insbesondere dann, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften in ihrer Verantwortung für die deutsche Wirtschaft maßvolle Abschlüsse vereinbart, Arbeitskämpfe vermieden und sich über Arbeitsbedingungen usw. geeinigt haben!

Das kooperative Handeln mit dem Ziel eines tragfähigen Kompromisses ist eine Errungenschaft unserer sozialen Marktwirtschaft, um die uns die Welt beneidet.

(Beifall bei der FDP)

Die Unabhängigkeit der Tarifvertragsparteien ist ein hohes Gut, das wir nicht durch zunehmenden staatlichen Einfluss aushöhlen sollten. Die staatliche Abstinenz ist die Stärke dieses Systems.

(Beifall bei der FDP)

Wie aber wirken wir den zugegebenermaßen unverkennbaren Fehlentwicklungen in einigen Branchen und Unternehmen entgegen? - Das Verhalten einiger Unternehmer ist weder sozial noch marktwirtschaftlich - ich bestreite es nicht. Aber es kann nicht sein, dass wir alle Unternehmen unter Generalverdacht stellen und diese durch staatliche Einschränkungen in ihrer unternehmerischen Freiheit behindern. Haben wir nicht genügend Instrumente, um Fehlentwicklungen Einhalt zu gebieten?

(Vizepräsident Hans-Werner Schwarz übernimmt den Vorsitz)

Tarifvertragsgesetz, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Arbeitnehmer-Entsendegesetz, Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen, Betriebsverfassungsgesetz usw. - wenn diese Gesetze überholt sind, dann muss man schauen, was man daran ändern kann.

(Ronald Schminke [SPD]: Das wollen wir doch!)

Ich wende mich besonders an die Kollegen der SPD: Es war zu Zeiten der sozialliberalen Koalition in Bonn in den 70er-Jahren, als das Betriebsverfassungsgesetz zugunsten von mehr Mitbestimmung der Beschäftigen geändert wurde.

(Kreszentia Flauger [LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Herr Kollege - - -

Dabei stand die Unantastbarkeit der Tarifautonomie immer im Vordergrund. Auch wenn die Tarifvertragsparteien für ihre Branchen einen verbindlichen Mindestlohn aushandeln, sind davon Arbeitgeber und Arbeitnehmer ohne Tarifbindung nicht betroffen. Sie jetzt in dieses System zu zwingen, würde einen Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit bedeuten.

Es kann auf keinen Fall Aufgabe der Politik sein, fehlende Mitgliedschaften in Unternehmensver

bänden bzw. Gewerkschaften durch gesetzliche Eingriffe in die Tarifautonomie zu kompensieren.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)

Herr Kollege, hatte ich das richtig verstanden, dass Sie eine Zwischenfrage nicht zulassen?

Im Moment nicht, nein danke.

Gestatten Sie mir eine Anmerkung zum laufenden Diskussionsprozess bei den Kollegen der CDU. Meine Damen und Herren, ich habe die Befürchtung, dass die allgemein verbindliche Lohnuntergrenze den Einstieg in einen gesetzlichen Mindestlohn bedeuten kann.

(Enno Hagenah [GRÜNE]: Genauso ist es!)

Ich bezweifle, dass ein Mindestlohn die Probleme, die wir unstreitig im Niedriglohnbereich haben, beseitigen kann. Es gibt prekäre Beschäftigungsverhältnisse - dieses Problem kann man aber nicht mit den Mitteln der Lohnfindung lösen. Das Problem niedriger Löhne können wir nicht dadurch lösen, dass wir Arbeit einfach verteuern.

Das produzierende Gewerbe, soweit es nicht standortgebunden ist, antwortet auf solch einen Mindestlohn mit Verlagerung ins Ausland. Standortgebundene Tätigkeiten führen zum Ausweichen in den Schwarzmarkt. Andernfalls steigen die Preise des Produkts, und es wird einfach nicht mehr nachgefragt.

Die Folge ist stets die gleiche: Arbeit bzw. Arbeitsplätze gehen verloren. Diese Entwicklung ist bei einem Mindestlohn von 10 Euro, meine Damen und Herren von den Linken, nicht aufzuhalten.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU - Glocke des Präsiden- ten)

Besonders betroffen sind natürlich gering Qualifizierte, für die es keine bezahlbare Arbeit gibt. Wir haben einmal das Modell eines Bürgergeldes in die Diskussion geworfen. Meine Redezeit reicht nicht aus, um Sie noch einmal damit vertraut zu machen. Man sollte das aber noch einmal diskutieren.

Dieses System hat die Aufgabe und das Ziel, dafür zu sorgen, dass die Menschen nicht zu Bittstellern

verschiedener Sozialeinrichtungen werden, sondern sich durch die sogenannte negative Einkommenssteuer am Arbeitsmarkt, im Arbeitsleben, an den Arbeitsprozessen beteiligen können.

(Beifall bei der FDP - Glocke des Prä- sidenten)

Wir lehnen einen allgemeinen Mindestlohn ab. Ist er zu niedrig, macht er keinen Sinn, ist er zu hoch, vernichtet er Arbeitsplätze. Man darf doch niemandem die soziale Kompetenz absprechen, wenn der Betreffende aus Sorge um den Verlust von Arbeitsplätzen und um die Einschränkung der Koalitionsfreiheit der Tarifvertragsparteien gegen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Zu dem Beitrag des Kollegen Rickert hat sich Frau Weisser-Roelle von der Fraktion DIE LINKE zu einer Kurzintervention gemeldet. Sie haben für 90 Sekunden das Wort.

Danke, Herr Präsident. - Herr Rickert, natürlich ist auch für die Linke die Tarifautonomie ein hohes Gut - das ist ganz unbestritten. Aber es fallen nur noch ca. 50 % der Betriebe und der Beschäftigten unter einen Tarifvertrag. Ich habe vorhin erläutert, warum das so gekommen ist.

Natürlich haben die Gewerkschaften am Anfang der Diskussion um einen Mindestlohn gesagt: Das ist unsere Aufgabe. - Die Gewerkschaften mussten aber leider erkennen, dass sie in bestimmten Bereichen keine Möglichkeit haben, Tarifverträge abzuschließen, weil sich Unternehmen ganz strikt weigern, Tarifverträge abzuschließen.

Von daher benötigen wir für diese 50 % der Menschen eine gesetzliche Lohnuntergrenze. Diese muss aber auch armutsfest sein. Wenn Sie sagen: „Um Gottes willen, bei 10 Euro gehen die Arbeitsplätze verloren“, dann sage ich: Herr Rickert, Löhne unter 10 Euro sind nicht armutsfest, bedeuten, dass weiter aufgestockt werden muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn hier von der Würde des Menschen gesprochen wird, dann muss man einmal überlegen, wo bei Ihnen die Würde des Menschen anfängt. Soll er weiter Aufstocker bleiben, oder soll er von seinem Lohn leben können? Dafür benötigt man - das

belegen alle Untersuchungen - mindestens einen Lohn von 10 Euro.

(Christian Grascha [FDP]: Bleibt die Würde erhalten, wenn der Arbeitsplatz wegfällt?)

Sie haben gesagt, für gering Qualifizierte gibt es sonst keinen Einstieg in den Arbeitsmarkt. Nach meiner Auffassung ist aber der Mindestlohn nicht für hoch Qualifizierte, sondern er ist für die Menschen da, die eine geringe Qualifizierung haben. Auch diese Menschen haben das Recht, von ihrer Arbeit leben zu können.

(Glocke des Präsidenten)

Von daher sind 10 Euro das Mindeste, um nicht unter die Armutsgrenze zu fallen.

(Ulf Thiele [CDU]: Oder 12, oder 13, und demnächst 15!)

- Ja, gerne.

(Ulf Thiele [CDU]: Ja, genau, das ist das Problem!)