Protokoll der Sitzung vom 18.07.2012

In den letzten Jahren wurden in einer Reihe von Modellprojekten verschiedene Dinge ausprobiert. Man hat überlegt, wie man Ältere mit Kulturangeboten ansprechen kann. Dazu gibt es auch Unter

suchungen. Hier wurde zwar mehrfach gesagt, dass es solche Untersuchungen nicht gibt, aber das stimmt nicht. Selbstverständlich gibt es dazu Untersuchungen. Von Frau Keuchel vom Zentrum für Kulturforschung gibt es z. B. die Untersuchung „Kultur 50+“. Wir selbst haben mit dem Landschaftsverband Südniedersachsen im letzten Jahr eine Untersuchung zu der Frage durchgeführt, wie es in der dortigen Region um die Nutzung von Kultur bestellt ist. Ergebnis war, dass Kultur dort von einem deutlich älteren Publikum wahrgenommen wird, dass also die Älteren eine höhere Kulturaktivität und ein höheres Kulturinteresse an den Tag legen als die Jüngeren.

Wir brauchen bessere Kenntnisse darüber, wie Kultur durch Ältere in Niedersachsen genutzt wird. Deswegen haben wir im Rahmen unserer Kulturentwicklungsplanung ein Kulturmonitoring in Auftrag gegeben. Darin geht es nicht nur darum, welchen Altersklassen die Nutzer bestimmter Kultureinrichtungen zuzuordnen sind, sondern insbesondere auch darum, warum diese Kultureinrichtungen von manchen gar nicht wahrgenommen werden. Diese Untersuchung läuft bereits. Die Ergebnisse werden zum Ende dieses Jahres vorliegen.

Bund und Länder veröffentlichen alle zwei Jahre gemeinsam den Deutschen Bildungsbericht. Der aktuelle Bildungsbericht, den wir vor Kurzem verabschiedet haben, enthält einen großen Sonderteil zu kulturästhetischer Bildung. Das hat viele Millionen Euro gekostet. In diesem Sonderteil wird untersucht, wie sich kulturelle Aktivitäten, Sympathien und Vorlieben über den gesamten Lebenszyklus entwickeln. Das Ergebnis widerspricht dem, was oft angenommen wird. Es zeigt nämlich, dass es zwar über das ganze Leben aktive Phasen gibt - besonders bei Kindern im Alter von 9 bis 13 Jahren -, dass es aber mit 65 Jahren zu einem plötzlichen Abbruch kommt, was das Konsumieren oder das aktive Betreiben von Kultur angeht. Diesen Fakt kann man nicht einfach ignorieren. Man muss überlegen, wie man hier gegensteuern kann. Das Wichtigste ist, für Kultur zu interessieren.

Die Untersuchung zeigt auch, dass Kultur gerade von denjenigen genutzt wird, die einen höheren Bildungsgrad aufweisen. Das heißt, dass das, was wir im Bildungsbereich tun, auch dem Kulturbereich nützt. Man muss den Begriff „Kultur für Senioren“ nicht mögen, weil man ihn möglicherweise als diffamierend empfindet. Aber die Titulierung „Kultur für Arme“ gefällt mir genauso wenig. Deswegen glaube ich, dass das, was wir jetzt gerade über drei Jahre in Osnabrück mit KAOS e. V. ma

chen werden, richtig ist: Dort wird dieses Themengebiet mit richtig viel Geld und Personal über mehrere Jahre angegangen, und dort wird überlegt, wie man gerade die sozial Schwächeren in die Kultur einbeziehen kann. Aber wir sorgen auch mit unserer regionalen Kulturförderung dafür, dass es eben nicht nur Angebote für das Bildungsbürgertum gibt.

Kultur ist ein ganz entscheidendes Mittel zur Integration in das gesellschaftliche Leben. Darauf ist noch niemand von Ihnen eingegangen, höchstens verklausuliert hinter dem Stichwort „Teilhabe“. Ich habe es schon einige Mal erwähnt: In dem Ort, in dem ich geboren wurde und in dem meine Mutter heute noch lebt - ein 120-Mann-Dorf -, leben 30 Witwen über 80 Jahre, deren Kinder, so wie ich, dort nicht mehr wohnen. Diese Frauen in das gesellschaftliche Leben zu integrieren, gelingt z. B. über Kultur oder über die Landfrauen. Das sollte man nicht unterschätzen. Da geht es also auch um die Weiterführung der normalen Kulturangebote; der Chor und andere Angebote sind ganz wichtig und werden in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir brauchen nicht spezielle Kulturangebote wie z. B. ein Seniorenmenü, sondern generationsübergreifende Angebote.

(Dr. Gabriele Heinen-Kljajić [GRÜNE]: Ja, eben!)

Ich will dazu ein Beispiel aus Oldenburg nennen. Dort haben wir mit sozioK gerade ein auf drei Jahre angelegtes Projekt für ältere Menschen, jüngere Menschen und Schulkinder genehmigt, in dem es um das Thema Tod und Sterben geht. Das ist ein Tabuthema, gehört aber in den öffentlichen Raum. Ich glaube übrigens, dass die demografische Entwicklung für mehr Normalität im Kulturbereich sorgen wird, dass es also nicht mehr so viele separate Angebote für einzelne Altersgruppen gibt, sondern mehr Angebote, bei denen darauf geachtet wird, dass sie für unterschiedlichste Altersschichten attraktiv sind.

Alle die Punkte, die hier angesprochen und durch den Antrag noch einmal in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt wurden, haben wir in unserer Kulturentwicklungsplanung im Auge, die wir mit Vehemenz vorantreiben. Wir führen dazu interessante Diskussionen, z. B. auch zum Thema der älteren Juden hier in Hannover. Das hat Konse

quenzen für die Kulturangebote. Ich denke, da kann ein solcher Antrag nur nützen. Deshalb sollte er nicht mit Ignoranz bedacht werden.

Danke schön.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zu diesem Tagesordnungspunkt liegt keine weitere Wortmeldung mehr vor. Damit sind wir am Ende der Beratung angelangt.

Wir kommen zur Abstimmung.

Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses zustimmen und damit den Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP in der Drs. 16/4321 in der sich aus der Beschlussempfehlung ergebenden geänderten Fassung annehmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Das Erste war die Mehrheit. Damit ist der Beschlussempfehlung des Ausschusses gefolgt worden.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:

Abschließende Beratung: Grundbildungspakt für Niedersachsen umsetzen! - Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP - Drs. 16/4286 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wissenschaft und Kultur - Drs. 16/4988 - Änderungsantrag der Fraktion der SPD - Drs. 16/5000

Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag unverändert anzunehmen.

Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.

Wir kommen zur Beratung. Zu Wort gemeldet hat sich die Kollegin Vockert für die CDU-Fraktion. Frau Vockert, ich erteile Ihnen das Wort. Bitte schön!

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Wanka sprach gerade von einem Tabuthema. Mit dem Antrag, zu dem ich jetzt spreche, fassen wir ein weiteres Tabuthema an.

Es gibt in Deutschland 7,5 Millionen sogenannte funktionale Analphabeten. Das sind 7,5 Millionen

Erwachsene, die beim Lesen und Schreiben Probleme haben, 7,5 Millionen Erwachsene, die zwar einige Buchstaben und Silben entziffern können, aber eben nicht mehr, und 7,5 Millionen Erwachsene, die nicht in der Lage sind, die Schriftsprache für sich im Alltag zu nutzen. Das scheint uns allen unvorstellbar. Deshalb gab es, als die leo.-Studie aus Hamburg dies aufgedeckt hat, auch einen Aufschrei unter den Bildungsbeflissenen: Was machen wir nun?

Einige Bundesländer, darunter auch Niedersachsen, haben im Vorfeld zwar schon etwas gemacht, aber wir können sicherlich noch mehr leisten. Vielleicht muss man auch eine größere Kraftanstrengung unternehmen.

Ich habe davon gesprochen, dass 7,5 Millionen Erwachsene in der Bundesrepublik Deutschland betroffen sind. In Niedersachsen sind es ungefähr 750 000 - auch das schon eine unvorstellbare Zahl. Diese 750 000 Menschen in Niedersachsen, die Worte und Texte gar nicht bzw. nur unzureichend oder fehlerhaft lesen und schreiben können, sind von der Teilhabe an Bildung und letztlich auch von der Mündigkeit ausgeschlossen. Sie müssen draußen bleiben. - Das macht betroffen.

Jetzt ist wichtig, nicht in Schockstarre zu verfallen, sondern sich z. B. mit der Ausgangslage auseinanderzusetzen. Wir reden hier im Landtag häufig über die demografische Entwicklung und den Fachkräftemangel. Wenn wir dann auch noch feststellen müssen, dass - und das ist wissenschaftlich untermauert - 14 % aller Erwerbstätigen im Alter von 18 bis 64 Jahren einen Grundbildungsbedarf haben, dann zeigt das, dass hier eine erhebliche Kraftanstrengung nötig ist, und das, obwohl - das dürfen wir nicht vergessen - unser MWK mit Frau Ministerin Wanka an der Spitze schon Millionen von Euro für Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse zur Verfügung gestellt hat.

Mit diesen Kursen konnten bisher insgesamt 10 000 Menschen gefördert werden. Angesichts von 750 000 Betroffenen allein in Niedersachsen reicht das natürlich nicht aus. Aber einzig und allein mehr Geld und mehr Kurse zu fordern, hilft nicht weiter. Vielmehr müssen wir auch überlegen, wie wir diesen Menschen helfen können, ihre Scham zu überwinden und sich entsprechend zu erkennen zu geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe großen Respekt - und hier kann ich sicherlich für uns alle sprechen - vor den 10 000 Menschen, die an diesen Kursen teilgenommen haben. Es sind Men

schen wie Ernst Lorenzen und Brigitte van der Felde, die sich jahrzehntelang versteckt haben, die sich geschämt haben, weil sie nicht lesen und schreiben konnten. Erst als nichts mehr ging, als der Druck für sie unerträglich wurde, haben sie sich als Analphabeten zu erkennen gegeben und in, wie ich finde, vorbildlicher Weise eine ABCSelbsthilfegruppe in der VHS Oldenburg gegründet. Bis dahin war das Leben für sie ein Versteckspiel voller Ausreden, mit vielen Mühen und Anstrengungen im Alltag verbunden. Wie gesagt, das ist für uns alle sicherlich unvorstellbar.

Ich sagte schon: Das Zurverfügungstellen von Mitteln allein reicht nicht aus. Hier ist auch die Politik gefordert. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass diese Menschen aus dieser, ich sage einmal, Schamzone herausgeführt werden. Dazu müssen wir alle an einem Strang ziehen, zusammen mit dem Bund, den Kommunen, der Wirtschaft, den Gewerkschaften, der Bundesanstalt für Arbeit, den Kirchen und den Erwachsenen- und Weiterbildungseinrichtungen. Wir alle sind gefordert, uns für arbeitsplatznahe bedarfsgerechte Alphabetisierungs- und Grundbildungsprogramme einzusetzen. Wir alle sind gefordert, eine Atmosphäre zu schaffen, die den Betroffenen zeigt, dass sie keine Angst haben müssen, wenn sie sich outen, wenn sie sich mit ihrem Problem zu erkennen geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen gemeinsam deutlich machen, dass wir funktionale Analphabeten nicht als Randfiguren der Gesellschaft ansehen,

(Beifall bei der CDU)

sondern als Menschen, die mitten in der Gesellschaft leben und dort auch Erfolge haben können. Man muss sich nur einmal mit einigen von ihnen unterhalten. Ich habe das getan und muss sagen: Hut ab! Sie haben zum Teil bis ins hohe Alter ihr Leben erfolgreich gemeistert, haben bewundernswerte Fähigkeiten und enorme Stärken entwickelt.

Daher sind wir davon überzeugt, dass es sinnvoll ist, in Niedersachsen eine Grundbildungslandschaft aufzubauen. Regionale Grundbildungszentren für Alphabetisierung können ein Schlüssel zur Enttabuisierung dieses Themas und zum Aufbrechen des Schamgefühls der Betroffenen sein. Die Volkshochschulen haben bereits unter Beweis gestellt, dass sie die Kompetenzen dafür haben. Ich freue mich auch riesig darüber, dass das Wissenschaftsministerium, Frau Ministerin Wanka, bereits eine Anschubfinanzierung von 125 000 Euro geleistet hat und an fünf Standorten in Nie

dersachsen regionale Grundbildungszentren für Alphabetisierung eingerichtet werden.

Genauso wichtig ist hier aber auch der Bereich der frühkindlichen Bildung. Wir sprachen bereits heute morgen davon, dass Sprachförderung von Anfang an wichtig und notwendig ist. Auch das haben wir in unserem Antrag noch einmal explizit hervorgehoben.

Helfen Sie also mit, die Betroffenen aus der Tabuecke zu holen. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass sich die Zahl der funktionalen Analphabeten reduziert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer kann dazu schon Nein sagen?

(Beifall bei der CDU)

Als Nächster Redner hat Herr Kollege Wulf für die SPD-Fraktion das Wort. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie Frau Vockert gerade dargelegt hat, haben wir in der Bundesrepublik in der Tat ein Problem mit dem Analphabetismus und der Grundbildung. Die Untersuchung, auf die sie hingewiesen hat, der leo. - Level One Survey, macht deutlich, dass - ich möchte das noch ein wenig ausführlicher darstellen, als Frau Vockert es getan hat -, ca. ein halbes Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung, also 300 000 Menschen, noch nicht einmal auf der Wortebene lesen und schreiben, also möglicherweise noch nicht einmal ihren eigenen Namen richtig schreiben können.

Fast 4 % unserer Bevölkerung - das sind ca. 2 Millionen Menschen - können nur ganz wenige Worte lesen und schreiben. Und 10 % unserer Bevölkerung können zwar dies tun, aber zusammenhängende Texte weder schreiben noch inhaltlich erfassen. Meine Damen und Herren, das sind insgesamt 14,5 % unserer Bevölkerung, sprich die 7,5 Millionen Menschen, die Frau Vockert als funktionale Analphabeten bezeichnet hat; das ist der entsprechende Fachbegriff. Aber dabei bleibt es nicht. Darüber hinaus gibt es weitere 13,3 Millionen Menschen, deren Schriftsprache trotz eines vorhandenen Wortschatzes massiv fehlerhaft ist.

Das, meine Damen und Herren, muss man sich einmal vergegenwärtigen! Wenn man beides addiert, dann heißt das, dass 40 % der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands Wörter und Texte entweder gar nicht, unzureichend oder nur fehlerhaft

lesen und schreiben können. Ich finde, das ist für ein Land wie die Bundesrepublik nicht haltbar.

Hierbei muss man auch berücksichtigen, dass der größte Teil derjenigen, die davon betroffen sind, berufstätig ist. Das heißt, viele Menschen können trotz dieser Handicaps im Alltagsleben bestehen. Aber welche psychischen Belastungen und Probleme gehen damit einher? Welche Möglichkeiten zur Entwicklung der Persönlichkeit oder der Karriere gehen diesen Menschen dadurch verloren? Denn man muss ja voraussetzen, dass derjenige, der keine Texte verstehen kann und der es vermeidet, sie zu gebrauchen, um sich zu informieren oder mitzudiskutieren, am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen kann.

Meine Damen und Herren, das können wir als Gesellschaft einfach nicht akzeptieren. Daher sind Alphabetisierungskurse und Kurse zur Entwicklung von Grundbildung in Lesen, Rechnen und Schreiben angesagt. Dazu hat es jetzt den Nationalen Pakt für Alphabetisierung und Grundbildung gegeben. Die KMK hat am 8. Dezember 2011 einen Maßnahmenkatalog entwickelt. Darin ist zwar viel von „Prüfen“ und „Austauschen“ die Rede, aber es werden leider nur wenige Maßnahmen genannt, die konkret ergriffen werden sollten. Von der Bundesregierung wird dabei auf die Länder verwiesen. Aber das, meine Damen und Herren, reicht uns als SPD-Fraktion nicht.

(Beifall bei der SPD)

Es muss mehr getan werden als das, was die Bundesregierung und die KMK vorhaben. So muss die Zahl der Plätze für die Lernenden bundesweit deutlich erhöht werden. Die Anzahl der Kursplätze ist von derzeit 20 000 auf 100 000 pro Jahr auszubauen.

(Victor Perli [LINKE]: Wenig ambitio- niert!)