Protokoll der Sitzung vom 15.01.2009

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Danke schön, Frau Pieper. - Nun hat ebenfalls von der CDU-Fraktion Herr Dr. Matthiesen das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Fraktion schreibt in wesentlichen Teilen den Antrag der Linken „Für ein soziales Europa“ vom November 2008 ab und läuft der Linken hinterher. Ob das richtig ist, muss die SPD mit sich selbst abmachen.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Gute Sachen kann man nicht oft genug sa- gen!)

Nicht hinzunehmen ist aber, dass der Antrag im Vorfeld der EU-Wahl die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinters Licht führen soll und die Tatsachen auf den Kopf stellt.

Er stellt nämlich zu Unrecht auf eine auf Marktöffnung verengte Europapolitik der Landesregierung und die Reduzierung der Europäischen Integration auf einen funktionierenden Binnenmarkt ab. Das ist so ein bisschen Spielen mit dem Feuer antieuropäischer Ressentiments, nach dem Motto: Die EU ist gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dafür brauchen wir dann SPD und Linke. - So einfach ist es jedoch nicht.

Der entscheidende Punkt ist doch, dass wir darauf hinwirken, dass der Lissabonner Vertrag unverzüglich in Kraft tritt und dass die Iren nun zustimmen.

(Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Das über- lassen Sie doch bitte den Iren!)

Zu Ihrem Antrag möchte ich zwei Punkte anführen.

Europa ist schon sozial. Die Mitgliedstaaten haben die verschiedenen Sozialmodelle unterschiedlich verwirklicht, angelsächsisch-liberal, kontinentaleuropäisch und skandinavisch. Flankierend greift die EU-Kommission ein und fördert die Zusammenarbeit. Schon jetzt ist die europäische Marktwirtschaft eine soziale Marktwirtschaft. Sie umfasst das Sozialrecht, den sozialen Schutz, das Arbeitsrecht und den Arbeitsschutz sowie die Gleichstellung von Mann und Frau.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Das sieht man aber in Teilen nicht!)

Dafür gibt es auch eine ganze Reihe von Stationen, die die Europäische Union schon durchlaufen hat und die sich jetzt im Lissabonner Vertrag kumulieren und ganz neu im Juli in der erneuerten Sozialagenda mit 19 Initiativen auf den unterschiedlichsten Feldern ihren Niederschlag finden.

Jetzt noch kurz zu der sozialen Fortschrittsklausel, die ja eine Wunderwaffe sein soll. Sie ist nicht notwendig, weil nämlich Artikel 2 des Lissabonner Vertrages erstmals ausdrücklich den Begriff der sozialen Marktwirtschaft in den EU-Vertrag einführt und die Union verpflichtet, auf eine im hohen Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft mit Vollbeschäftigung und sozialem Fortschritt hinzuwirken.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Damit erübrigt sich die in dem Antrag der SPD und auch in dem Antrag der Linken geforderte soziale Fortschrittsklausel im EU-Primärrecht. Das Schöne dabei ist, dass die Sozialdemokraten im EPBeschäftigungsausschuss die Verankerung der sozialen Fortschrittsklausel im Primärrecht der EU gerade abgelehnt haben. Warum Sie das hier anders machen, weiß ich nicht.

Jetzt wird es sehr spannend. Wie genau der Lissabon-Vertrag ist, habe ich mir einmal herausgesucht. In Artikel 151 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU steht, dass die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - die haben wir schon - aus der Gemeinschaftscharta von 1989 rechtsverbindlich und vor dem EuGH einklagbar sind und damit als Korrektiv gegenüber der Gesetzgebung des EU-Parlaments wirken können, gerade was die Bereiche Beschäftigungsförderung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie des sozialen Schutzes.

Zentral ist die Spezialvorschrift des Artikels 152 AEUV. Damit wird nämlich jetzt die zentrale Rolle der Sozialpartner auf EU-Primärrechtsebene klargestellt:

„Die Union anerkennt und fördert die Rolle der Sozialpartner auf Ebene der Union unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme. Sie fördert den sozialen Dialog und achtet dabei die Autonomie der Sozialpartner.“

Das bedeutet, dass in Europa Streikrecht, Tarifautonomie, angemessene Löhne, Mitbestimmung und Arbeitnehmerschutzrechte nicht ausgehebelt werden und nicht hinter den wirtschaftlichen Grundfreiheiten zurückstehen müssen, sondern da eine Balance zu wählen ist. Ihr Schluss, dass die sozialen Belange hinter den wirtschaftlichen Grundfreiheiten allgemein zurückzustehen hätten, ergibt sich auch nicht aus den Urteilen, die Sie genannt haben. Das sind punktuelle Entscheidungen. Es gibt auch andere Entscheidungen, die arbeitnehmerfreundlich sind, z. B. zu den Bereitschaftszeiten des Pflegepersonals.

Wichtig ist, jetzt nachzusteuern, wo es sein muss. Insofern werden wir natürlich über die Entsenderichtlinie zu diskutieren haben. Aber die ist ja in Deutschland nicht einmal ausgeschöpft worden. Jetzt werden gerade weitere Branchen aufgenommen. Wir sind dafür; es ist gut, dass das vorges

tern gelaufen ist. Da werden wir noch einiges zu diskutieren haben. Aber insgesamt stimmt die Richtung in Europa, und diese Anträge sind deswegen von gestern.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herzlichen Dank. - Für die FDP-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Riese das Wort. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann mich kurz fassen, weil die wesentlichen Dinge schon gesagt sind. Ich muss Ihnen allerdings mitteilen, dass ich es doch einigermaßen kurios finde, dass Frau Kollegin Flauger von der Linken hier zu diesem Zeitpunkt einen Aufruf zur Erhöhung der Wahlbeteiligung einfordert, nachdem es, wie sie selbst vor wenigen Minuten hier bekannt hat, besonders die Linken sind, die den Vertrag von Lissabon in Bausch und Bogen ablehnen,

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

der Europa, wie wir alle wissen, demokratisiert und dem Parlament Initiativrechte und bessere Kontrollmöglichkeiten verschafft. Das ist ein Widerspruch, den Sie im Ausschuss werden klären müssen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Zum Antrag der SPD-Fraktion hat Herr Kollege Matthiesen schon einiges Wertvolles ausgeführt. Er hat insbesondere in Erinnerung gerufen, dass Europa bereits sozial ist. Auch hier ist noch einmal der Vertrag von Lissabon zu nennen, der die soziale Marktwirtschaft hervorhebt und auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt.

Die Formulierung, die hier von der SPD vorgeschlagen wird, ist ein Auszug aus dem Wahlprogramm der SPD für Europa. Das lesen nicht nur Sie, Herr Tanke, sondern auch Ihre politischen Mitbewerber. Allerdings ist die „soziale Fortschrittsklausel“ ein Begriff, den Sie noch fleißig penetrieren müssen. Sie sind dort nämlich auf dem Weg, den Ihre - von Ihnen aus gesehen - rechten Nachbarn - von mir aus gesehen sitzen sie links - in die politische Debatte einführen.

(Hans-Henning Adler [LINKE]: Warum lernen nicht auch Sie dazu? Das muss doch nicht ein Privileg der SPD sein!)

Mit dem Begriff „soziale Fortschrittsklausel“ soll ein bestimmtes Denkfeld besetzt werden. Damit soll ein Markenzeichen geschaffen werden. Aber - Herr Matthiesen hat es ausgeführt - der soziale Fortschritt ist in Europa verankert, und zwar natürlich mit der Zustimmung der Nationalstaaten.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Allerdings funktioniert Europa für weite Rechtsbereiche als Koordinationsebene für die Politiken der Nationalstaaten. Die Subsidiarität ist ein hoher Wert. Es gibt viele Gründe, warum wir sie in Deutschland und auch in Niedersachsen brauchen. Wir halten an der Eigenstaatlichkeit fest. Der Vergleich von Politikansätzen und das Suchen nach den besten Lösungen sind das richtige Instrument in Europa, nicht die originäre Rechtsetzung, die uns jeden einzelnen Handgriff vorschreibt. Dazu ist Europa zu groß und lebt es zu sehr von der Vielgestaltigkeit.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Meine Damen und Herren, in dem Antrag habe ich an zwei Stellen das schöne Wort „neoliberal“ gelesen. Wenn ein Liberaler das Wort „neoliberal“ liest, dann hat er immer ein bisschen das Gefühl, dass da ein Kampfbegriff aufgestellt werden soll, der Gut und Böse voneinander unterscheiden soll.

(Ralf Borngräber [SPD]: Das ist ja auch so!)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einmal in die Geschichtsbücher blicken. Wann ist der Begriff „Neoliberalismus“ erstmals benutzt worden? - Das war im Jahre 1932 bei einer internationalen Konferenz in Paris. Der Vordenker dieser Konferenz war der deutsche Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Alexander Rüstow. Mit seinem Zitat möchte ich meine Ausführungen heute beschließen. Herr Rüstow hat im Jahre 1932 gesagt:

„Der neue Liberalismus jedenfalls, der heute vertretbar ist und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört.“

(Detlef Tanke [SPD]: Daran sollten sich die Neoliberalen einmal halten!)

„Und mit diesem Bekenntnis zum starken Staat“

- verehrte Herr Tanke -

„im Interesse liberaler Wirtschaftspolitik und zu liberaler Wirtschaftspolitik im Interesse eines starken Staates - denn das bedingt sich gegenseitig -, mit diesem Bekenntnis lassen Sie mich schließen.“

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Herzlichen Dank. - Zu einer Kurzintervention auf die Rede von Herrn Riese erteile ich Frau Kollegin Flauger von der Fraktion DIE LINKE das Wort. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Riese, natürlich lehnt die Linke den Lissabon-Vertrag nicht in Bausch und Bogen ab. So etwas haben wir nie gesagt, und das würden wir auch nicht sagen. Er bringt unbestritten in manchen Punkten Fortschritte. Aber ich habe auch dargelegt, was für uns an dieser Stelle absolute K.-o.-Kriterien sind.

An anderer Stelle schwingt immer die Diktion mit - bei Ihnen jetzt nicht ganz so stark -, wer gegen den Lissabon-Vertrag sei, habe jedes Recht verwirkt, für sich in Anspruch zu nehmen, für Europa insgesamt zu sein, und habe kein Anrecht mehr darauf, sich in diesen Prozess einzubringen.

(David McAllister [CDU]: Sie polemi- sieren wieder!)

Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass die CSU bei der Schlussabstimmung im Parlamentarischen Rat gegen das Grundgesetz gestimmt hat, weil es ihr nicht föderalistisch genug war. Nichtsdestoweniger würde doch niemand jetzt der CSU das Recht absprechen, sich vernünftig in den weiteren Prozess einzubringen. Insofern bitte ich, da einfach einmal ein paar Abstriche zu machen und zur Kenntnis zu nehmen, dass, wie Herr Tanke gesagt hat, jeder Mensch und jede Partei die unterschiedlichen Punkte im Lissabon-Vertrag gegeneinander abwägen muss. Da kann ich nur sagen: Für uns haben soziale Grundrechte und Frieden einen derart hohen Stellenwert, dass das für uns Grund genug war, den Lissabon-Vertrag abzulehnen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Nichtsdestoweniger werden wir uns natürlich konstruktiv und vernünftig in den weiteren Prozess einbringen. Sonst hätten wir doch nicht einen sol