Protokoll der Sitzung vom 28.10.2009

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Mai 2006 hatten sich die Länder auf Maßnahmen zur höheren Inanspruchnahme und Verbindlichkeit von Kindervorsorgeuntersuchungen verständigt. Viele Bundesländer haben dies dazu genutzt, relativ zügig weitreichende Kinderschutzgesetze vorzulegen, nicht so allerdings Niedersachsen. Hier sind die Sozialministerin und die Koalitionsfraktionen leider allenfalls Spitzenreiter, wenn es um Erklärungen zum Kinderschutz geht, allerdings nicht bei der Umsetzung. Vier Jahre lang kündigte die Sozialministerin fast monatlich mit blumigen Worten die Vorlage eines Gesetzentwurfs an. Immerhin gab es dann zwei Jahre später die erlösende Aussage der Ministerin - ich zitiere -:

„Das Ministerium arbeitet auf Hochtouren, um noch in diesem Jahr ein entsprechendes Gesetz vorzulegen.“

Frau Ministerin, entweder sind Sie bei diesem Kraftakt mit Ihrem Haus heiß gelaufen, oder der Kolbenfresser hat Sie erwischt, denn es hat immerhin weitere anderthalb Jahre gedauert, bis wir endlich ein Gesetz bestaunen konnten.

Das dann vorgelegte Gesetz, das heute hier zur Abstimmung steht, ist nach unserer Auffassung an Substanzlosigkeit, Unentschlossenheit und Lustlosigkeit nicht mehr zu toppen.

(Beifall bei der SPD)

Der mit großem Abstand stärkste Teil dieses Gesetzes ist die Begründung. Darin stellen Sie fest - ich zitiere -:

„Dieses Gesetz dient der Verbesserung der Kindergesundheit und dem Schutz von Kindern vor Vernachlässigung und Misshandlung.“

Schön wäre es, meine Damen und Herren, aber im Gesetzentwurf kommt der Schutz vor Vernachlässigung und Misshandlung kein einziges Mal vor, noch nicht einmal bei der Benennung der Gesetzesziele.

Sie schreiben etwas über die Notwendigkeit von Vernetzung, früheren Hilfen und verlässlicher und verbindlicher Kooperation auf der kommunalen Ebene. Okay, auch das fordern wir schon lange. Aber auch dazu findet sich im Gesetz kein Wort.

Sie schwadronieren von Gesundheitszielen und der Bekämpfung von Übergewicht und Bewegungsmangel bei jungen Menschen. Das stimmt; dem stimmen wir in diesem Hause wahrscheinlich alle zu. Für den Gesetzestext gilt aber: absolute Fehlanzeige.

Ich finde, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sehen anders aus. Gerade beim Kinderschutz ist das, was Sie hier machen, ganz besonders bitter.

(Beifall bei der SPD)

Bei Ihrem Gesetz geht es eben nicht um verbindliche Vorsorgeuntersuchungen von Kindern, sondern es geht um ein reines Melderegister mit einem im Übrigen wahnwitzigen Verwaltungsaufwand, bezeichnenderweise von einer Landesregierung, die in der Regel Bürokratieabbau wie eine Monstranz vor sich herträgt. Es handelt sich um ein Gesetz, bei dem der Bruch der Landesverfassung durch die Missachtung der Konnexität ein

deutig vorliegt. Verfassungsbruch ist bei dieser Landesregierung durchaus an der Tagesordnung. Ich erinnere nur an die Landeskrankenhäuser und ähnliche Vorkommnisse.

(Beifall bei der SPD)

Im März 2009 hat der Sozialausschuss 13 Fachverbände zu diesem Gesetzentwurf angehört. Bis auf die Hausärzte haben alle anderen Verbände den Gesetzentwurf zerrissen.

(Roland Riese [FDP]: Nein!)

Der öffentliche Gesundheitsdienst sagte - ich zitiere -:

„Im vorgelegten Gesetz wird keinerlei Interesse deutlich, die Gesundheitsrisiken der Kinder zu reduzieren. Stattdessen werden die Eltern mit dem Verdacht der Kindeswohlgefährdung konfrontiert, was für uns fachlich sehr befremdlich ist. Dieses Gesetz kann allenfalls eine mäßige Verbesserung der Kindergesundheit, nichts jedoch für den Kinderschutz erbringen.“

Die Ärztekammer stellt ergänzend fest:

„Wenn überhaupt, sollte vor Ort das Gesundheitsamt tätig werden und nicht das Jugendamt, das von vielen als Drohgebärde empfunden wird.“

Die Kinder- und Jugendärzte ergänzen:

„Wenn Kinder über die Meldebehörde nach verpasster Untersuchung erneut aufgefordert werden, fallen die Untersuchungskosten mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr in die Leistungspflicht der Kassen, da die Fristen verstrichen sind. Die Eltern bleiben so auf den Kosten sitzen.“

Der Landesbeirat für Kinder- und Jugendhilfe bittet:

„Wir sehen keine Notwendigkeit, das Gesetz einzuführen. Verzichten Sie darauf.“

Am deutlichsten, meine Damen und Herren, sagen es die kommunalen Spitzenverbände - ich zitiere -:

„Das Gesetz erreicht nicht das Ziel, schützt keine Kinder, behindert die Arbeit der Jugendhilfe und zerstört das Vertrauensverhältnis in die Jugendhilfe. Die Landesregierung bietet

Bürokratie statt Hilfe und belastet die Kommunen, ohne den in der Verfassung vorgesehenen Ausgleich zu leisten. Deshalb lehnen wir, die kommunalen Spitzenverbände, diesen Gesetzentwurf rundheraus ab.“

Ich finde, deutlicher kann man das nicht sagen.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Ich will nur einmal ergänzen: In der Jägersprache nennt man so etwas wohl „Blattschuss“.

Daraufhin haben auch Sie reagiert. Sie haben dieses Gesetz erst einmal für sechs Monate auf Halde gelegt. Erschütternd ist allerdings das Ergebnis Ihrer Auszeit - Sie machen damit nämlich die gesamte Fachanhörung zur absoluten Farce -: Der Gesetzentwurf wird heute ohne jede Änderung durch dieses Parlament gepeitscht. Dazu sage ich Ihnen: Wenn jemand so mit Fachanhörungen, mit der Fachkompetenz der versammelten Szene in der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Medizin umgeht, dann muss ich mich schon fragen, wie weit man inzwischen in dieser Regierung abgehoben sein muss, um so zu handeln, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

350 000 Einladungen werden Sie zukünftig jährlich an Eltern versenden. Wenn nur bei 10 % dieser Einladungen keine Rückmeldungen erfolgt - in den anderen Bundesländern sind das bis zu 15 % -, wenn Niedersachsen also den Wert der anderen Bundesländer unterschreitet, es also nicht mehr als 10 % wären, dann kippen Sie jedem Jugendamt in Niedersachsen 700 Adressen vor die Tür und lassen es mit Arbeit und Kosten allein. Ich finde, das ist im hohen Maße unseriös, unverantwortlich und hat mit ernsthaftem Kinderschutz nichts, aber auch überhaupt nichts zu tun.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Sie, Frau Ministerin, machen das mit Jugendämtern, von denen Sie genau wissen, dass sie schon heute völlig überlastet sind, die allerdings dazu gezwungen sind, bei der Verdachtsvermutung der Kindeswohlgefährdung jeder Adresse nachzugehen. Da prahlt diese Landesregierung mit der Schuldenbremse und dem Zukunftsvertrag mit den Kommunen. Wenn es aber darauf ankommt,

schlägt sie sich in die Büsche, allen voran übrigens der Ministerpräsident, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Die SPD-Fraktion beweist mit dem heute eingebrachten Kinderschutzgesetz übrigens, dass es auch anders geht. Wir orientieren uns dabei an den Landesgesetzen von Rheinland-Pfalz, teilweise ergänzt um Regelungen aus BadenWürttemberg und um unser bekanntes Kinderschutzprogramm.

Erstens. Im Vordergrund steht die Unterstützung der werdenden Eltern durch frühe, aufsuchende Hilfe durch Familienhebammen oder Kinderkrankenschwestern. Wir wissen, dass Erziehungskompetenz heute nicht mehr automatisch vererbt wird und dass eine Überforderung der Eltern die wichtigste Ursache für Kindesmisshandlungen darstellt. Deshalb stellen wir jedem Jugendhilfeträger 200 000 Euro jährlich für frühe Hilfen zur Verfügung. Wir stellen uns, anders als die Landesregierung, dieser Landesverantwortung und schieben die Finanzierung nicht ausschließlich den überlasteten Kommunen zu.

Zweitens. Im Einzugsbereich jedes Jugendhilfeträgers gibt es nach unserem Konzept mindestens eine Anlaufstelle für hilfesuchende Kinder und Erziehungsberechtigte. Dabei sollen vorhandene Angebote auch vernetzt werden. Im ersten Schritt werden so 50 weitere Familienzentren geschaffen.

Drittens. Anders als es die Landesregierung vorsieht, aber im Einklang mit den meisten anderen Bundesländern werden Eltern vom medizinischen Fachpersonal zur Kindervorsorgeuntersuchung motiviert. Die Einladung kommt vom Landesgesundheitsamt. Im Falle eines Versäumnisses schaut das örtliche Gesundheitsamt mit seinen qualifizierten Kinder- und Jugendärzten vorbei.

Meine Damen und Herren, es geht um Hilfestellungen für Eltern und Kinder und nicht um Drohgebärden mit dem jeweiligen Jugendamt.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Wer so vorgeht wie diese Landesregierung, der schüttet das Kind im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Bade aus. Erst wenn die Kontaktaufnahme zu den Eltern erfolglos verläuft und sich wirklich Verdachtsmomente einer Kindeswohlgefährdung ergeben, wird das Jugendamt eingeschaltet. Sofern dann die Kostenübernahmeverpflichtung für

die Krankenkassen entfallen ist, erfolgt die Untersuchung zulasten des Gesundheitsamtes. Im Rahmen der Konnexität werden die Kosten vom Land erstattet.

Viertens. Die Erkenntnisse aus den Untersuchungen nutzen wir zur Erstellung eines Landeskinderschutzberichtes, um die Umsetzung und Auswirkungen im Sinne der Förderung von Kindeswohl und Kindergesundheit zu erkennen und weiterzuentwickeln. Bekanntlich haben wir in Niedersachsen nach wie vor keinerlei Basisdaten über den tatsächlichen Zustand der Kindergesundheit. Meine Damen und Herren, ich finde, dieser Zustand ist nicht mehr hinnehmbar. Wir brauchen dringend diese Materialien und Informationen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Wir wollen damit aufhören, dass in Niedersachsen nur sonntags über Kinderschutz geredet wird, sondern wir wollen, dass endlich werktags für den Kinderschutz gehandelt wird. In einem Land, meine Damen und Herren, wo wöchentlich zwei bis drei Kinder an den Folgen von Misshandlungen oder Gewaltanwendungen sterben, ist jede Ebene gefordert, und zwar nicht nur mit Pressemitteilungen.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Da reicht es nicht, wenn Sie hier die Publicity machen und die Kommunen bezahlen müssen. Wir wollen es einfach nicht länger zulassen, dass sich diese Landesregierung beim Kinderschutz dauernd aus der Verantwortung stiehlt, meine Damen und Herren.