Meine Damen und Herren, das waren repräsentative Überschriften deutscher Zeitungen in den letzten Tagen.
Nicht nur die Kommentatoren sehen das so, meine Damen und Herren. Eine Meinungsumfrage heute stellt fest: 69 % der Deutschen halten diese Koalitionsvereinbarung für Unfug.
ist denn in den letzten Tagen in Berlin alles schiefgegangen? Die sind doch alle Profis, Herr Wulff!
Ich glaube, das liegt an zwei Dingen. Erstens. In der CDU gibt es einen marktradikalen Flügel, der in den letzten vier Jahren nicht zum Zuge gekommen ist. Die sehen jetzt Licht am Ende des Tunnels und wollen jetzt erst einmal ordentlich mitmischen. Das ist ja auch nachvollziehbar.
Zweitens. Elf Jahre Entzug für eine Funktionspartei sind ein verdammt hartes Brot, Herr Dürr. Das führt dazu, dass man mit der Realität fremdelt. In Berlin geht es derzeit nach dem Motto „FDP trifft auf Wirklichkeit“. Das kann ja auch nicht gut gehen, meine Damen und Herren!
Wir sehen die krampfhaften Versuche, die Wirklichkeit für die FDP zurechtzubiegen. Deshalb kommt man mit Aussagen wie „Wir müssen Kassensturz machen“ und „Wir müssen besenrein übergeben“. Ich finde dieses Bild schon spannend. Aber wir leben in Deutschland nicht in einer Bananenrepublik. Die große Koalition hat unter der Führung von Frau Merkel und Herrn Steinbrück in den letzten Jahren Konsolidierungspolitik in Berlin gemacht. Für das Jahr 2011 war in Berlin ein ausgeglichener Haushalt vorgesehen. Das weiß auch Herr Fricke von der FDP, der Vorsitzende des Haushaltsausschusses in Berlin.
Im Moment sind als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise alle öffentlichen Haushalte zerschossen, der Bundeshaushalt ebenso wie die Haushalte der Länder. Das spüren wir hier auch. Alle Beschlüsse, die seit September des letzten Jahres in Berlin gefasst wurden - Bankenrettungsschirm, Konjunkturpaket I, Konjunkturpaket II -, wurden mit Zustimmung der FDP - im Bundestag teilweise, im Bundesrat immer - gefasst. Die aktuelle Finanzsituation in Berlin basiert also auf der Beschlusslage der Großen Koalition und der bisherigen Oppositionspartei FDP. Deshalb kann man jetzt nicht mal eben abtauchen und sagen „Wir fangen hier ganz neu an“. Meine Damen und Herren, das merkt jeder und ist nur peinlich.
Üblicherweise nennt man so etwas Vernebelung. In diesem Fall passt das Wort „Verniebelung“ vielleicht besser.
Die Idee war schon spannend, eine besenreine Übergabe zu fordern und bei der Gelegenheit einen Schattenhaushalt zu bauen. Am tollsten fand ich die Aussage von Herrn Niebel in den Tagesthemen. Als ihm vorgehalten wurde, die FDP sei doch immer gegen einen Schattenhaushalt gewesen, sagte er: Das ist ja gar kein Schattenhaushalt, das ist ein Nebenhaushalt.
Daraufhin habe ich in den Beschlüssen des Bundesparteitags der FDP aus dem Jahre 2005 nachgesehen, Herr Dürr. Und was steht da? „Nebenhaushalte lehnen wir rigoros ab“. Herr Dürr, das war nichts, diese Nummer ist schiefgegangen.
Für 2009 haben Sie ja gekuscht. Aber wer richtig lesen kann, der weiß: Für 2010 ist genau dieser Nebenhaushalt vorgesehen, meine Damen und Herren. Das ist die Ernsthaftigkeit, mit der Sie das Thema Schuldenbremse und Schuldenrückführung bearbeiten! Sie machen gerade das Gegenteil, und zwar mit vollen Händen, meine Damen und Herren.
Ich habe mir diese 124 Seiten - ich hoffe, das ist noch im Umbruch - angesehen, Herr Wulff, und muss dazu wirklich sagen: Dieser Koalitionsvertrag kommt mir vor wie der Fehldruck eines Romans: Immer wenn es spannend wird, fehlt eine Seite.
Es gibt einen Kollegen von Ihnen, den Herrn Müller, der die Koalitionsvereinbarung - ich weiß nicht, ob aus Versehen oder mit Absicht - „Diskussionsvereinbarung“ genannt hat. Ich finde, damit hat er ganz schön recht: Dieser Koalitionsvertrag ist eher eine schriftliche Verabredung, worüber in den nächsten vier Jahren diskutiert und gestritten werden soll. Das kann man ja so machen. Dagegen ist im Prinzip nichts zu sagen. Aber ein Koalitionsver
trag soll eigentlich darlegen, was durch eine neue Mehrheit gemacht wird. Davon ist da aber wenig drin. Deswegen gilt auch nicht der alte Satz von Frau Merkel, dass jetzt durchregiert werden kann. Auf der Basis dieser schriftlichen Vereinbarung kann allenfalls durchkommissioniert werden. Mehr ist da nicht drin, meine Damen und Herren.
Wir haben uns die Mühe gemacht zu prüfen, was jetzt alles in Kommissionen gegeben wird: Systemwechsel in der Krankenversicherung, Ausstieg aus Staatsbeteiligungen, Neuordnung der Gemeindefinanzierung, Systemumstellung bei der Umsatzsteuer, regionale Öffnungsklauseln beim Aufbau Ost. Man kann sagen: Alles, was wichtig ist, und alles, was umstritten ist, wird erst einmal in eine Kommission gegeben, meine Damen und Herren. - Das ist Ausweis von zupackendem Regierungshandeln, wie wir es uns von Ihnen immer gewünscht haben!
Aber ich muss eine Einschränkung machen: Vor dem Hintergrund dieser bestehenden Kommissionitis ist die bemerkenswerte Detailtreue, die der Text daneben aufweist, ungewöhnlich. Das betrifft z. B. Unternehmenssteuern. Darin sind Detailregelungen zu Verlustabzugsbeschränkungen sowie Zinsabzugsbeschränkungen enthalten. Da gibt es sogar eine Aussage zum Thema „Erhöhung der Jahreswagenrabatte“, meine Damen und Herren. Da gibt es eine klare Ansage, dass Steuerberatungskosten wieder abgesetzt werden können. Alles, was eine Klientel der FDP von Herzen schätzt, ist in diesem Vertrag abschließend und im Detail geregelt, meine Damen und Herren. Klientel war selten weniger als das, was hier in diesem Teil angekommen ist.
Auch bei einem Thema, das uns sehr am Herzen liegt, beim Thema Mindestlöhne, werden Sie konkret. In dieser Koalitionsvereinbarung ist ein Mindestlohn für Ärzte und Zahnärzte garantiert, meine Damen und Herren - aber nur für diese beiden Berufsgruppen. Sämtliche anderen Leistungsträger der Gesellschaft, bei denen es schon Mindestlöhne gibt, haben zu erwarten, dass ihre überprüft werden, und weitere Mindestlöhne wird es nicht
Dann sind Sie auf den grandiosen Gedanken gekommen, man müsse beim Thema „Absicherung von Löhnen“ auch irgendein Signal geben. Ich weiß nicht, wer Ihnen da etwas eingeredet hat. Das vorgesehene Gesetz gegen sittenwidrige Löhne ist Schaumschlägerei; denn es basiert darauf, wie Gerichte heute entscheiden. Das aber nur nebenbei. Aber was machen Sie mit einem solchen Gesetz? - Sie sanktionieren durch den Gesetzgeber, dass eine Friseuse in Sachsen in Zukunft 2,04 Euro - - -
- Ich habe einen Mann als Friseur. Deshalb weiß ich das nicht so genau. Entschuldigung. Das mag sein. Selbstkritik. - Sie nehmen in Kauf und geben dafür den gesetzlichen Status, dass eine Friseurin in Sachsen 2,04 Euro verdient. Ab 2,03 Euro ist es sittenwidrig, meine Damen und Herren!
Sie nehmen in Kauf, dass im Bewachungsgewerbe in Berlin jemand für 3,66 Euro arbeiten muss. Wenn er weniger verdient, dann zieht Ihr Gesetz, meine Damen und Herren. Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Es gibt in Deutschland Millionen, die von Hungerlöhnen leben müssen. Sie sollten sich schämen, für einen solchen Ansatz ein Gesetz zu machen und dies auch noch gesetzlich zu sanktionieren!
- Sie, meine Damen und Herren, begünstigen den Niedriglohnsektor - das ist so -, weil Sie geradezu nahelegen, dass da noch Luft nach unten ist. Sie erzählen immer etwas über Leistungsbereitschaft. Es gibt aus guten Gründen so etwas wie ein Lohnabstandsgebot, das in Deutschland inzwischen leider nur noch mit Füßen getreten wird. Dieser Gesetzentwurf, den Sie vorhaben, ist ein Angriff auf die Leistungsbereitschaft der bisherigen Leistungsträger in Deutschland! Das ist unser Vorwurf.
Wir reden nicht über Nebensächlichkeiten. Mehr als 20 % der Beschäftigten in Niedersachsen sind im Niedriglohnsektor, meine Damen und Herren. Die Regionaldirektion der Arbeitsverwaltung zahlt im Jahr allein 420 Millionen Euro für Aufstocker dazu. Das sind öffentliche Gelder, mit denen substituiert wird, dass sich Unternehmen weigern, angemessene Löhne zu zahlen. Das ist überhaupt nicht akzeptabel!
Meine Fraktion hat in dieser Woche eine Anhörung durchgeführt, in der deutlich geworden ist: Bei einer Festlegung auf 7,50 Euro würden davon 5 Millionen Deutsche davon profitieren, wenn sie wenigstens diesen Betrag verdienten. 7,50 Euro sind, wenn man so will, das Äquivalent zu den heute bestehenden Sozialtransfers. Das wäre übrigens finanziell hochinteressant: Es würde im SBG II eine Entlastung um 3 Milliarden Euro bedeuten und bei den Sozialversicherungen zu Mehreinnahmen von 7,5 Milliarden Euro führen, meine Damen und Herren. Arbeitnehmer können sich durch diese Koalitionsvereinbarung weiß Gott verlassen fühlen. Für die ist hier nichts vorgesehen.