Protokoll der Sitzung vom 30.10.2009

Erste Beratung: Aufarbeitung der DDR-Geschichte an niedersächsischen Schulen - Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP - Drs. 16/1743

Das Wort hat für die CDU-Fraktion Herr Kollege McAllister.

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In diesen Tagen jähren sich zum 20. Mal die freudigen Ereignisse, die zum Untergang der DDR geführt haben.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wenn man allerdings heute, 20 Jahre nach der friedlichen Revolution und nach dem Fall der Mauer, nach prominenten Namen und Fakten zur untergegangenen DDR fragt, tritt Erstaunliches zutage. Die Geschichtskenntnisse in Deutschland haben, was die DDR angeht, einen Tiefpunkt erreicht.

(Björn Thümler [CDU]: Wohl wahr!)

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Ergebnisse einer Studie des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, für die im letzten Jahr mehr als 5 200 Jugendliche in Bayern, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen sowie in Berlin befragt wurden, sollten uns allen zu denken geben.

Demnach war die DDR in den Augen vieler Jugendlicher ein soziales Paradies und keine Diktatur, den Rentnern ging es besser als heute, und soziale Sicherheit wog die Rechtlosigkeit des Einzelnen unter der SED-Diktatur mehr als auf.

Meine Damen und Herren, die Studie offenbart eklatante Wissenslücken bei den Schülern. Zwei Beispiele: Erstens. Die Mehrheit aller befragten Jugendlichen wusste nicht, wer die Mauer errichtet hat. Viele tippten auf die Bundesrepublik oder die Alliierten. Zweitens. Fast die Hälfte der ostdeutschen und sogar 66 % der westdeutschen Schüler bejahten die Aussage: Die DDR war keine Diktatur, die Menschen mussten sich nur wie überall anpassen. - Da ist es auch nur ein schwacher Trost, dass vielen Schülern der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur gar nicht bekannt ist bzw. sie diesen auch gar nicht erklären können.

Trotz umfangreicher Förderung mit rund weit über 100 Millionen Euro gegen das Vergessen und für das Aufarbeiten der Verbrechen in der DDR wird deutlich, dass die Unwissenheit und die Verklärung der SED-Diktatur zugenommen haben. Damit kein falscher Eindruck entsteht. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran: Die meisten Menschen in der DDR haben ihr Leben mit Anstand gemeistert. Gutes Miteinander, Nachbarschaftshilfe, das Streben nach privatem Glück - alles das gab es. Vielleicht war es in der DDR sogar besonders ausgeprägt, weil viele Engpässe nur durch praktische

Solidarität im Alltag überbrückt werden konnten und auch weil die Menschen bewusst den Rückzug in private Nischen suchten. Das alles spricht nicht gegen die Menschen, das spricht für die Menschen, und es spricht in jedem Fall gegen das DDR-Regime.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Sehr geehrte Damen und Herren, benennen wir die DDR als das, was sie ohne Zweifel war: eine Diktatur. Wer die innerdeutsche Grenze unerlaubt passieren wollte, wurde erschossen. Die wichtigste Säule im Herrschafts- und Repressionssystem der DDR war die Verweigerung der Reisefreiheit. Wer plante, die DDR zu verlassen, wurde wegen des Verdachts auf Republikflucht meistens zu Freiheitsstrafe verurteilt. Der größte Arbeitgeber in der DDR war die Staatssicherheit. Rechtsstaatliche Prinzipien wurden nur vorgespielt. Die Gerichte wurden durch SED und Stasi manipuliert. Die DDR-Gerichte fällten bis 1987 in politischen Verfahren 209 Todesurteile, von denen 142 vollstreckt wurden. Für insgesamt 33 755 politische Gefangene endete das Gefängnis mit einem sogenannten Freikauf durch die Bundesrepublik Deutschland.

Meine Damen und Herren, man muss schon ein besonderes, nachgiebiges und großzügiges Verständnis für die DDR haben oder auf dem linken Augen vollkommen blind sein, um angesichts dieser erschütternden Fakten den Charakter der DDR als Unrechtsstaat in Zweifel zu ziehen. Wir halten es deshalb für schlicht inakzeptabel, dass die DDR von einigen Ewiggestrigen noch immer schöngeredet wird.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir sind der festen Auffassung, dass es dringend erforderlich ist, dass es bei uns eine intensivere Auseinandersetzung in Schule und Gesellschaft mit der DDR-Diktatur gibt. Wir haben die Pflicht, den jüngeren Menschen in Niedersachsen den Unterschied zwischen einer Diktatur und der Demokratie klar und verständlich zu machen. Wer hier die Grenzen verwischt oder relativiert, gefährdet unseren Rechtsstaat und damit unsere Freiheit.

Der gemeinsame Entschließungsantrag von CDU und FDP macht deshalb konkrete Vorschläge.

Erstens. Wir wollen, dass bei der Umsetzung und Weiterentwicklung der Lehrpläne genügend Zeit für die DDR-Geschichte herausgearbeitet wird. Es ist notwendig, diesem wichtigen Zeitabschnitt, der normalerweise chronologisch am Ende des Ge

schichtsunterrichts steht, eine größere Bedeutung beizumessen.

Zweitens. Wir wollen, dass bei der Strukturierung der Lehrpläne und der Umsetzung im Unterricht das exemplarische Lernen Berücksichtigung findet. Die Schüler sollen die Möglichkeit erhalten, sich an Einzelereignissen ein Thema konzentriert und gezielt zu erarbeiten. Es geht dabei um regionale Bezüge, um Gedenkarbeit und um Zeitzeugen, und es geht ebenso um die Einbeziehung aktueller und historischer Medien.

Drittens. Wir wollen, dass im Unterricht mehr Bürgerrechtler und ehemalige Häftlinge aus der DDR als Zeitzeugen in niedersächsischen Schulen über ihre Erfahrungen berichten. Zeitzeugen sind in besonderer Weise geeignet, über die Verbrechen in der DDR aufzuklären. Ein Gespräch mit Opfern des SED-Regimes ist im Übrigen viel authentischer, als das Thema im Unterricht trocken abzuhandeln.

Schließlich viertens. Die politischen Verbrechen der Staatssicherheit sowie der Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze gegen sogenannte Staatsfeinde waren menschenverachtend und grausam. Deshalb wollen wir es allen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, sich in Gedenkstätten über die Grundwerte von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu informieren und sozialistisches Unrechtsbewusstsein als Geschichtsverklärung zu enttarnen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir sind überzeugt davon, dass diese Lernorte gemeinsam mit den Schulen dem bedenklichen Trend zur Verklärung des DDR-Unrechtsregimes entgegenarbeiten können und die Erinnerung an die Schicksale der Mauertoten und der politisch Verfolgten durch das SED-Regime, aber auch an Widerstand und Opposition wach halten können.

Sehr geehrte Damen und Herren, unser Land Niedersachsen hatte die längste innerdeutsche Grenze zur DDR und war somit von der deutschen Teilung in besonderem Maße betroffen. Wir haben deshalb eine besondere Verpflichtung, dass die zeitliche Distanz zur DDR nicht zum Vergessen und nicht zum Verdrängen führt. Es geht um eine angemessene Kultur des Erinnerns, die auch im Geschichtsunterricht der Schulen in Niedersachsen verankert sein sollte.

Wir möchten, dass dieser gemeinsame Entschließungsantrag von CDU und FDP dazu einen Beitrag leistet. Ob wir diesen Antrag heute in den Fachausschuss überweisen oder über ihn direkt abstimmen, stellen wir den Fraktionen von SPD und Grünen anheim.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herzlichen Dank. - Herr McAllister hat gerade darauf aufmerksam gemacht, dass zumindest eine der antragstellenden Fraktionen die zweite Beratung unmittelbar anschließen möchte. Ich will nur im Vorfeld darauf hinweisen, dass zu dieser zweiten Beratung in der Drs. 16/1799 ein Änderungsantrag der Fraktion DIE LINKE vorliegt, der auf eine Annahme des Antrages in einer geänderten Fassung zielt.

Für die SPD-Fraktion hat sich zu diesem Tagesordnungspunkt Frau Weddige-Degenhard gemeldet. Bitte schön!

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Freiheit ist ein Gut, dessen Dasein weniger Vergnügen bringt, als seine Abwesenheit schmerzt, sagt Jean Paul und beschreibt damit die Tatsache, dass wir für selbstverständlich halten, was wir uns nicht erkämpfen mussten, und dass das Vorhandensein von Freiheit uns nicht pausenlos zum Jubeln bringt.

20 Jahre nach dem Fall der Mauer erschrecken uns Untersuchungs- und Umfrageergebnisse in Schulen, die dokumentieren, dass das Wissen vieler Schülerinnen und Schüler über die jüngste deutsche Geschichte äußerst lückenhaft ist.

Für Menschen meines Alters, die die Zweiteilung Deutschlands so viele Jahre erlebt haben, die vielleicht, wie ich im Landkreis Wolfenbüttel, am Stacheldrahtzaun Wachtürme aus dem Küchenfenster sehen konnten und die geteilte Familien erlebt haben, ist es schwer zu verstehen, dass diese Realität 20 Jahre nach dem Ende des Eisernen Vorhangs für die Kinder heute ein Kapitel im Geschichtsbuch ist.

60 Jahre Grundgesetz, 20 Jahre Mauerfall geben besonderen Anlass dazu, unsere freiheitlichdemokratische Grundordnung sowie die Menschenrechte in den Mittelpunkt des Geschichts-

und Politikunterrichts zu stellen, um den Gegensatz zu den beiden deutschen Diktaturen herauszuarbeiten.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)

Ihr Antrag, meine Damen und Herren von CDU und FDP, zielt darauf ab, einem Trend zur Verklärung der DDR dadurch entgegenzuwirken, dass den Schulen durch die Lehrplangestaltung genügend Zeit für die Beschäftigung mit den Ursachen und Folgen der deutschen Teilung bleibt. Das ist auf jeden Fall zu begrüßen.

Das Erstaunliche daran ist nur, dass Sie, meine Damen und Herren von CDU und FDP, seit sechs Jahren den Kultusminister bzw. die Kultusministerin stellen und somit für die Lehrplangestaltung verantwortlich zeichnen. Diesen Antrag, meine Damen und Herren, kann man doch nur als Ohrfeige für die Kultusministerin verstehen,

(Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Na, na, na!)

die es nicht schafft, den Schulen Zeit und Raum für die wirklich wichtigen Unterrichtsinhalte zu lassen.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Sie setzt die Gymnasien z. B. durch die überhastete Einführung des Abiturs nach zwölf Jahren, verbunden mit dem Zentralabitur, so unter Zeitdruck

(Bernhard Busemann [CDU]: Was soll das? Sie haben so gut angefangen! - Weitere Zurufe von der CDU)

- hören Sie ruhig zu! -, dass die absolut wünschenswerte Kontaktaufnahme zu Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie zu Vertretern der Bürgerrechtsbewegung kaum in den Stundenplan einzubauen ist.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Die Schulen haben wegen des Lehrermangels auch schlichtweg keine Zeit dafür.

Die Forderung, dass der Unterricht mehr beinhalten soll als chronologische Abläufe, versteht sich aus der Didaktik der Fächer heraus von selbst. Die Schulen würden auch gern die Anregung aufgreifen, Gedenkstätten zu besuchen und sich mit Schulklassen aus den jeweiligen ostdeutschen Partnerstädten zu treffen - wenn sie denn lehrplanmäßig und zeitlich dazu in der Lage wären.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Ihre Wunschliste an die Landesregierung würden wir gern noch um weitere Anregungen ergänzen. Damit die Lehrkräfte die Anregungen auch umsetzen können, bedarf es eines entsprechenden Fortbildungsangebots. Auch für Schülerinnen und Schüler wären Seminarangebote zu diesem Thema eine sinnvolle Ergänzung des Unterrichts.

All diese genannten Punkte, liebe Kolleginnen und Kollegen, wären ein vortreffliches Arbeitsfeld für eine niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung,

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)