Herr Ministerpräsident, vor lauter Anbiederung an Ihren Lieblingsverband beim Philologentag in Goslar
haben Sie keine Skrupel gehabt, Ihre dort anwesende Kultusministerin und die Schulpolitiker Ihrer eigenen Fraktion vorzuführen.
Gerade hatten Frau Heister-Neumann, Herr Klare und Herr von Danwitz der Presse erläutert und erklärt, am freien Elternwillen werde die CDU nicht rütteln, da sagt Christian Wulff genau das Gegenteil. So demontiert man seine eigene Ministerin.
Herr Wulff, was ist eigentlich mit Ihnen passiert, dass Sie in der Schulpolitik in letzter Zeit derart die Mindestregeln von politischer Strategie und Anstand vergessen? Liegt es vielleicht daran, dass Sie selbst merken, dass Sie sich mit Ihrem Festhalten am gegliederten Schulsystem in eine Sackgasse manövriert haben, aus der Sie einfach nicht mehr herauskommen?
Herr Wulff, die Eltern in Niedersachsen sind längst weiter. Sie wollen eine möglichst gute Bildung für ihr Kind. Sie wollen, dass der Bildungsweg für ihre Kinder lange offen bleibt, und sie wollen eine Schule, die zumindest eine Chance auf das Abitur ermöglicht. Damit liegen sie genau richtig. Denn die Arbeitsmarktforschung sagt uns längst: Wir brauchen in Zukunft viel mehr gut Qualifizierte und viel weniger gering Qualifizierte. - Da ist es nur konsequent, dass die Eltern ihre Kinder lieber zu einer Gesamtschule oder einem Gymnasium als an eine Hauptschule schicken.
Das beobachten wir inzwischen seit Jahren. Aber die Landesregierung weigert sich, dies zur Kenntnis zu nehmen. Statt die Schülerinnen und Schüler endlich so zu fördern, dass alle einen möglichst guten Abschluss erhalten können, richten Sie Hürden auf, immer neue Hürden: erst die Hürden für die Einrichtung von Gesamtschulen, jetzt Hürden für den Übergang an Realschule oder Gymnasium.
Als Vorwand dient Ihnen das Kindeswohl. Sie behaupten, die Eltern würden ihre Kinder überfordern. Deshalb müssten die Schulen wieder allein
entscheiden, was richtig ist. Aufnahmeprüfungen hat die FDP jetzt wieder aus der Mottenkiste geholt. Wie gut, dass die in den 60er-Jahren abgeschafft worden sind! Soll eine einzige Prüfung im Alter von zehn Jahren über den ganzen weiteren Lebensweg der Kinder entscheiden? - Ich finde, eine Prüfung im Alter von zehn Jahren gehört wirklich in die Mottenkiste der 60er-Jahre.
Auch die Schullaufbahnempfehlungen sind nicht aussagekräftig. Das wissen wir längst, spätestens seit IGLU. Das sollten eigentlich auch Sie wissen. Es werden immer viel mehr Akademikerkinder als Arbeiterkinder für das Gymnasium empfohlen. Aber die allermeisten Kinder - das muss uns doch zu denken geben -, die entgegen der Empfehlung ein Gymnasium besuchen, schaffen es dort auch. Diesen Befund hat erst kürzlich der hannoversche Erziehungswissenschaftler Professor Tiedemann bestätigt. Nach seinen Untersuchungen bekommt jedes dritte Kind eine Empfehlung für die falsche Schulform. Seine Konsequenz: Eine sinnvolle Sortierung am Ende der vierten Klasse ist gar nicht möglich. Sie sollte, wenn überhaupt, deutlich später erfolgen.
Aber diese Konsequenz, meine Damen und Herren, scheut diese Landesregierung wie der Teufel das Weihwasser. Lieber versucht sie, mit immer neuen Maßnahmen am gegliederten Schulsystem das zu retten, was schon lange nicht mehr zu retten ist. Auch ihr jüngster Versuch, die verstärkte Zusammenarbeit von Haupt- und Realschulen, wird scheitern. Meine Damen und Herren von CDU und FDP, Sie brauchen nur nach SchleswigHolstein zu gucken! Das geht wieder am Bedarf und an den Wünschen der Eltern vorbei.
Herr Wulff, meine Damen und Herren von CDU und FDP, die Eltern in Niedersachsen haben die Nase voll von Ihrer Besserwisserei, vom Herumdoktern an Symptomen in der Schulpolitik.
Wenn Sie den Eltern verbieten wollen, ihre Kinder an die von den Eltern für richtig gehaltene Schule zu schicken, dann ist Ihre Abwahl spätestens 2013 vorprogrammiert, wenn nicht sogar früher.
(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - David McAllister [CDU]: Erst einmal erfolgt Ihre Abwahl in Wittmund!)
Das Parlament diskutiert seit ca. einer Stunde. Im Ältestenrat ist vereinbart worden, dass die Fraktionen sich im Hinblick auf die Debattenkultur noch einmal zusammensetzen und auch die Frage der Selbstverpflichtung noch einmal diskutieren. Ich will nur einige Begriffe nennen, die jetzt aufgelaufen sind: sozialökonomische Selektion - vor allen Dingen auch wegen der Assoziation -, Heuchelei, Gleichschaltung, Scheinheiligkeit.
- Ich nehme jetzt keine Zuordnung zu den Rednerinnen und Rednern vor. Darum geht es mir nicht. Ich will hier aber deutlich an die Selbstverpflichtung erinnern und bitte darum, dass wir das zu Beginn des neuen Jahres in den Fraktionen, wie im Ältestenrat besprochen, noch einmal thematisieren.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Redebeitrag des Kollegen Försterling hat mich animiert, mich zunächst auf dieses von den beiden zusammengefassten Themen zu konzentrieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für die Formulierung dieses Themas. Es bietet uns eine ideale Möglichkeit, dem Hause noch einmal unsere Vorstellung von einem Schulsystem, in dem Kinder im Mittelpunkt stehen, darzulegen. Es bietet die Möglichkeit, noch einmal in diesem Jahr unsere Vorstellung von einem Bildungssystem, in dem Bildungsqualität Vorrang hat, zu erläutern. Unsere Vorstellungen weichen sicherlich gravierend von Ihren ab.
ren aufseiten der CDU und der FDP, Sie werden sich nicht wundern, das von uns zu hören - ist die Gliederung unseres Schulwesens, das Aussortieren und Selektieren das Problem an sich.
Die angestrebte enge Kooperation zwischen Haupt- und Realschulen löst keines der gravierenden Probleme in unserem Schulsystem. Das Hauptschulsterben auf Raten geht weiter. Lebensverlängernde Maßnahmen für die Hauptschulen sind der falsche Weg. Im Hannover-Teil der Hannoverschen Allgemeinen ist heute ein Artikel über Laatzen; dort soll die Hauptschule geschlossen werden, weil sich nur noch sieben Kinder angemeldet haben. Das zeigt deutlich, wie die Situation tatsächlich ist.
Herr Kollege Försterling, vielfach habe ich von Ihnen hier die Formulierung „unser begabungsgerechtes gegliedertes Schulwesen“ gehört. Ich stelle Ihnen klar die Frage: Was ist das eigentlich? Begabungsgerecht ist unser Schulsystem mit Sicherheit nicht. Begabungen werden bei den Kindern gefördert, deren Eltern es sich leisten können. Was ist denn das für ein System bei der Schullaufbahnempfehlung, bei dem Kinder bildungsferner Schichten oder mit Migrationshintergrund so viel seltener aufs Gymnasium kommen?
Sind Kinder, deren Eltern einen hohen Bildungsstand haben und in der Regel dann auch zu den einkommensstarken Schichten gehören, begabter? Wird Begabung sozusagen schichtenspezifisch vererbt? - Das ist doch Unsinn!
In den Ländern, in denen die Schullaufbahnempfehlung nach der vierten Klasse bindend ist, z. B. Bayern, werden schon Grundschulkinder einem unmenschlichen Leistungsdruck ausgesetzt, damit mangelnde Leistungen in diesem Alter nicht sämtliche sozialen Aufstiegschancen im späteren Leben zerstören. Das zerstört jede sinnvolle Grundschulpädagogik im Ansatz.
Meine Damen und Herren, es gibt eine Alternative. Eine andere Schule ist möglich, ohne Druck, mit individueller Förderung und hervorragenden Leistungen.
Bei einer öffentlichen Anhörung des Kultusausschusses im Mai dieses Jahres zum Thema Inklusion wurde uns auch von der wissenschaftlichen
Seite eindringlich erläutert, wie viel leistungsstärker - das gezielt an Herrn Försterling - heterogene Lerngruppen sind. Ich zitiere dazu Professor Werning von der Universität Hannover, der zu unserem Schulsystem sagte, es erzeuge aufgrund seiner Selektivität „Kollateralschäden“,
und „die Separierung von Kindern in homogen leistungsschwachen Gruppen“ sei „ein Instrument zur Verhinderung von Lernfortschritt“.
Aber Professor Werning gibt in dieser Anhörung auch zu, dass „Bildungspolitik nicht nach erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen gemacht“ werde. Dazu sage ich nur: Das merkt man der Politik der CDU und der FDP in diesem Hause deutlich an.
Nun gibt es bei uns eine Schulform, die sich trotz aller Behinderungsversuche der jetzigen Landesregierung immer mehr Zulaufs erfreut, eine Schulform, an der trotz aller inzwischen vollzogenen Einschränkungen zurzeit noch in leistungsheterogenen Lerngruppen - binnendifferenziert, mit individueller Förderung - gelernt werden kann, zumindest in einigen Fächern. Sie wissen, wovon ich spreche: Ich spreche von integrierten Gesamtschulen.
Es gibt integrierte Gesamtschulen, die aufgrund ihres pädagogischen Konzeptes ohne äußere Leistungsdifferenzierung auskommen und einen hohen Prozentsatz ihrer Schülerinnen und Schüler qualifiziert zum Abitur führen.