Protokoll der Sitzung vom 16.02.2010

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt Herrn Humke-Focks von der Fraktion DIE LINKE das Wort.

(Beifall bei der LINKEN - Die SPD- Fraktion betritt wieder den Plenar- saal.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion ist aus Sicht der Fraktion der Linken der angemessene Versuch, den von den Regierungsfraktionen wider besseres Expertenwissen durch das Parlament gepeitschten Gesetzentwurf erneut auf den Prüfstand zu stellen. Das halten wir Linke für richtig.

(Beifall bei der LINKEN)

Das verbindliche Einladewesen wurde von CDU und FDP auch in eine Struktur gesetzt, die dem Konnexitätsprinzip widerspricht. Das Land ordnet an - die Low-Budget-Jugendbehörden müssen es umsetzen. Außerdem - das ist wahrlich entlarvend - fehlt im Regierungsentwurf der Ausbau von niedrigschwelligen Hilfsangeboten für Eltern.

Wer jetzt allerdings aus meiner Vorbemerkung ableiten möchte, dass wir Linke dem vorliegenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion damit einfach zustimmen könnten, den muss ich leider enttäuschen; denn auch die SPD-Fraktion fordert die Einführung des verbindlichen Einladewesens, das unser Hauptkritikpunkt in der bisherigen Debatte war. Aber in dem SPD-Gesetzentwurf gibt es viele Ansätze, die es wert sind, weiter diskutiert zu werden und als Grundlage für eine Weiterentwicklung in diesem Bereich zu dienen. Sie von der CDU/FDP-Koalition lehnen das leider ab. Sie lassen das alles außer Acht.

Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, sogenannten Problemfamilien eine Hand zu reichen, und zwar bevor es zu psychischer und physischer Misshandlung von Kindern durch ihre völlig überforderten Eltern kommt. Tatsächlich ist es aber zumeist extrem schwierig, die überforderten, manchmal auch psychisch kranken oder drogenabhängigen Eltern überhaupt zu erreichen. Doch genau an dieser Stelle muss angesetzt werden. Dazu macht die SPD-Fraktion entsprechende Angebote. Deshalb unterstützen wir diesen Teil des Gesetzentwurfs.

(Zustimmung von Kreszentia Flauger [LINKE])

Doch ein verbesserter Kinderschutz lässt sich, wie bereits mehrfach angesprochen, nicht durch eine Maßnahme herstellen, die alle Eltern, die aus un

terschiedlichen Gründen eine Vorsorgeuntersuchung ihres Kindes versäumen, unter den Generalverdacht der Kindesmisshandlung stellt. Übereinstimmend haben alle Praxisexpertinnen und -experten in der Anhörung glaubhaft gemacht, dass das Instrument des verbindlichen Einladewesens dazu nicht tauglich ist. Fälle von Kindesmisshandlungen werden bei den Vorsorgeuntersuchungen nicht zwangsläufig festgestellt. Misshandelte Kinder sollen nicht häufiger eine Vorsorgeuntersuchung versäumen. Umgekehrt nehmen häuslich liebevoll erzogene Kinder aus unterschiedlichen Gründen an einzelnen Vorsorgeuntersuchungen nicht teil.

Fragwürdig ist aber auch die im Gesetzentwurf der SPD-Fraktion geplante administrative Struktur. Mit der Errichtung einer sogenannten zentralen Stelle im Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie will die SPD-Fraktion offenkundig den Konnexitätsbruch umgehen, der durch Vorlage und Beschluss der Kinderschutzvariante der Regierungsfraktionen implementiert wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Errichtung dieser zentralen Stelle auf Landesebene würde indes das Kernproblem der Jugendämter in Bezug auf die Anforderungen des verbindlichen Einladewesens überdecken und ein bürokratisches Erscheinen darstellen.

Meine Fraktion will aber den SPD-Gesetzentwurf, der mit den niedrigschwelligen Hilfsangeboten tatsächlich auch seine Stärken hat, wie ich bereits betont habe, verantwortungsvoll als Grundlage nehmen, um erneut in das Gespräch mit den Menschen zu kommen, die in der Praxis für den Schutz der Kinder arbeiten. Die Regierungsfraktionen entziehen sich dieser Verantwortung und verweigern nach wie vor eine erneute öffentliche Anhörung.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN - Glocke des Präsidenten)

- Ich komme zum Schluss. Das ist ein weiterer Skandal, der einen Schatten auf das Politikverständnis der Regierenden wirft.

(Kreszentia Flauger [LINKE]: Ganz finster sieht es da aus!)

Wir werden uns heute der Stimme enthalten.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, jetzt hat sich Herr Focke von der CDU-Fraktion zu Wort gemeldet.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf aus den Reihen der Opposition, der sich zwar inhaltlich mit dem Thema Kindesgesundheit und Kindeswohl befasst, der aber in der Realität nicht zum gewünschten Ziel führt.

Die Gesundheit eines jeden Kindes muss jedem in unserer Gesellschaft am Herzen liegen. Allein, die Fürsorge in eine staatliche Aufsicht zu geben, wird keinem Kind helfen. Vielleicht wird das sogar dazu führen, dass die Verantwortung noch mehr auf den Staat abgeschoben wird.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir glauben an die Eltern, an die Gesellschaft.

(Norbert Böhlke [CDU]: So ist es!)

Denn die meisten Eltern in Niedersachsen kümmern sich liebevoll um die Kinder. Die meisten Eltern versuchen alles, damit es ihrem Kind genauso gut geht wie jedem anderen in diesem Land.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Hingegen werden Paragrafen denjenigen, die Hilfe und Unterstützung bei ihrer Erziehungsaufgabe brauchen, nicht helfen, sondern sie werden sie eher noch verunsichern. Deshalb ist nur die Vielzahl der Projekte, die unsere Landesregierung auf den Weg gebracht hat, in ihrer Gesamtheit für die Kinder und die Familien gut und unterstützt sie.

Meine Damen und Herren, gerade in den letzten Tagen haben wir sie wieder lesen können, nämlich die Erfolgsgeschichte über die ehrenamtlichen Erziehungslotsen. Über 400 Menschen, zumeist mit großer Lebens- und Familienerfahrung, haben sich bereit erklärt, sich zu Erziehungslotsen ausbilden zu lassen. Das ist ein toller Erfolg dieses Projektes.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, in einer Gesellschaft, in der sich Menschen für andere Menschen engagieren, sich ausbilden und das Miteinander vor eine Aufsicht durch eine staatliche Stelle stellen, in einer solchen Gesellschaft lebe ich gerne.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Zum Gesetzentwurf der SPD ist vor allem anzumerken, dass Sie Doppelstrukturen schaffen wollen. Sie schreiben zwar, dass sich die bestehenden Angebote in Ihr neues Vorsorgenetz einfügen sollen; aber im ersten Schritt wollen Sie 50 zusätzliche Familienzentren schaffen. Das bringt nicht mehr Sicherheit für die Kinder und deren Familien, sondern erdrückt die bestehenden Systeme und schafft Parallelnetzwerke.

(Norbert Böhlke [CDU]: So ist es!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal darauf eingehen, was Sie zum Verfahren des Einladewesens schreiben. Sie wollen, dass eine zentrale Stelle die Eltern auffordert, zur Untersuchung zu gehen. Dann wird von dort aus erinnert und anschließend das örtliche Gesundheitsamt eingeschaltet. Das prüft und nimmt Kontakt mit der Familie auf, während die zentrale Stelle weiter prüft, ob das Kind nicht in der Zwischenzeit schon zur Untersuchung gegangen ist. Das Gesundheitsamt teilt der zentralen Stelle dann beispielsweise mit, dass kein Kontakt hergestellt werden konnte. Es schaltet dann das Jugendamt ein, das prüfen soll, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Während das Ganze hin und her geht, wird bereits die Einladung zur nächsten Vorsorgeuntersuchung verschickt.

Sie verkennen völlig, dass die Vorsorgeuntersuchungen gerade am Anfang, in den ersten Lebensjahren, in ganz kurzen Abständen stattfinden. Sie bauen hier Parallelstrukturen auf, und gleichzeitig verschwenden Sie Zeit und Ressourcen. Das ist ein politisches Monster und hat nichts, aber auch gar nichts mit schneller Hilfe für Kinder und Familien zu tun.

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwarz?

Nein, danke.

Im Übrigen, Frau Tiemann: Haben Sie sich einmal die ersten Erfahrungsberichte aus den Kommunen in den Ländern durchgelesen, die das Gesundheitsamt damit beauftragt haben, als aufsuchende Stelle zu fungieren? Viele Kommunen und die Gesundheitsämter sind mit der neuen Aufgabe personell, finanziell und fachlich überfordert. Viele Kommunen schicken inzwischen das Gesundheitsamt und das Jugendamt zeitgleich zu den Familien, weil nämlich das Gesundheitsamt zwar

eine Kindeswohlgefährdung feststellen kann, aber oft nicht über das Wissen verfügt, welche Hilfsangebote es gibt, welche pädagogische Betreuung die Familien und die Kinder brauchen.

(Uwe Schwarz [SPD]: Wer hat Ihnen solch einen Blödsinn aufgeschrie- ben?)

Außerdem haben die Kommunen Angst davor, dass durch zu lange Bearbeitungszeiten eventuell ein Kind durchrutscht und eine Kindeswohlgefährdung nicht frühzeitig erkannt wird. Das sind die ersten Erfahrungen mit dem, was Sie vorschlagen und was in anderen Bundesländern bereits praktiziert wird.

(Beifall bei der CDU)

Sie schaffen Doppelstrukturen. Aber in Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie ja, wie Sie das finanzieren wollen. Sie wollen jeder kreisfreien Stadt und jedem Landkreis 200 000 Euro jährlich überweisen, dazu noch 50 000 Euro für die Familienzentren. Und woher nehmen Sie das Geld? - Sie nehmen es aus dem unheimlich erfolgreichen Programm „Familie mit Zukunft“,

(Zustimmung bei der CDU - Wider- spruch bei der SPD)

das inzwischen 280 Familien- und Kinderservicebüros ins Leben gerufen hat. Das ist eine Schande, und es offenbart, dass Sie sich alleine mit der Ideologie und vielleicht dem Parteilichen beschäftigen, aber nicht mit dem, was bereits heute geschieht. 12,5 Millionen Euro wollen Sie jedes Jahr dem Programm „Familie mit Zukunft“ wegnehmen.

(Uwe Schwarz [SPD]: Ja, für Kinder- schutz, nicht für Öffentlichkeitsarbeit!)

Das schadet den bisherigen Strukturen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Wege, die die Länder gehen, sind höchst unterschiedlich. Ein Drittel der Länder geht den Weg über die Gesundheitsämter. Ein Drittel hat noch kein Gesetz zum Einladewesen, arbeitet gerade an einem oder will eine Mischform. Ein Drittel der Länder geht so vor, wie Niedersachsen es bereits beschlossen hat.

Wir haben im Oktober ein transparentes und effizientes Gesetz auf den Weg gebracht, das sich in das Bündel der Maßnahmen eingliedert. Nach dem Evaluierungszeitraum werden wir ein Fazit ziehen und das Gesetz gegebenenfalls weiterentwickeln.