Zweite Beratung: Entwurf eines Niedersächsischen Gesetzes zum Schutz und zur Förderung von Kindeswohl und Kindergesundheit (NKindSchuFöG) - Gesetzentwurf der Fraktion der SPD - Drs. 16/1752 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit - Drs. 16/2145 - Schriftlicher Bericht - Drs. 16/2157
Wir treten in die allgemeine Aussprache ein. Ich erteile Frau Kollegin Tiemann von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der zu erwartende Ausgang der Abstimmung über unseren Gesetzentwurf zum Schutz und zur Förderung von Kindeswohl und Kindergesundheit bedeutet - wie so oft - eine Niederlage für die Kinder Niedersachsens. Das finden wir höchst bedauerlich.
Als genauso bedauerlich habe ich die Beratung dieses umfangreichen Entwurfes im Ausschuss empfunden, wenn man überhaupt von Beratung sprechen kann. Bei mir verfestigt sich ganz im Gegenteil der Eindruck, dass die Kolleginnen und Kollegen von FDP und CDU an einer inhaltlichen Beratung nicht interessiert waren.
Was macht man, wenn man etwas nicht versteht? Man greift auf die Einschätzung und die Beratung von Fachleuten zurück. Nicht einmal das ist in diesem Fall getan worden. Das halte ich für ignorant und überheblich.
Lassen Sie mich Ihnen an dieser Stelle den Entwurf noch einmal erläutern. Unser Gesetzentwurf zielt deutlich auf eine Weiterentwicklung des verbindlichen Einladewesens und stellt beim Schutz und der Förderung von Kindeswohl und Kindergesundheit im Unterschied zum verbindlichen Einladewesen auf drei Punkte ab.
Wir fordern in unserem Entwurf erstens niederschwellige Angebote durch frühe aufsuchende Hilfen wie z. B. von Familienhebammen oder Kinderkrankenschwestern. Es ist ein zentrales Anliegen dieses Gesetzentwurfes, die Strukturen früher Hilfen so weiterzuentwickeln, dass ihre soziale Reichweite verstärkt wird. Das heißt, alle Familien sollen frühzeitig erreicht werden, damit Überforderungen rechtzeitig erkannt werden und man den Familien mit Rat und Tat zur Seite stehen kann.
Zweitens fordern wir eine Anlaufstelle für hilfesuchende Kinder und Erziehungsberechtigte. Das bedeutet für Niedersachsen im ersten Schritt die Einrichtung von 50 weiteren Familienzentren.
Der dritte Punkt betrifft die Vorsorgeuntersuchungen. Anders als nach der Vorstellung des Landes sollen die Eltern vom medizinischen Personal des örtlichen Gesundheitsamtes, also von den örtlichen Kinder- und Jugendärzten aufgesucht und zur Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen motiviert werden. Sollte diese Motivation ins Leere laufen und somit keine Früherkennung durchgeführt werden, wird das zuständige Jugendamt benachrichtigt. Das Jugendamt kann dann aufgrund der übermittelten Daten prüfen, ob ein Hilfebedarf vorliegt, und geeignete Maßnahmen ergreifen. Einer der wichtigsten und zentralsten Punkte für die Jugendämter ist nach dem vorliegenden Entwurf die Planung und die Steuerung der lokalen Netzwerke. Ich will hier noch einmal deutlich machen, wer die Beteiligten sind: freie Jugendhilfen, Gesundheitsämter, Sozialämter, Schulen, Polizeibehörden, Ordnungsbehörden, Krankenhäuser, Familienzentren, um nur einige zu nennen.
Diese Netzwerke führen u. a. lokale Konferenzen durch. Ziel dieser Konferenzen ist es, grundsätzliche Fragen der Förderung des Kindeswohls und des Kinderschutzes zu erörtern und daraus Konsequenzen zu ziehen. Das Ganze erfährt natürlich die Unterstützung und Förderung durch das Land. Auf Landesebene wird eine Servicestelle eingerichtet, die insbesondere die Bildung der lokalen Netzwerke und deren Arbeit beratend unterstützt und auf einen gleichmäßigen Ausbau der Einrichtungen und Angebote achtet. Das sind, sehr grob und sehr vereinfacht dargestellt, die großen Handlungsfelder dieses Gesetzentwurfes.
Es bleibt nur noch eine Frage offen, nämlich die Frage nach den Finanzen. Im Haushalt sind 20 Millionen Euro für das Programm „Familien mit Zukunft“ eingestellt. Dieses Programm ist so fehlkonstruiert, dass pro Jahr 10 Millionen Euro übrigbleiben. Wenn wir dieses Geld in den Kinderschutz stecken würden, stünde auch der Finanzierung der in unserem Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen nichts mehr im Wege.
Der Schutz von Kindern vor Gefährdungen ihres Wohls und die Förderung ihrer gesundheitlichen Entwicklung sind eine hochrangige Aufgabe. Unsere Sorge gilt nicht den Kindern, deren Eltern dieser Aufgabe mit viel Liebe und Engagement nachkommen - dies gilt übrigens für die meisten Eltern -, sondern den Kindern, deren Eltern sich mit dieser Aufgabe überfordert sehen und damit nicht zurechtkommen. Unsere Sorge muss aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kommunen vor Ort und in den Städten gelten, die sich großen Problemen gegenübersehen, nämlich dem stetigen Anwachsen ihrer Aufgaben und dem Wegbrechen der kommunalen Finanzen.
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, die Finanzen der Kommunen werden von Ihnen sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene kräftig gegen die Wand gefahren.
Bevor von der CDU und der FDP jetzt wieder aufgezählt wird, was für Kinder schon alles getan wird, bitte ich Sie um eines. Lassen Sie bei dieser Aufzählung doch einmal alle freiwilligen Aufgaben und alle Modellversuche weg.
Ich verspreche Ihnen, das Ergebnis ist erschütternd. Es darf nicht sein, dass der Kinderschutz so stark vom Geldbeutel der Kommunen abhängt.
Andere Bundesländer - unter ihnen auch solche, die von der CDU regiert werden - haben ein solches Gesetz, wie es heute im Entwurf vor Ihnen liegt, schon verabschiedet.
Zum Schluss möchte ich noch an ein Versprechen meines Kollegen Uwe Schwarz erinnern. Wenn der heute vorliegende Gesetzentwurf abgelehnt wird, werden wir einen entsprechenden Entwurf so lange einbringen, bis auch diese Landesregierung endlich die Handlungsnotwendigkeit erkennt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Das Thema Kinderschutz bewegt uns alle. In dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion finden sich tatsächlich etliche gute Elemente wie z. B. die Idee eines Landeskinderschutzberichtes oder auch die Forderung nach einem Ausbau der frühen Hilfen mithilfe von Kinderkrankenschwestern oder Familienhebammen. Ebenso nenne ich in diesem Zusammenhang das Plädoyer für den Ausbau der Kindergärten zu Familienzentren.
Zu unserem Bedauern hat die Mehrheit von CDU und FDP im Ausschuss aber einer Anhörung zu dem Gesetzentwurf nicht zugestimmt. Fragen wie die, was denn die Kinderschutzexperten zu dem Einsatz von Kinderkrankenschwestern sagen, können also nicht beantwortet werden. Eine Weiterentwicklung des Gesetzentwurfes ist nicht möglich. Wir sind der Überzeugung, dass dies kein verantwortlichungsvoller Umgang mit dem Thema Kinderschutz ist.
Der Entwurf beinhaltet allerdings auch Aspekte, denen wir nicht unsere Zustimmung geben können. Ein wesentlicher Punkt ist die Forderung bezüglich des umstrittenen verbindlichen Einladewesens, über das wir in dieser Wahlperiode schon sehr intensiv diskutiert haben. Wir Grünen haben immer deutlich gemacht, dass wir uns der Mehrheit der Experten anschließen, die in dem verbindlichen Einladewesen eigentlich nur ein Erinnerungs- und Mahnschreibenwesen sehen. Das verbindliche Einladewesen würde durch die kleinen Änderungen, die die SPD vorgesehen hat, nicht wesentlich besser. Es wird z. B. vorgeschlagen, statt der Jugendämter die Gesundheitsämter einzubeziehen. Wir sind der Überzeugung, dass dies nicht ausreicht, um die grundsätzlichen Bedenken in Bezug auf dieses bürokratische Instrument aus dem Weg zu räumen. Insofern bleiben wir, was diesen Teil des Gesetzentwurfes angeht, bei der Klassifizierung Alibibürokratie. Eine Zustimmung ist aus diesem Grund für uns nicht vertretbar. Wir werden uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der SPD der Stimme enthalten.
Nichtsdestotrotz sind viele Aspekte des Gesetzentwurfs begrüßenswert. Im Sinne der Kinder wäre es wirklich notwendig gewesen, sich mit den Vorschlägen ganz ernsthaft zu befassen. Ich möchte nur daran erinnern, dass sich der Sozialausschuss ja nicht einmal die Zeit genommen hat, die Voten der mitberatenden Ausschüsse abzuwarten, sondern er hat vorher abgestimmt. Unserer Auffassung nach zelebrieren Sie da eine reine Pro-formaDemokratie.
(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN und Zustimmung von Frauke Heiligenstadt [SPD] - Wittich Schobert [CDU]: Da baut sich jemand eine Welt, wie sie ihm gefällt!)
Letztendlich passiert jetzt genau das, wovor wir in der Debatte um das verbindliche Einladewesen immer gewarnt haben: CDU und FDP ruhen sich auf diesem Gesetzentwurf der Landesregierung aus, und der effektive Kinderschutz bleibt in Niedersachsen auf der Strecke.
(Die SPD-Fraktion verlässt mit Aus- nahme von Heinrich Aller [SPD] den Plenarsaal - Björn Thümler [CDU]: Jetzt sind sie noch peinlicher berührt! - Wittich Schobert [CDU]: Jetzt fangen die auch noch an rumzuzicken! Mein lieber Mann!)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ja nicht so, dass wir hier vor einigen Monaten einen Gesetzentwurf diskutiert hätten, vielmehr hat der Niedersächsische Landtag im Oktober 2009 ein Gesetz erlassen. Über die Frage, ob es effizient sein und seinen Zweck erfüllen würde und ob die Bürokratie, die notwendigerweise mit solch einem Gesetz einhergeht, der Aufgabe angemessen ist, wurde intensiv diskutiert; Frau Tiemann hat es ausgeführt. Wir haben uns über dieses Thema sehr lange unterhalten.
Im Oktober 2009 hat die SPD-Fraktion einen weitaus strengeren Gesetzentwurf vorgelegt mit dem Anspruch auf vollständige Erfassung zahlreicher Daten. Als ich diesen Gesetzentwurf jetzt noch einmal gelesen habe, fiel mir das Literaturzitat ein „Der große Bruder sieht dich an“; denn der Gesetzentwurf lässt keinen Spielraum für eigenverantwortliche Entscheidungen, aus welchen Gründen auch immer an einer Untersuchung nicht teilzunehmen. Das könnte sich etwa bei einem Umzug ergeben oder dann, wenn eines der Elternteile medizinisch genügend erfahren ist, um zu wissen, was dort geschieht.
Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion verursacht Kosten in Höhe von über 14 Millionen Euro im Jahr. Frau Tiemann hat uns erklärt, wie sie das aus dem Haushalt 2010 finanziert hätte. Hätte sie meine Zwischenfrage zugelassen, dann hätte sie hier beantworten können, wie das in den darauf folgenden Haushaltsjahren, in denen ein solches Gesetz ja immer noch gilt, finanziert werden sollte; denn die Kosten, die ein solches Gesetz verursacht, reichen natürlich weit in die Zukunft hinein.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion ist verwaltungsaufwändig. Datenschutzrechtlich ist er zwar möglicherweise fein poliert, aber gerade dadurch sehr kostenintensiv und auch streitanfällig. Das Gesetz steht in der Form beispielhaft für das, was die SPD selber nicht will. Ich zitiere aus dem Bundestagswahlprogramm der SPD, Seite 22:
„Weniger Bürokratie. Wir setzen uns für weitere Erleichterungen in Verwaltungsverfahren ein, indem wir u. a. die Informations- und Statistikpflichten weiter reduzieren und die Erfüllung von Dokumentationspflichten auch auf elektronischem Wege ermöglichen werden.“
(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Heinrich Aller [SPD]: Ich habe ja nicht zugehört, aber das war nicht doll! - Gegenruf von David McAllister [CDU]: Einzelabgeordneter Aller!)