Protokoll der Sitzung vom 18.02.2010

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Nicht mit der FDP in der Koalition!)

Es muss klar sein: Schulden belasten uns alle und engen politisches Handeln ein. Das geht zulasten der Behinderten, das geht zu unser aller Lasten. Ich möchte, dass die Behinderten nach bestem Wissen und nach besten Möglichkeiten gefördert und unterstützt werden.

(Norbert Böhlke [CDU]: Nach besten Kräften!)

Es war mir wichtig, das noch einmal deutlich zu machen. Das Bundesteilhabegeld ist nur ein Teilaspekt. In Niedersachsen geschieht bereits eine ganze Menge.

(Beifall bei der CDU)

Als nächster Redner hat sich Herr Humke-Focks von der Fraktion DIE LINKE zu Wort gemeldet. Bitte sehr!

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Böhlke, Sie haben vorhin bei Ihrem Kommentar auf den Beitrag der Kollegin Groskurt eine wichtige Bemerkung gemacht, die ich wiederholen möchte. Sie sprachen vom „Schicksal behinderter Menschen“.

An dieser Formulierung wird der zentrale Unterschied in der Sicht- und Betrachtungsweise von Menschen mit Behinderungen zwischen Ihnen

und - ich glaube, ich kann auch für die anderen Fraktionen auf der linken Seite sprechen -

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Sie kön- nen „uns“ sagen!)

uns deutlich. Denn das Selbstbild von Menschen mit Behinderungen hat sich verändert. Sie wollen sich nicht mehr ständig in der Opferrolle sehen - ich denke, darin sollten wir uns einig sein -, sondern sie betrachten sich zu Recht als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sind zu Recht so selbstbewusst geworden. Und das findet einen wichtigen Ausdruck in der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. In der Konvention kommt das zum Ausdruck, und auch für uns Linke ist die Frage nach einem selbstbestimmten Leben von zentraler Bedeutung. In Artikel 19 a der UN-Konvention heißt es z. B., dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“. Das wird hier sehr deutlich. Aber man muss leider konstatieren, dass die Realität in Niedersachsen anders aussieht. Das steht aus unserer Sicht in einem klaren Widerspruch zu den Beschlüssen der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen immer wieder an die Rechtsverbindlichkeit dieser UN-Konvention erinnern. Ich denke, es wird ein langwieriger Prozess sein, bis das in den Köpfen aller Menschen verankert ist. Gemessen daran ist der Antrag der Fraktionen von CDU und FDP butterweich formuliert; ich würde ihn als „Schönwetterstrategie“ beschreiben. Darauf haben meine Vorrednerinnen und -redner auch schon hingewiesen. Sie sind in dem Antrag unkonkret geblieben. Deshalb kann der Antrag der Mehrheitsfraktionen nicht die Grundlage für die Arbeit in dieser Frage sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie degradieren die UN-Konvention zu einem Leitbild. Das darf unserer Ansicht nach nicht sein. Das werden wir auch nicht widerstandslos durchgehen lassen.

Der Antrag der SPD-Fraktion ist wesentlich klarer formuliert. Er benennt die Defizite deutlicher. Ich

möchte gar nicht im Detail darauf eingehen; das ist hier schon passiert.

Der Antrag der Fraktion der Grünen greift weitere wichtige Punkte auf, die der konsequenten Haltung meiner Fraktion zur UN-Konvention sehr entgegenkommen. Diese Punkte unterstreichen zudem unser Resümee, das wir aus der Beantwortung der beiden Großen Anfragen zu dem Thema gezogen haben. Dreh- und Angelpunkt einer angemessenen Behindertenpolitik ist für uns Linke die Ermöglichung einer autonomen und selbstbestimmten Lebensführung.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine umfassende Analyse der aktuellen Situation von Menschen mit Behinderungen in Niedersachsen ist von Ihnen leider nicht geleistet worden. Die Landesregierung verzichtete in der Beantwortung der beiden Großen Anfragen in sehr zentralen Teilen auf die Zurverfügungstellung wichtiger Daten. Dies bezieht sich insbesondere auf die Frage des Wohnens. Wir wollten u. a. wissen, wie viele Menschen, die eine 24-Stunden-Assistenz benötigen, in Niedersachsen in ihrer eigenen Wohnung leben. Weiter wollten wir wissen, wie sich das Verhältnis zwischen stationären und ambulanten Wohnformen allgemein innerhalb der letzten zehn Jahre in Niedersachsen entwickelt hat. Sie von der Landesregierung haben ständig auf Ihre sogenannte Nichtzuständigkeit verwiesen. Aber an anderer Stelle wurde von Ihnen von einer „spürbaren Zunahme von ‚ambulanten Wohnformen’“ gesprochen. Irgendwelche Informationen müssen Sie also zusammengetragen haben.

Verehrte Landesregierung, so geht das wirklich nicht! Wir verhandeln hier keine gefühlten Verbesserungen, sondern über die Frage, was wir beitragen müssen, um den verbindlichen Rechtsanspruch für Menschen mit Behinderungen gewähren zu können.

(Beifall bei der LINKEN)

Vor diesem Hintergrund unterstützen wir ausdrücklich die Nr. III des Antrags der Grünen, der eine einheitliche Steuerung und die Gesamtverantwortung des Landes vorsieht. Frau Helmhold ist darauf gerade detailliert eingegangen.

(Zustimmung von Filiz Polat [GRÜNE])

Grundsätzlich ist natürlich jeder Schritt in die richtige Richtung begrüßenswert. Meine Fraktion plädiert allerdings dafür, anstatt kleine Einzelschritte vorzunehmen, lieber den großen Wurf zu machen;

so möchte ich es ausdrücken. Frau Groskurt hat in ihrem Redebeitrag noch einmal an uns alle appelliert, in diesem Sinne einen gemeinsamen Antrag zu entwerfen. Ich denke, wenn heute alle Anträge der Opposition abgelehnt werden und nur der Antrag der Fraktionen von CDU und FDP als Grundlage angenommen wird, dann wäre das ein falscher Weg.

(Glocke des Präsidenten)

- Letzte Bemerkung: Überdenken Sie bitte noch einmal Ihre Ankündigung. Lassen Sie uns gemeinsam einen vernünftigen Antrag auf den Weg bringen und den großen Wurf wagen! Nichts anderes haben die Menschen mit Behinderungen verdient.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt hat sich Frau Ministerin Ross-Luttmann zu Wort gemeldet. Ich erteile Ihnen das Wort. Bitte sehr!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor etwa vier Wochen haben wir hier ausführlich über die Antworten der Landesregierung auf zwei Große Anfragen zur Behindertenpolitik gesprochen. Auch damals nahmen schon zu Recht das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und die Modernisierungen der Eingliederungshilfe einen breiten Raum ein. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist als völkerrechtlicher Vertrag geltendes Recht. Es verbietet die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen und garantiert ihnen die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, schon vor vier Wochen habe ich sehr deutlich gesagt: Mir ist wichtig, dass jeder Mensch in seiner besonderen Lebenssituation - ob mit einer Behinderung oder ohne - mit all seinen Fähigkeiten, Fertigkeiten und vor allem seinen Lebensleistungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens anerkannt wird. Mir ist wichtig, dass jeder Mensch, der mit einer Behinderung leben muss, Hilfe und Unterstützung in einem Umfang erhält, in dem er sie

benötigt. Das, meine Damen und Herren, ist für mich selbstverständlich.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Wir alle sind zum Glück verschieden. Deshalb sind auch die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sehr verschieden. Wenn wir von gleichberechtigter Teilhabe aller sprechen, dann müssen wir auf der einen Seite sehr genau prüfen, was wir dafür tun können, dass die Menschen mit einer Behinderung, die schon jetzt Eingliederungshilfe bekommen - in einer stationären, teilstationären oder ambulanten Maßnahme -, mehr Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit erreichen. Auf der anderen Seite dürfen wir aber auch die Menschen mit Behinderungen nicht vergessen, die schon heute eigenständig und selbstbestimmt leben. Wir müssen uns fragen, welche Probleme sie im Alltag haben, wie sie ihren Arbeitsplatz erreichen, wie sie am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben können. Deshalb ist es mir wichtig, dass wir im Interesse von gleichberechtigter Teilhabe schon möglichst früh anfangen, alle Menschen mit einzubeziehen. Ich finde es sehr erfreulich, dass seit dem Jahr 2000 in Kindertagesstätten die integrativen Gruppen immer größer werden und immer mehr Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam erzogen, betreut und gebildet werden, voneinander lernen und vor allen Dingen auch diese Sozialkompetenz voneinander lernen.

(Beifall bei der CDU)

Deshalb war es mir auch wichtig, dass wir im Krippenbereich bei den ganz Kleinen schauen, wie wir es schaffen können, auch dort die integrative Betreuung weiter voranzubringen. Das werden wir in einem Modellprojekt erproben. Ich bin meiner Kollegin Frau Heister-Neumann sehr dankbar dafür, dass sie mit mir gemeinsam dieses Modellprojekt initiiert hat. Für dieses Vorgehen haben wir uns ganz bewusst entschieden, damit wir das Ganze auch wissenschaftlich begleiten können. Weil es an dieser Stelle um unsere Kleinsten geht, möchte ich nämlich sehr sorgfältig prüfen, wie die Integration hier am besten gelingen kann und mit welchem Konzept man am besten sicherstellt, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam mit großer Freude eine Krippe besuchen.

(Beifall bei der CDU)

Selbstverständlich wird es in der Zukunft entscheidend sein, wie wir das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit

Behinderungen umsetzen und wie wir vor allen Dingen auch die Eingliederungshilfe weiterentwickeln und modernisieren.

Ich freue mich über den hier bestehenden großen Grundkonsens dahin gehend, dass wir uns dafür ausgesprochen haben, die Eingliederungshilfe hin zu einer personenzentrierten Leistung zu entwickeln. Dies bedeutet, dass der betroffene Mensch vor Ort möglichst selbst entscheiden soll, an welchem Ort er welche Hilfe erhält. Das lässt sich aber nicht vom grünen Tisch aus regeln. Wir müssen die Betroffenen von Anfang an auf diesem Weg der Erneuerung mitnehmen.

Deshalb, meine Damen und Herren, beginnt Teilhabe bei mir auch mit Teilnahme. Unter dieser Zielsetzung fand am 4. Februar 2010 in Hannover die erste von drei Fachtagungen „Entwicklung in der Eingliederungshilfe - Perspektiven der individuellen Zielplanung“ statt. Dabei wurde u. a. ein aktueller Leitfaden zur individuellen Zielplanung im Rahmen des Gesamtplans für Menschen mit Behinderung vorgestellt - eine wichtige Empfehlung von der Praxis für die Praxis.

Diese Fachtagung war schon aufgrund der Teilnehmenden etwas Besonderes. Denn es kommt nicht oft vor, dass Einrichtungsträger, Träger der Sozialhilfe, Behindertenverbände und Menschen mit Behinderung gemeinsam zusammenkommen, um sich über dieses hochaktuelle Thema zu informieren, auszutauschen und festzustellen: Es geht uns alle gleichermaßen an.

Wie groß das Interesse an diesem Thema ist, zeigen die Anmeldezahlen deutlich. Für die Veranstaltung in Hannover und die noch folgenden Veranstaltungen in Osnabrück und Lüneburg haben sich über 800 Menschen angemeldet.

Meine Damen und Herren, bereits im November 2009 war es uns gelungen, mit drei großen Einrichtungen der Behindertenhilfe eine gemeinsame Erklärung zu unterzeichnen, mit der die behutsame Umwandlung von Langzeiteinrichtungen wie Wohnheimen in mehr individuelle, personenbezogene Angebote eingeleitet wurde.

Sehr geehrte Frau Helmhold, gerne nenne ich Ihnen hierzu auch einige weitere Details.

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Das ist nett!)

Betroffen sind die drei großen Einrichtungen Himmelsthür, Lobetal und Rotenburger Werke. Wir haben bereits der Außenstelle Wildeshausen von