Wie lange dauert es, bis ein Mensch in der neuen Heimat Wurzeln schlägt? - Ihr ehemaliger Ministerpräsident hat einmal acht Jahre als Maßstab genannt. Das ist viel, aber das ist deutlich weniger als die 15, 16 oder 17 Jahre, die Kinder oft schon in Niedersachsen wohnten, bevor sie von Herrn Schünemann abgeschoben wurden.
Ihr abgesetzter Integrationsminister sprach immer von Einwanderung in die Sozialsysteme und weckte damit gewisse dumpfe Instinkte. Oft sind es aber gerade die Mutigen und die Kreativen, die sich auf den Weg machen und ihre Heimat verlassen, um eine bessere Zukunft für ihre Kinder zu finden. Die USA, die Vereinigten Staaten, haben das sehr früh erkannt. Die Chancengleichheit für Einwanderer gehört zum Gründungsmythos dieses Landes. Das ist ein Grund, warum dieses Land bis heute wirtschaftlich innovativ ist.
Herr Ministerpräsident, Sie sprechen davon, dass Sie alle hier im Parlament mitnehmen wollen und dass Sie sich wünschen, auch die Zustimmung der Opposition zu finden. Herr McAllister hat das noch einmal betont.
Sie hätten uns auf Ihrer Seite, Herr Wulff, wenn Sie in Niedersachsen wirklich umsteuerten, beispielsweise in der Bildungspolitik, wenn Sie sicherstellten, dass jedes behinderte Kind in einer normalen allgemeinbildenden Schule unterrichtet wird,
wenn Sie kleine Gesamtschulen auf dem Land zuließen, um ein flächendeckendes Schulsterben im ländlichen Raum zu verhindern,
wenn Sie auf diesem Wege einen Beitrag zur nachhaltigen Senkung der Schulabbrecherzahlen und zur Bekämpfung des Fachkräftemangels leisteten und wenn Sie die G8-Strafaktion gegen erfolgreiche Gesamtschulen beendeten.
Lassen Sie doch die Eigenverantwortlichen Schulen selbst entscheiden, ob das Abitur nach 12 oder nach 13 Jahren abgelegt wird!
In der Hochschulpolitik könnten Sie uns auf Ihrer Seite haben, wenn Sie endlich Konsequenzen aus der vermurksten Bologna-Reform zögen. Ziel waren ein europäischer Hochschulraum und die Freiheit zum Wechsel auf ausländische Hochschulen, um mit dem Auslandssemester auch die Sprache zu vertiefen und zu erlernen - ein Muss für eine multikulturelle bundesstaatliche Institution wie die Europäische Union. Wer soll denn die Bundesrepublik in Europa vertreten, wenn nicht diejenigen, die in ihrer Ausbildung gelernt haben, zwei oder gar drei Sprachen fließend zu sprechen? - Schon klagen die Unternehmen über mangelnde Kreativität und Verantwortungsbereitschaft bei jungen Absolventen. Das ist Folge einer Schul- und Hochschulausbildung, die immer engere Korsetts anlegt, die mit Studiengebühren soziale Hürden aufbaut und die keine Freiräume mehr für eigene Schwerpunkte, für Umwege oder für Auslandserfahrungen lässt.
Herr Wulff, Sie hätten uns in der Politik für den ländlichen Raum auf Ihrer Seite, wenn Sie die einseitige Förderung von Agrarfabriken stoppten.
Nutzen Sie die vermutlich letzte Förderperiode der Europäischen Strukturfonds - Herr Jüttner hat darauf hingewiesen -, die Niedersachsen substanziell unterstützt, für nachhaltige Investitionen! Diese grauenhaften Hühnerfabriken machen keinen Bauern satt.
Sie verschandeln die Landschaft und schaffen Lohnmaststrukturen, die den Landwirten ihre unabhängige Entscheidungsmacht nehmen. Der ländliche Raum braucht Betriebe, die sich auf ihre Region besinnen, die wieder gucken, was die Verbraucher wirklich nachfragen, und die auf Qualitätsprodukte setzen.
Der ländliche Raum braucht aber auch Infrastruktur für den Wandel. Die Nahversorgung muss gesichert werden ebenso wie der öffentliche Personennahverkehr. Der ländliche Raum braucht schnelle Breitbandverbindungen, um die kleinen und mittelständischen Betriebe im ländlichen Raum zu halten. Der ländliche Raum braucht die dezentralen Stromproduzenten. Der ländliche Raum braucht Landwirte, die mit der Natur wirtschaften, die ökologisch wirtschaften und die sich aktiv für den Erhalt der Artenvielfalt einsetzen.
Herr Ministerpräsident Wulff, Sie hätten uns an Ihrer Seite, wenn Sie sich in der Haushalts- und Finanzpolitik ehrlich machten. Der haushalts- und finanzpolitische Teil Ihrer Regierungserklärung - das will ich ganz offen sagen - hat mich erschreckt: viele Worte, aber keine schlüssige Analyse zur Wirtschafts- und Finanzkrise, laue Absichtserklärungen und die verquere Hoffnung auf Wachstumsdynamik durch Steuersenkungen - Westerwelle und die Hotellobby lassen grüßen -, geschönte Zahlen bei der Höhe der Nettoneuverschuldung, schlanker Staat im neuen Gewand, zur Reform der Finanzmärkte nur eine Absichtserklärung. Fast zwei Jahre nach der Lehman-Pleite im Oktober hat Ihre Partei, obwohl in Bund und Land in der Regierung, keinen substanziellen Schritt zur Regulierung der Märkte zustande bekommen.
Jetzt, meine Damen und Herren, Herr Wulff, kommt die zweite Phase der Krise: Spekulanten und Ratingagenturen versuchen, die Euro-Zone kaputt zu machen. Niemand hat sie in den letzten anderthalb Jahren an die Leine gelegt. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Griechenland zu retten wird teuer, aber ein Zerbrechen der Euro-Zone wird extrem teuer. Wie Sie da noch Steuern senken wollen, das bleibt Ihr Geheimnis.
In der Haushaltpolitik wären wir bei Ihnen, Herr Wulff, wenn Sie mit Augenmaß und Mut die notwendigen Reformen angehen würden, wenn Sie sich trauen würden, jenseits der wenig kreativen globalen Minderausgabe Vorschläge auf den Tisch zu legen und Strukturreformen anzugehen, wenn Sie einige der unsinnigen Konjunkturmaßnahmen abräumen würden, die wir mit teuren öffentlichen Schulden bezahlen müssen. Das betrifft den Tunnel durch den Ith oder auch die Emslandhalle, die Schöninger Speere und neue Straßen, die wir indirekt mitbezahlen. Das eine oder andere mag wünschenswert sein, aber wir müssen es am Ende finanzieren können.
Ich muss an dieser Stelle auch noch einmal deutlich sagen: Es waren - das widerlegt so manche Legende aus Ihren Kreisen - am Ende immer konservative Regierungen, die für Rekordverschuldungen gesorgt haben.
Wer hätte gedacht, dass der Rekord von Herrn Waigel noch in den Schatten gestellt wird? Herr Schäuble hat das geschafft. Und was diese Landesregierung mit Herrn Wulff und Herrn Möllring in drei Jahren hier in Niedersachsen angehäuft hat, das ist tatsächlich historisch beispiellos.
(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD - Ulf Thiele [CDU]: Sie reden wider besseres Wis- sen!)
Meine Damen und Herren, Herr Wulff, Sie hätten uns an Ihrer Seite, wenn Sie sich trauen würden, endlich einen Umweltminister zu ernennen, der diesen Titel mit Verantwortungsbewusstsein für unsere natürlichen Lebensgrundlagen trägt.
Das ist wirklich ein Brett, so stocksteif und unbeweglich, wie sich diese Partei in dieser Frage im Landtag gibt. Wenn Sie das Land für die Zukunft aufstellen wollen, dann wundert man sich schon sehr, dass Sie im Bereich der Umwelt-, Energie- und Klimapolitik keinen Modernisierungsbedarf in Ihrem Kabinett sehen.
Meine Damen und Herren, am Wochenende hat im Norden eine der größten Aktionen gegen die Nutzung der Atomenergie in der Geschichte der Bundesrepublik stattgefunden. Das war auch eine Demonstration gegen Ihre Atompolitik, Herr Wulff, gegen Ihren Umweltminister und gegen Ihre Kanzlerin.
Das war auch eine Demonstration gegen den Versuch, in Gorleben weiter zu bauen, um einen Entsorgungsnachweis für die Verlängerung der Betriebsgenehmigungen von laufenden Atomkraftwerken vorzutäuschen.
Meine Damen und Herren! Herr Wulff, wenn Sie in der Energie- und Atompolitik so weitermachen, dann wird der Gegenwind zum Sturm werden. Der Widerstand wird so friedlich und fantasievoll sein wie am Wochenende, aber er wird Sie ins Mark treffen. Sie wissen sehr genau, dass man eine solche Risikotechnologie wie Atom nicht gegen drei Viertel der Bevölkerung durchsetzen kann.
Meine Damen und Herren! Herr Wulff, was für ein Irrweg ist die Förderung und Subventionierung der großen vier monopolartigen Stromkonzerne? Was für ein Irrweg ist das gleichzeitige Ausbremsen von kleinen und mittelständischen Betrieben, von Stadtwerken, die in erneuerbare Energien und in Effizienztechnologie investieren? Das kann man in Gutachten schwarz auf weiß nachweisen. Der Verband der kommunalen Unternehmen hat kürzlich noch einmal deutlich gemacht, auch Ihren Leuten deutlich gemacht, wie sich die Strukturen verschieben, wenn man das macht, und welche Investitionen hier ausgebremst werden. Hier ste
hen Wachstumsbranchen bereit, hier müsste eine Wachstumsstrategie offensiv vorgelegt und verteidigt werden. Das ist das Feld, in dem sich die Zukunft von Wirtschaft und Arbeit in unserem Land entscheidet, Herr Wulff. Wer hier versagt, der versagt total, der verspielt eine Chance, die nicht jedes Jahr wieder daherkommt; denn man kann diese Branchen nicht einfach so wieder aus dem Boden stampfen.
Meine Damen und Herren, Sie haben einige neue Gesichter in Ihrer Regierungsmannschaft, aber Sie haben keine neue Ideen, und Sie haben einen Koalitionspartner, der keine Beweglichkeit zeigt. Vertrocknete Pflanzen mit steifen und starren Ästen und Zweigen halten dem Wind nicht länger stand; sie zerbrechen beim nächsten Gewitter oder bei einem kräftigen Herbststurm.
Herr Wulff, Herr McAllister, in der CDU-Fraktion gibt es nach Auffassung des Ministerpräsidenten kein ministrables Personal mehr.
Auch das ist eine Botschaft des gestrigen Tages. Dafür haben Sie, Herr McAllister, schon eine vorläufige Quittung bekommen. Oder haben Sie eventuell ein ganz anderes Projekt verfolgt - die Stärkung der Fraktion mit guten Ministern aus dem Kabinett?
Auf zentralen Feldern springt Ihre Regierung zu kurz, verhakt sich in ideologischen Fallen. Dafür bekommen Sie unsere Unterstützung nicht. Wir werden heute nicht über die Neuen richten. Das haben Sie zum Teil ja schon selber gemacht. Wir stellen fest, dass es Ihnen, Herr Wulff, mehr um den Anschein der Erneuerung ging als um einen wirklichen Kurswechsel zum Wohle unseres Landes. Deshalb werden Ihre Probleme nicht weniger, sondern mehr.