Protokoll der Sitzung vom 11.06.2010

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Frau Prüssner, ich möchte hier auch gleich auf Ihr Argument erwidern. Sie sagten, das Gericht habe nur den Weg und die Methode kritisiert, aber nicht die Höhe der Sätze. Es besteht aber ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Berechnungsmethode und der Tatsache, dass die Regelsätze zu niedrig sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe orientiert sich ausschließlich an Menschen, die sehr wenig Geld haben. Im Regelfall nimmt man alleinstehende Rentner mit einem sehr niedrigen Einkommen als Referenzgruppe und fragt: Was kaufen sich diese Menschen? - Verdeutlichen wir die Situation einmal am Beispiel von Schuhen. Was meinen Sie, wie viele Schuhe sich eine alleinstehende ältere Rentnerin, etwa im Alter von 85 Jahren, im Jahr kauft? - Ich weiß von meiner Mutter, dass es nicht mehr sehr viele sind. Sagen wir einmal, sie kauft sich ein Paar Schuhe im Jahr. Ein

Paar Schuhe braucht der Mensch im Jahr - das wird jetzt als Beispiel für Kinder genommen.

Jeder, der ein Kind hat, weiß aber, dass man für das Kind im Frühjahr Frühjahrshalbschuhe braucht. Man braucht sodann Sommersandalen, im Herbst noch einmal Halbschuhe, weil die Füße gewachsen sind, Winterstiefel, Gummistiefel und Puschen für zu Hause, und zwar zwei Paar, weil die Füße ja wachsen. Außerdem braucht man zwei Paar Puschen für Kindergarten oder Schule; das ist heute üblich. Schließlich braucht man auch noch zwei Paar Sportschuhe. Damit ist man locker bei 11 Paar Schuhen im Jahr. Das ist nicht zu viel gerechnet, weil die Füße wachsen. Bei den Berechnungen des Regelsatzes wird aber nur von einem Paar Schuhe ausgegangen. 60 % der Kinder - das werden Sie immer wieder lesen - tragen zu kleine Schuhe - das ist nicht gut für die Füße -, weil die Leute nicht genügend Geld haben, um regelmäßig neue Schuhe zu kaufen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ausgaben für Bildung sind in diesem System überhaupt nicht vorgesehen. Ein alter Mensch wird sich selten zu einem Fortbildungskurs anmelden. Meine Mutter liest zwar viel, aber das gilt bei diesem Berechnungsmodell nicht unbedingt als Bildungsausgabe. Wir haben es insofern mit einem selbstreferenziellen System zu tun, bei dem man von jemandem, der ganz wenig Geld hat und ganz wenig Geld ausgibt, ausgeht und dann sagt: Dieser Betrag wird mit einem niedrigeren Prozentsatz zur Grundlage der Berechnung gemacht.

(Glocke des Präsidenten)

Deshalb muss - dies hat das Bundesverfassungsgericht gesagt - eine neue Berechnung vorgenommen werden. So wie bisher geht es nicht mehr. Es ist damit zu rechnen, dass sich die Sätze erhöhen. DIE LINKE geht in ihrem Antrag von einem Betrag von 500 Euro aus. Ich halte das für etwas problematisch; denn auch dies ist eine normative Setzung. Sie sagen einfach: Wir denken uns das so. - Ich meine, dass hier eher Sorgfalt vor Eile gehen muss. Die paritätischen Wohlfahrtsverbände sind bei ihrer Berechnung vor einigen Jahren einmal auf 420 Euro gekommen.

(Patrick-Marc Humke-Focks [LINKE]: Vor einigen Jahren!)

- Ja, vor einigen Jahren. Wenn Inflationszuschläge hinzukommen, wird man vielleicht auf 440 oder 450 Euro kommen. Ich vermag das heute nicht zu sagen. Die Erhöhung sollte vorgenommen werden,

und zwar möglichst schnell. Ob man das allerdings noch in diesem Jahr schafft, weiß ich nicht.

Sie haben auch die Frage von Gutscheinen und Sachleistungen angesprochen. Ich glaube, man kann darüber wirklich diskutieren. Wenn man Gutscheine und Sachleistungen vergibt, dann sollte das für alle geschehen. Das ist der entscheidende Unterschied zu manchen anderen Vorschlägen, die beinhalten, dies nur für Geringverdiener vorzusehen. Wenn alle so etwas bekommen, ist es diskriminierungsfrei. Ausgaben für Infrastruktur oder in Form von Sachleistungen für alle finde ich vernünftig.

Frau Kollegin, ich möchte Sie bitten, jetzt zum Schluss zu kommen.

Ja. - Wie ist es mit der Schulspeisung, wie ist es mit der Lernmittelfreiheit? - Ich glaube, dass wir dem Gesetzgeber die Zeit für entsprechende Regelungen geben sollten. Ich habe aber Angst, dass das Sparen - das haben wir jetzt bei den neuesten Beschlüssen gesehen - vor allem bei den Schwachen stattfindet. Man nimmt den Hartz-IVEmpfängern nun noch Geld weg. Es gibt ja schon Stimmen, die sagen, wir könnten die Regelsätze sogar noch kürzen. Bei dieser Sache wären wir nicht dabei.

Frau Kollegin, noch einmal die dringende Bitte, zum Schluss zu kommen. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten.

Herzlichen Dank, auch an den Präsidenten.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Ich erteile Herrn Kollegen Watermann von der SPD-Fraktion das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir unterhalten uns heute über die Regelsätze. Gestern haben wir über die Organisation diskutiert. Wir haben festgestellt, dass das Zusammenlegen von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe gut war. Wir haben weiterhin festgestellt, dass die

Organisation aus einer Hand etwas ist, was in Ordnung ist und wofür wir eintreten.

Nun unterhalten wir uns über die Frage der vernünftigen Ausstattung. Das Bundesverfassungsgericht hat klipp und klar gesagt: Das, was damals geregelt worden ist, ist nicht richtig. - Ich will mich in diesem Zusammenhang jetzt nicht auf Wissenschaftler beziehen. Wir haben es einfach mit einem Fakt zu tun, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Es ist Folgendes festzustellen: Wir haben bei der Festsetzung der Sozialhilfe über eine lange Zeit immer einen Konsens mit den relevanten Wohlfahrtsverbänden hergestellt. Das ist gekippt worden. Dies war ein Fehler. Ich empfehle dringend, zu dem alten Verfahren zurückzukehren, weil man dann bei der Überprüfung und Berechnung von Beträgen bessere Möglichkeiten hat, sich in realistischer Weise an der Praxis zu orientieren.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Wir, die Sozialdemokraten, treten dafür ein, dass wir mit Blick auf die Kinder das berücksichtigen, was vom Kinderschutzbund und von vielen anderen gesagt worden ist. Wir müssen ernsthaft darüber reden, dass es eine eigene Grundsicherung für Kinder gibt. Ich glaube, dass das bei Kindern der richtige Weg wäre. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass wir diesen Weg in die Diskussion einbringen müssen. Herr Kollege Riese, ich glaube deshalb, dass alle Ansagen, die in die Richtung gehen, das im Ausschuss zu beerdigen, völlig falsch sind. Wir müssen uns damit auseinandersetzen und diesen Prozess jetzt genauso begleiten, wie wir es getan haben, als es um die Organisation ging.

In dieser Diskussion muss man auch noch einmal recht deutlich sagen, dass wir an den Kernpunkt herangehen müssen, nämlich an die Fragestellung, warum man damals, als man diese Gesetzgebung gemacht hat, Geldleistungen in den Mittelpunkt gestellt hat und eben keine Gutscheinleistungen. Ich habe darauf vorgestern bereits hingewiesen. Es gab die Erkenntnis, dass diese Sicherung keine Regelsicherung sein soll, sondern eine Absicherung für den Fall, dass keine Arbeit vorhanden ist. Wenn Arbeit vorhanden ist, dann muss man von dieser Arbeit leben. Herr Kollege Riese, dieses System ist in dieser Republik zu keinem Zeitpunkt - weder bei der Sozialhilfe noch bei der Arbeitslosenhilfe - so angelegt gewesen, dass es um Zuverdienst ging, sondern es war immer darauf

angelegt, eine Unterstützung für den Fall zu bieten, dass keine Arbeit, dafür aber Armut vorhanden ist.

(Zustimmung bei Patrick-Marc Hum- ke-Focks [LINKE])

Das ist die Grundlage dieser Republik. Wenn Sie etwas anderes sagen, dann stellen Sie diese Grundlage erheblich infrage.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Das ist Ihre Denke: Der Staat bezahlt, und die Arbeitgeber geben ein bisschen dazu.

(Roland Riese [FDP]: Unzutreffend!)

Das ist der völlig falsche Weg. Das ist auch der falsche Weg in einer Welt, in der Arbeit eben nicht nur die materielle Absicherung ist, sondern auch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Deshalb gehen alle Diskussionen über eine Grundsicherung, die man vorbehaltlos bekommt, in eine Richtung, die wir als Sozialdemokraten nicht mitgehen können.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, dass wir in der Diskussion sehr aufmerksam darauf achten müssen, was sich jetzt in Berlin tut. Dort stellt man ganz bestimmte Dinge infrage, was ich für fundamental problematisch halte. Pauschalierung in Bezug auf Wohnen - man verlagert die Bürokratie aus den Behörden hin an die Gerichte. Wenn Sie das auch noch regional aufsplitten wollen, dann viel Spaß bei dieser Reise!

(Zustimmung von Patrick-Marc Hum- ke-Focks [LINKE])

Damit schaffen Sie Beschäftigung bei den Gerichten noch und nöcher!

Dann geht es darum, in die Alterssicherung einzugreifen, also das Problem bei der Grundsicherung im Alter finanziell auf die kommunale Ebene zu verlagern und damit Altersarmut in einer Art und Weise zu produzieren, die gar nicht zu rechtfertigen ist. Die Grundsicherung, die man zur Absicherung braucht, um in einer Notsituation zurechtzukommen, darf nicht unter Sparaspekten diskutiert werden, sondern sie muss ganz fundamental nach den Notwendigkeiten festgelegt werden, damit Menschen in dieser Notsituation leben können.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Für uns ist fundamental in dieser Republik, sich für gut bezahlte Arbeit einzusetzen. Dieses System kann das nicht ersetzen. Deshalb müssen wir bei dieser Berechnung sorgsam vorgehen. Das Primat, dass das Geldliche dafür gemacht wird, dass man damit später, wenn wieder Arbeit da ist, umgehen kann, muss erhalten bleiben. Wir müssen die Aufgabenstellung, die uns das Bundesverfassungsgericht mitgegeben hat, ernst nehmen, nämlich eine Orientierung an den wirklichen Kosten.

Ich sage das sehr deutlich: Wenn all diejenigen, die jetzt den Sparkuckuck im Kopf haben, bei der Diskussion, die jetzt in Berlin geführt wird, genau an dieser Stelle ansetzen, aber bei denen, die gut dastehen und gut verdienen, nicht angesetzt wird, dann ist das das, was diese Republik spaltet. Das trägt dazu bei, dass wir Unmut schaffen, weil das sozial ungerecht ist. Das ist nun einmal der Ansatz dieser Regierung in Berlin.

Ich habe das gestern im Zusammenhang mit den Landesstraßen gesagt: Wenn Sie so weitermachen, sind Sie schneller von der Bildfläche verschwunden als man meinen könnte. Ich sage Ihnen das ganz offen: Durch das was Sie in dieser Diskussion tun, bringen Sie den Anteil der Nichtwähler in erheblichem Maße nach oben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN und Zustimmung von Christian Meyer [GRÜNE])

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Riese das Wort.

Verehrter Herr Präsident! Lieber Kollege Watermann, ich höre Ihnen immer wirklich sehr gerne zu, weil es schön ist, den einen oder anderen in der SPD zu treffen, der noch ein richtiger, ehrlicher, aufrechter Sozialdemokrat ist. Das freut mich wirklich immer sehr.

Wir sind uns vollständig einig darin, dass Arbeit und die Möglichkeit der Teilnahme am Arbeitsleben einen ganz wichtigen gesellschaftlichen Aspekt haben und dass die Menschenwürde in der Zeit, in der man arbeitsfähig ist und Arbeitskraft hat, ganz stark davon abhängig ist, dass man am sozialen Leben auch über den Arbeitsplatz teilhaben darf. Aber wir dürfen doch nicht verkennen, dass in Deutschland wie auch in anderen westlich

orientierten Industriegesellschaften der Arbeitsmarkt mittlerweile so beschaffen ist, dass wir tatsächlich von einer Grundarbeitslosigkeit ausgehen müssen. In diesem Falle ist doch eine Grundsicherung ohne Voraussetzungen eine ganz wichtige Sache.

Ich habe Sie gerade so verstanden - ich werde es nachlesen -, dass das kein sozialdemokratischer Ansatz sein soll. Aber dass bei den Schwierigkeiten des Arbeitsmarktes, bei den Verwerfungen, die auftreten, und bei schwierigen persönlichen Situationen aus sozialdemokratischer Sicht keine Grundsicherung mit einem Grundlevel vorhanden sein soll, das hat mich wirklich erschüttert. Das werden wir im Ausschuss noch einmal gründlich nachbesprechen.

(Uwe Schwarz [SPD]: Sie glauben gar nicht, wie oft Sie uns erschüttern!)

Für die SPD-Fraktion antwortet Herr Kollege Watermann.