Protokoll der Sitzung vom 17.08.2010

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Frau Meyer zu Strohen, auch Sie haben anderthalb Minuten zur Beantwortung. Sie haben das Wort. Bitte schön!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Korter, Fälle, wie Sie sie vorhin aufgezeigt haben, wird es immer geben. Das ist klar.

(Frauke Heiligenstadt [SPD]: Die darf es nicht mehr geben!)

- Lassen Sie mich einmal ausreden! - Ich habe gesagt: Wir haben exzellente Förderschulen. Das hat nichts mit den Fällen zu tun, die hier aufgezeigt worden sind. Die gibt es natürlich trotzdem. Ich habe deutlich gesagt, dass wir die Verpflichtung zur Inklusion umzusetzen haben. Diese werden wir in Niedersachsen selbstverständlich gesetzlich umsetzen.

Nun komme ich zu Ihnen, Frau Heiligenstadt. Ich habe gesagt - wenn Sie genau hingehört haben, dann haben Sie das auch gehört -: Wir wollen die Möglichkeit schaffen, dass Eltern von Kindern mit Behinderungen künftig wählen können, auf welche Schule sie ihr Kind schicken wollen. Vor diesem Hintergrund ist doch klar, dass wir ein Gesetz ändern werden. Alles andere wird sich finden.

Ich möchte noch etwas hinzufügen: Die Mitglieder des Kultusausschusses waren gemeinsam in Tirol. In Tirol wird seit 30 Jahren Inklusion betrieben. Dort gab es niemals Förderschulen in einer Qualität wie in Niedersachsen. Und auch nach 30 Jahren ist dort der Prozess noch nicht abgeschlossen. Ich habe in Tirol mindestens fünfmal gefragt, wo die Kinder bleiben, wenn sie die Schulen verlassen. Die Antwort war, dass 80 % der Kinder dort auf den Bauernhöfen bleiben. Das gibt es in Niedersachsen nicht mehr. Wir wollen, dass die Kin

der eine qualifizierte Ausbildung bzw. einen qualifizierten Schulabschluss bekommen.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

Für die FDP-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Försterling das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die bisherige Diskussion hat gezeigt, dass wir alle das Thema sehr ernst nehmen. Das wurde auch in den letzten Monaten in den Ausschussberatungen deutlich. Fraktionsübergreifend ist erkannt worden - obwohl es selbstverständlich zum Teil verschiedene Zielvorstellungen gibt; wir sehen, dass der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion ein anderes Ziel verfolgt als der der Fraktion der Grünen -, dass die Handlungsnotwendigkeit besteht, die Frau Korter eben mit der Aufzählung der Beispiele deutlich gemacht hat.

Sowohl in der Anhörung als auch in den Ausschussberatungen in Südtirol ist deutlich geworden, dass es keine Schwarz-Weiß-Lösung gibt, sondern dass man versuchen muss, die Kinder in den Mittelpunkt zu stellen und die individuelle Förderung zu sehen. Man muss individuelle Lösungen für die Kinder schaffen.

Nun ist es ja nicht so, dass wir uns die Lage in Südtirol zum Zeitpunkt der Einführung der Inklusion im Jahre 1978 angesehen haben, sondern wir haben gesehen, was dort nach 32 Jahren erfolgreicher Einführung und Umsetzungsprozesse präsentiert worden ist. Natürlich macht das Mut, diesen Weg auch zu gehen, weil man erkennt, dass es funktionieren kann. Aber man muss gleichzeitig deutlich sagen, dass man diesen Zustand nicht 1 : 1 von heute auf morgen nach Niedersachsen bringen und das System von heute auf morgen hier umstellen kann,

(Zustimmung bei der FDP)

sondern dass es in der Tat notwendig ist, hierbei Schritt für Schritt vorzugehen und den Weg, den man beschreiten will, vorher wohl zu überlegen, damit das neue System zu einem Erfolg wird.

Ich warne auch davor, den Eltern möglicherweise zu suggerieren, dass wir mit einer kompletten Systemumstellung plötzlich eine vollständige Inklusion

hätten. Die Kollegin Meyer zu Strohen hat eben deutlich gemacht, dass es auch in Südtirol zu den spannenden Fragen gehört, wie es mit den Schülerinnen und Schülern nach Abschluss der Schule weitergeht. Auch dort ist leider die Integrationsquote nicht deutlich höher. Auch dort gehen viele in die entsprechenden Werkstätten, arbeiten dort und werden dort nach Möglichkeit an ein geregeltes und auch eigenverantwortliches Leben herangeführt. Das heißt, wir müssen auch über die Schule hinaus denken.

Wenn ich sage, dass wir Schritt für Schritt vorgehen müssen, will ich deutlich machen, dass ich davon ausgehe, dass wir im Laufe der jetzt kommenden Beratungen zum 1. August 2011, wenn das neue Schuljahr beginnt, schon einen weiteren Schritt gemacht haben müssen - aber eben einen weiteren Schritt, weil in Niedersachsen in den letzten Jahren schon Schritte unternommen worden sind. Ich nenne den Modellversuch im Krippenbereich, wie man Integration erreichen kann, die besondere Förderung im Kindertagesstättenbereich, wenn Kinder mit Behinderungen in der Gruppe sind, das regionale Integrationskonzept und auch - das ist uns am letzten Freitag im Kultusausschuss vorgestellt worden - die APVO-Lehr, die als eine vorgegebene Kompetenz, die am Ende der Ausbildung bestehen soll, eben die sonderpädagogische Kompetenz beinhaltet; das ist eine Zielvorgabe.

Aber auch darüber müssen wir uns Gedanken machen: Wir haben 86 000 Lehrer in Niedersachsen, und wir beginnen jetzt damit, die neu heranwachsenden Lehrkräfte entsprechend zu qualifizieren. Jedem von uns muss klar sein, dass es unmöglich sein wird, zum 1. August 2011 alle 86 000 Lehrer mit den entsprechenden Kompetenzen auszustatten.

Aber wenn wir diesen Weg einer inklusiven Beschulung gehen, so ist es, glaube ich, wichtig, dass die Lehrkräfte, die für ein Kind verantwortlich sind, mit ihm so umgehen können, dass es zur individuellen Förderung kommt. Die Kinder müssen im Mittelpunkt stehen. Das haben, glaube ich, alle erkannt. Deshalb freue ich mich auf gute Beratungen im Ausschuss.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Försterling. - Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Althusmann. Bitte!

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Korter, ich darf zunächst einmal sehr herzlich darum bitten, dass Sie jeden Einzelfall, den Sie gerade nannten, am besten schriftlich vorlegen. Ich werde jedem Einzelfall persönlich nachgehen und für Abhilfe sorgen, sofern ich das rechtlich machen kann. Ich halte diese Fälle für unmöglich.

(Zustimmung von Jens Nacke [CDU] und Patrick-Marc Humke-Focks [LIN- KE])

Des Weiteren will ich darauf hinweisen, Frau Heiligenstadt, dass ich insbesondere mit dem Verband für Sonderpädagogik in einer Frage schon Einigung erzielen konnte bzw. wir darüber gesprochen haben, ob es im Rahmen der Neuorganisation der Landesschulbehörde zum 1. Januar nächsten Jahres sinnvoll sein könnte, gegebenenfalls einen Ansprechpartner an den vier Hauptstandorten zu schaffen, der sich insbesondere als Kernansprechpartner für Fragen der Inklusion versteht. Das heißt, dass Eltern nicht mehr von einer Behörde zur anderen oder vom Obergeschoß ins Untergeschoss geschickt werden, sondern dass einer in der Landesschulbehörde verantwortlich ist, der alle Fragen zur Inklusion beantworten kann. Ich halte das für eine notwendige und sinnvolle Dienstleistung für die Eltern.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Wir stehen schon mit der Landesschulbehörde in Kontakt zu der Frage, wie wir das schnellstmöglich umsetzen können.

Meine Damen und Herren, grundsätzlich sollte man sich zum Thema Inklusion vergegenwärtigen, dass mit Sicherheit Sorgfalt vor Eile geht. Da nutzt auch nicht der Hinweis, dass dieses Thema im Ausschuss schon länger beraten wird. Der Teufel steckt gerade bei dieser sehr schwierigen und sensiblen Frage im Detail. Denken Sie daran, wie wir mit den zehn Förderschularten, die wir in Niedersachsen haben, umgehen wollen. Wenn wir den Anspruch der Inklusion in allen Schulformen, wie Sie ihn mit sofortiger Wirkung fordern, umsetzen wollen, wird auch über die Zukunft dieser Förderschulform zu diskutieren sein. Es wird aber ebenso zu erwägen sein, wie wir mit den Tagesbildungsstätten und den Landesbildungszentren umgehen wollen.

Das heißt, wer sagt „Wir machen das mit der Inklusion mal eben schnell!“, der tut der Sache an sich

nichts Gutes, insbesondere nicht den Kindern, die sich derzeit noch in diesen Schulformen befinden. Wir können nicht von einem Tag auf den anderen quasi alle Kinder, insbesondere wenn es sich um Kinder mit vitalen Behinderungen handelt - einfach mal so -, auf die allgemeinbildenden Schulen schicken.

(Kreszentia Flauger [LINKE] und Ina Korter [GRÜNE]: Das hat keiner so gesagt!)

Im Zusammenhang mit der Inklusion wird immer wieder die Frage gestellt, ob aus der UN-Behindertenrechtskonvention ein Anspruch abgeleitet werden kann, dass alle Förderschulen aufgelöst werden. Da sage ich sehr deutlich: Ich glaube das nicht! In Niedersachsen wird es auch weiterhin bestimmte Förderschularten und bestimmte Förderschulformen geben, weil vitale Behinderungen und Beeinträchtigungen bei manchen Kindern so ausgeprägt sind, dass es aus Sicht des Kindes und mit Blick auf das Kindeswohl keinesfalls sinnvoll sein kann, dieses Kind in einem allgemeinen Unterricht zu beschulen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP und Zustimmung von Wolfgang Wulf [SPD])

Diesen Blick sollten wir uns wirklich bewahren.

Deshalb will ich sehr deutlich sagen: Die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention ist eine Aufgabe, der sich alle Bundesländer stellen werden und stellen müssen. Die Umsetzungsverpflichtung richtet sich an Bund, Länder und Kommunen. Sie ist völkerrechtlich verbindlich.

Frau Heiligenstadt, an dieser Stelle will ich einen Punkt aufgreifen, den Sie erwähnt haben, der mit Sicherheit mit den kommunalen Spitzenverbänden intensiv zu diskutieren sein wird.

Aus Landessicht teile ich Ihre Auffassung nicht. Ich sehe hier keinen Fall der Konnexität. Wenn sich dieser Anspruch aus der UN-Behindertenrechtskonvention an Bund, Länder und Kommunen richtet, dann wird sich unter dem Stichwort der Barrierefreiheit so mancher Kreistag, so mancher Stadtrat oder wer auch immer in Niedersachsen als Schulträger intensiv mit diesen Fragen auseinanderzusetzen haben. Mitnichten kann es sein, dass allein das Land Niedersachsen sämtliche Kosten in dieser Frage für die kommunalen Schulträger übernehmen sollte. Ich warne davor, dies auch nur im Ansatz zu versuchen.

Eines ist klar: Niedersachsen wird zum 1. August 2011 mit der Inklusion an seinen Schulformen beginnen. Dazu werde ich dem Parlament in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen. Im Zuge von dessen Beratung wird u. a. zu prüfen sein, ob wir mit einer Schulform beginnen, um die Einführung der Inklusion dann in den nächsten Jahren in den weiterführenden Schulformen konkret fortzusetzen. Ich denke - das wird aber strittig zu diskutieren sein - dabei insbesondere daran, dass wir zunächst mit dem Primarbereich, den Grundschulen, beginnen und die Einführung dann im Sekundarbereich fortsetzen, und zwar in Form eines Stufenplans, der auch die haushaltsrechtlichen Möglichkeiten mit abbilden soll.

Ich will nicht verschweigen: Jeder, der die Inklusion in Niedersachsen umsetzen will, muss sich mit der Lehrerausbildung, muss sich mit der Lehrerfortbildung, muss sich mit der Absenkung von Klassenobergrenzen, muss sich mit Lehrerstundenzuweisungen auseinandersetzen und muss dies am Ende auch finanzieren können. Ich sage sehr deutlich: Wir haben den festen Willen, dies auch zu finanzieren, sonst würden wir Ihnen dazu in Kürze keinen Gesetzentwurf vorlegen wollen.

Aber eines muss auch klar sein: Inklusion ist ein langfristig angelegter Prozess. Bitte verschonen Sie das Parlament und auch die Ausschussberatungen - Sie sprachen von einem Paradigmenwechsel - von Diskussionen, wie sie teilweise in Bremen geführt werden, wo über die Einführung der Inklusion nach dem Motto „Einheitsschule für alle!“ diskutiert wird. Es darf auf keinen Fall als Vehikel benutzt werden, so nach dem Motto: Wir schaffen jetzt einmal ganz neue Schulformen, und wir benutzen die Inklusion als Trittbrett für unsere eigenen schulpolitischen Vorstellungen.

(Johanne Modder [SPD]: Wir sind uns der Problematik sehr bewusst!)

Ich glaube, das haben Sie nicht vor. Das will ich Ihnen auch nicht unterstellen. Aber ich denke, es gilt, vorsichtshalber einmal darauf hinzuweisen. Ich denke ja auch präventiv.

(Beifall bei der CDU - Kreszentia Flauger [LINKE]: Es muss doch ein- mal gesagt werden, rein hypothe- tisch!)

Eines lassen Sie mich zum Schluss, Frau Präsidentin, ein wenig zurechtrücken. Herr Fricke vom Landesverband der Sonderpädagogik wird das, was Sie, Frau Heiligenstadt, gesagt haben, nie

mals bestätigen können. Auch die Fachwelt in Niedersachsen, bezogen auf die Sonderpädagogik, die Förderschulen, wird dieses nicht bestätigen. Grenzen wir in Niedersachsen Kinder aus?

(Gudrun Pieper [CDU]: Nein!)

Da muss ich sehr deutlich sagen - vielen Dank, Frau Abgeordnete Pieper -: Im Gegensatz zu dieser Behauptung ist die Realität in Niedersachsen eine ganz andere. Nahezu in jedem Landkreis gibt es inzwischen Integrationskonzepte. 700 Grundschulen in Niedersachsen praktizieren in rund 7 000 Klassen eine sonderpädagogische Grundversorgung. Das heißt, die Kinder gehen z. B. nicht für zwei Jahre auf eine Förderschule Sprache oder Förderschule Lernen, sondern sie werden ganz normal im Unterricht an der Grundschule mit sonderpädagogischer Förderung versorgt und auch entsprechend unterrichtet.

Wenn Sie sagen, die Förderschulbesuchsquote sei jetzt das maßgebliche Kriterium, so sei Ihnen entgegengehalten: Die Förderschulbesuchsquoten reichen von 3,12 % in Schleswig-Holstein bis zu 9,15 % in Mecklenburg-Vorpommern. In Niedersachsen liegt diese Quote bei 4,4 % und damit unter dem Bundesdurchschnitt von 4,92 %.

Warum ist das so? - Die Grundschulen in Niedersachsen sind in höchstem Maße bereit, sehr differenzierten Unterricht anzubieten, auf die unterschiedlichen Begabungen der Kinder entsprechend einzugehen. Ferner sind wir in Niedersachsen sehr aktiv, was den präventiven Bereich, den Bereich der Integration betrifft. Der Inklusionsgedanke wird in Niedersachsen im Prinzip bereits gelebt.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)