Protokoll der Sitzung vom 07.09.2010

Meine Damen und Herren, die Entwicklung seit 2010 in dieser Frage und die vorliegenden Zwischenergebnisse der Konzeption der Bundesregierung machen sehr deutlich, dass es keinesfalls eines solchen Antrags bedarf. Es kommt jetzt darauf an, was der Gesetzgeber zum 1. Januar 2011 beschließen wird. Im Oktober werden wir im Einzelnen die entsprechenden Vorlagen zur Kenntnis bekommen, und im Dezember werden die Entscheidungen in Bundesrat und Bundestag getroffen.

Wir sind uns ganz sicher, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes beachtet werden. Wir alle werden gemeinsam die Entwicklung in Berlin zu diesem Themenfeld ganz genau beobachten und begleiten. Wenn es möglich und notwendig ist, werden wir dieses Thema selbstverständlich wieder auf die Tagesordnung setzen. Für uns ist insoweit der Weg beschritten, und wir können durchaus davon ausgehen, dass diese Bundesregierung die richtigen wegweisenden Entscheidungen getroffen hat. Deshalb ist der Antrag der Linken entsprechend abzulehnen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Herr Humke-Focks hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.

Bevor ich ihm das Wort erteile, möchte ich noch einmal deutlich machen, dass jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete selbst dafür verantwortlich ist, wie man parlamentarisch miteinander umgeht.

(Johanne Modder [SPD]: Es geht um die Sitzungsordnung!)

Es ist völlig richtig, dass der Begriff „Schmutzfink“ nicht parlamentarisch ist. Insofern belege ich Herrn Nacke genauso wie Herrn Adler mit einem Ordnungsruf.

(Christian Dürr [FDP]: Der bekommt aber zwei! - Ursula Körtner [CDU]: Er hat das zweimal gesagt!)

Jetzt hat Herr Humke-Focks das Wort. Sie haben 90 Sekunden Zeit.

(Norbert Böhlke [CDU]: Der Adler kann doch kein Schmutzfink sein!)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Böhlke, Sie sind ja auf unseren Antrag eingegangen und haben an verschiedenen Punkten belegen wollen, dass er nicht schlüssig und nicht logisch ist.

Ich möchte aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts - mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident - Folgendes zitieren:

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Abs. 1 GG sichert

jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“

Darüber hinaus stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass Kinder und Jugendliche nicht wie kleine Erwachsene zu behandeln seien. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es ist nämlich, wenn man sie wie kleine Erwachsene behandelt - das stellen Sie fest, wenn Sie genauer hinschauen -, bei der Berechnung der Regelsätze ein Tabakkonsum berücksichtigt, aber keine Ausgabe für Windeln. Man muss die Sätze also komplett auf den Kopf stellen. Sie werden bzw. die Bundesregierung wird nicht darum herumkommen, die Regelsätze deutlich zu erhöhen.

(Roland Riese [FDP]: Das sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe! - Nor- bert Böhlke [CDU]: Das ist ein völlig anderes Thema!)

Wir werden darüber noch einmal beim Thema kostenlose Kontrazeptiva diskutieren. Erklären Sie dann einmal, wie ein Hilfebedürftiger, ein Leistungsempfänger von 13,70 Euro im Monat Verhütungsmittel kaufen soll! Damit überlassen Sie die Frage der Verhütung der Frau; denn von diesem Betrag kann man die billigste Sorte der Pille kaufen, ein Hormonpräparat. Prüfen Sie das einmal genau nach, und Sie werden auf jeden Fall auf eine deutlich höhere Summe kommen als bisher, also auf eine höhere Summe als 359 Euro.

Der nächste Redner ist Herr Watermann von der SPD-Fraktion. Bitte schön!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Thema der Sozialgesetzgebung haben wir uns ja schon des Öfteren beschäftigt. Worum geht es hier im Detail? - Es geht darum, dass es eine gute Regelung war, die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zusammenzulegen. Damit wurde eine Ungerechtigkeit in der Sozialhilfe abgeschafft

(Dr. Manfred Sohn [LINKE]: Nein!)

und etwas Gutes entwickelt: Es wurde nämlich Gerechtigkeit für Sozialhilfeempfänger hergestellt, die ihnen bis dahin nicht zuteil wurde.

Im Rahmen dieser neuen Gesetzgebung wurden bestimmte Werte ermittelt, die vom Bundesverfassungsgericht - und da weiche ich von den Ausführungen des Kollegen aus der Union ab - ganz eindeutig und ohne Wenn und Aber für nicht verfassungsgemäß erklärt worden sind. Auch wenn man ganz klar der Meinung ist, dass diese Gesetzgebung richtig war: In der Konsequenz gehört auch dazu, anzuerkennen, dass dann korrigiert werden muss, wenn etwas falsch gelaufen ist.

(Beifall bei der SPD)

Die Ermittlung der Daten muss auf vernünftige Weise vollzogen werden. Es ist eindeutig, dass die Regelsätze für Kinder an ihrem eigenen Bedarf orientiert errechnet werden müssen.

In Berlin - und da haben Sie ja ein Urvertrauen, das direkt in den Abgrund führt; aber das ist Ihr Problem und nicht meines -

(Zustimmung und Heiterkeit bei der SPD und bei der LINKEN)

rückt nun die Bundesarbeitsministerin von den Grundpfeilern dieser Gesetzgebung ab. Das betrübt mich natürlich außerordentlich. Von der Fraktion der Linken erwarte ich gar nichts anderes; denn sie ist im Unreinen mit dieser sozialen Gesetzgebung,

(Zustimmung von Heidemarie Mund- los [CDU] - Kreszentia Flauger [LIN- KE]: Na, na, na! Ich bitte Sie, Herr Kollege!)

nämlich der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.

Aber bei Ihnen habe ich bis dato immer geglaubt, dass Sie Bestand in der Politik auch als etwas begreifen, was gut ist. Jetzt muss ich erkennen: Der Wind in Berlin ist heftig geworden, und Sie laufen jetzt vollkommen aus dem Ruder. Sie wollen nämlich einen ganz wichtigen Bereich auf den Kopf stellen.

Ein Gedanke dieser Zusammenführung war doch auch, nicht zu diskriminieren. Der entscheidende Gedanke war, dass diese Menschen in der Situation der Not - und das soll kein Ersatz für die Arbeit sein - lernen, mit Geld umzugehen und nicht mit irgendwelchen Sachleistungen. Das war der Kern des Gedankens. Wer sich jetzt davon verabschiedet und über Sachleistungen redet, der geht weg von den Grundpfeilern.

Folgende einfache Feststellung: Die Linke will dieses Gesetz kippen, und CDU und FDP machen es dann praktisch. - Das ist schade, wie ich finde.

(Zustimmung bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir haben es ja geschafft, die Organisation gemeinsam auf den Weg zu bringen. Vielleicht können Sie Ihren Einfluss, der ja nicht so groß sein soll, doch noch einmal nutzen, um deutlich zu machen, dass die Sozialgesetzgebung eine klare Aufgabenstellung hat, nämlich die Aufgabenstellung, dass Menschen, die keine Arbeit haben und sich in sozialer Not befinden, von diesem Geld auskömmlich leben können müssen, dass die Arbeit aber trotzdem erstrebenswert und richtig ist und die Grundlage darstellt, um den Lebensunterhalt zu sichern. Das ist ein wichtiger Punkt.

(Zustimmung bei der SPD)

Vielleicht können Sie dort auch noch eines anbringen: Kinderschutz und Jugendschutz werden nicht über das Sozialgesetzbuch geregelt, sondern dazu gibt es eigenständige Regelwerke. Wer diese beiden Dinge miteinander vermischt, der tut unserer Sozialgesetzgebung nichts Gutes, sondern fügt ihr einen schweren Schaden zu. Deshalb appelliere ich an Sie, diesen Weg zu gehen und dafür zu sorgen, dass die Sätze bei Kindern und Erwachsenen vernünftig ermittelt werden.

(Heidemarie Mundlos [CDU]: Das hat Herr Böhlke doch gesagt!)

Ich habe übrigens nie irgendeine Zahl genannt. Sie haben ja gesagt, wir hätten Zahlen genannt. Wir meinen, dass es einen vernünftigen Weg dorthin geben muss. In einigen Punkten ist der Antrag der Linken deshalb richtig; denn er sagt aus, dass diese Wege beschritten werden müssen. Das müsste man allerdings nicht extra aufschreiben, weil das in vielen Debatten schon gesagt worden ist. Aber weil in dem Antrag auch viele falsche Punkte enthalten sind, werden wir uns bei der Abstimmung über den Antrag enthalten.

Ich würde mich freuen, wenn diese unheilige Allianz von Rot bis Schwarz-Gelb zur Zerstörung einer guten Gesetzgebung ein Ende hätte.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Frau Helmhold das Wort. Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war eindeutig: Die Bemessung der Regelsätze ist verfassungswidrig. Menschenrechte und Sozialstaatsgebot fordern die Festsetzung eines Betrages, der ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet. - So kann man es zusammenfassen.

Diesen Zustand fand das Bundesverfassungsgericht so schlimm, dass es nur eine sehr kurze Frist zur Umsetzung gesetzt hat, nämlich bis Ende dieses Jahres. Wir haben seit Jahren auf dieses Problem hingewiesen, das bei Kindern verschärft besteht. Ihre Bedarfe werden einfach prozentual von Erwachsenen abgeleitet. Das aber geht so nicht. Sie haben kinderspezifische, eigene Bedarfe, die man berücksichtigen muss. Herr Humke-Focks hat das Stichwort „Windeln“ genannt; ich nenne einmal das Stichwort „Bildung“.

Es ist ja nicht so, dass wir kein großes Problem hätten. In Niedersachsen lebt jedes fünfte Kind in Armut. Die Armutsquote stagniert auf hohem Niveau, auch wenn - ich hörte das heute im Plenum; und auch die Sozialministerin hat das als Erfolg verkündet - es eine Absenkung bei der Armutsquote von 14,7 auf 14,6 % gibt. Diese Absenkung als Erfolg zu verkaufen, das ist wirklich arm!

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN - Johanne Modder [SPD]: Peinlich!)

Ihre politischen Anstrengungen, meine Damen und Herren von dieser Seite, Armut zu beseitigen, bleiben mehr als bescheiden. In der Frage der Regelsätze haben Sie sich immer auf halbherzige Anträge im Bundesrat beschränkt und darauf gewartet, dass das Bundesverfassungsgericht zwingt. Mindestlöhne, die ein äußerst probates Mittel zur Armutsbekämpfung wären, bekämpfen Sie. Sie tun auch nichts gegen die Ausweitung der Leiharbeit. Auch das wäre ein sehr probates Mittel zur Bekämpfung der Armut. Da würde die Armutsquote aber sinken, meine Damen und Herren!

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Was jetzt aus Berlin kommt, lässt wenig hoffen. Statt die Kinderregelsätze vernünftig zu berechnen, wedelt die Bundesarbeitsministerin zunächst einmal mit der Bildungschipkarte herum. Die niedersächsische Sozialministerin will das Land Niedersachsen für diese unausgegorenen Versuche

auch noch zur Verfügung stellen. Darüber werden wir ja morgen diskutieren.

Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer riesigen Sparorgie, die die Bundesregierung bei ihrem Haushalt 2011 ff. vor allem den einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen verordnet: Das Elterngeld für Hartz-IV-Bezieher soll wegfallen. Das Übergangsgeld für ALG-I-Bezieher wird gestrichen. Der Heizkostenzuschuss für Bedürftige fällt weg. Die Rentenversicherungszuschüsse für ALG-II-Empfänger gibt es in Zukunft nicht mehr. Die aktive Arbeitsmarktpolitik wird stranguliert.