Protokoll der Sitzung vom 07.09.2010

Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer riesigen Sparorgie, die die Bundesregierung bei ihrem Haushalt 2011 ff. vor allem den einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen verordnet: Das Elterngeld für Hartz-IV-Bezieher soll wegfallen. Das Übergangsgeld für ALG-I-Bezieher wird gestrichen. Der Heizkostenzuschuss für Bedürftige fällt weg. Die Rentenversicherungszuschüsse für ALG-II-Empfänger gibt es in Zukunft nicht mehr. Die aktive Arbeitsmarktpolitik wird stranguliert.

(Glocke des Präsidenten)

Bezogen auf den Anteil des Sozialhaushaltes an allen geplanten Einsparmaßnahmen heißt das, dass sie sich über 37 % im Sozialhaushalt und damit bei den Ärmsten holt. Das sind über 30 Milliarden Euro.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Damit haben Sie von Schwarz-Gelb in Berlin Ihre Maske fallen lassen und offenbart, welchem Klientel Sie sich verpflichtet fühlen - und übrigens nicht nur da. Verräterisch ist ja manchmal auch Sprache. Frau von Below-Neufeldt hat eben in der BAföG-Debatte - und das hätte wirklich von fast jedem von Ihrer Seite kommen können, glaube ich - von einem Geschenk des Staates an Bedürftige gesprochen. Meine Damen und Herren, es ist ein Rechtsanspruch im Sozialstaat, dass bedürftige Menschen Leistungen bekommen. Das ist kein Geschenk.

(Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD und bei der LINKEN)

Kommen Sie zum Schluss, Frau Helmhold!

Ich komme zum Schluss. - Die Regelsatzberechnung zu fordern, ist im Antrag der Linken richtig. Wir halten allerdings die Setzung von 500 Euro für falsch. Exakt das soll ja berechnet werden. Deshalb werden wir uns zu diesem Antrag enthalten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Für die FDP-Fraktion spricht nun Herr Riese. Bitte sehr!

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Beratungen im Ausschuss - das darf ich Ihnen versichern - waren sorgfältig und fundiert. Wie jetzt auch aus den Redebeiträgen des Kollegen Watermann und der Kollegin Helmhold deutlich wurde, ist der Antrag in seiner Substanz, nämlich in den wenigen Forderungen, die darin stehen, so unplausibel, dass er zur Annahme nicht empfohlen werden kann. Insofern gab es vernünftige Debattenbeiträge der SPD und der Grünen im Ausschuss, die sich aber hier nicht in gleicher Weise dargestellt haben; das muss man deutlich sagen.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir alle wissen, dass die Bundesregierung mit Hochdruck dabei ist, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe auszuwerten und Vorschläge für die zukünftigen Regelsätze vorzulegen.

Wir alle ahnen auch, dass sich der wichtige Satz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts bewähren wird, dass nämlich die bisherigen Sätze nicht evident unzureichend sind. Ich darf diesen einen Satz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 mit Ihrer Zustimmung, Herr Präsident, hier wörtlich zitieren:

„Die in den Ausgangsverfahren geltenden Regelleistungen von gerundet 345, 311 und 207 Euro können zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht als evident unzureichend erkannt werden.“

So das Bundesverfassungsgericht. - Ganz ähnlich hat das ja sogar der Kollege Humke-Focks hier vorgetragen. Wie immer zieht er dann allerdings Schlüsse daraus, die der Logik entbehren. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Erkenntnissen aus dem Urteil und der Forderung, absolute Sätze von 500 Euro je Erwachsenen und Kind festzulegen.

Wenn es denn um die Frage geht, wie Menschen ihren Bedarf decken, muss ich an dieser Stelle noch einmal auf unsere Debatte aus dem Juni dieses Jahres zurückkommen, bei der Frau Helmhold, eine große Verteilungspolitikerin vor dem Herrn, uns an dieser Stelle erzählt hat, wie viele Schuhe ihre Kinder jährlich bekommen. Verehrte Frau Helmhold, ich muss sagen: Die Menschen, die mit ihrem Geld rechnen müssen, werden es

sich überlegen, ob sie ihren Kindern elf neue Paare Schuhe im Jahr kaufen können.

(Zustimmung bei der CDU)

Selbst wenn sie es denn tun, gilt Folgendes: Die Palette, die Sie damals hier vorgetragen haben - das waren zwei Paar Halbschuhe, ein Paar Sommersandalen, vier Paar Puschen, wie Sie gesagt haben, zwei Paar Sportschuhe, ein Paar Gummistiefel und ein Paar Winterstiefel im Jahr -, ist für ein Budget von 80,55 Euro zu erwerben, wenn man es denn will.

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Was?)

- Jawohl, 80,55 Euro, neuwertig. Sie wissen auch ganz genau, dass das Bundesverfassungsgericht in diesen Fragen ebenso wie das Bundessozialgericht festgestellt hat, dass nicht von vornherein immer ein Anspruch auf neuwertige Ware auch im Bereich Kleidung und Schuhe besteht.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Da müssen Bezieher kleiner Einkommen - Bezieher von Sozialleistungen, insbesondere aber diejenigen, die keine Sozialleistungen beziehen, sondern mit jedem selbst verdienten Euro und jedem Cent sorgfältig rechnen müssen - den Cent mehrfach umdrehen, um solche Entscheidungen zu treffen, die Sie hier als normal und selbstverständlich verkauft haben. So geht es nicht!

Meine Damen und Herren, der Ausschuss empfiehlt mit klarer Mehrheit, den Antrag abzulehnen. Es gibt gute Gründe dafür. Ich bitte das Haus, dementsprechend abzustimmen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Kollege Riese, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Meyer?

Herzlich gern.

Herr Kollege Riese, finden Sie es nicht zynisch, wenn man davon ausgeht, dass man bestimmten Eltern eher doch nur gebrauchte Schuhe empfehlen sollte, und sagt, dass sie keine neuwertigen Schuhe kaufen sollten? Würden Sie Ihren Kindern denn gebrauchte Schuhe geben?

Verehrter Herr Meyer, ich darf Ihnen eine Anekdote aus meiner Kindheit erzählen.

(Oh! bei den GRÜNEN)

Ich bin Jahrgang 1960. Mein Vater war Realschullehrer. Meine Mutter erteilte stundenweise Unterricht, so gut sie das mit den drei und später vier Kindern, die sie hatte, konnte. Als ich das erste Mal eine eigene, neu gekaufte Hose hatte, war ich 15 Jahre alt.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Zu dem Beitrag von Herrn Riese haben sich Herr Humke-Focks und Frau Helmhold zu Kurzinterventionen gemeldet. Als Erstem erteile ich Herrn Humke-Focks das Wort

(Unruhe)

- aber erst, wenn es ruhig geworden ist. - Vielen Dank. Jetzt können Sie zu Wort kommen.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Riese, ich stelle fest, dass Sie gesagt haben, ein Anspruch auf neuwertige Sachen usw. usf. ergebe sich nicht für jeden Mann, jede Frau

(Ursula Helmhold [GRÜNE]: Jedes Kind!)

und vor allen Dingen jedes Kind. Auf der Grundlage der Beispiele, die Sie genannt haben - durch Ihre Recherche im Internet oder sonst wie haben Sie irgendwelche günstigen Angebote zusammengeklaubt -, sage ich Ihnen:

(Zuruf von der CDU: In jeder norma- len Familie werden Sachen von Ge- schwistern aufgetragen!)

Sie spalten die Gesellschaft weiter. Und Sie wollen, dass die Armut auch wirklich sichtbar wird.

(Beifall bei der LINKEN sowie Zu- stimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Was Sie einmal angefangen haben, nämlich mit Regelungen zu Zahnärzten etc. pp. dafür zu sorgen, dass die Armut wieder sichtbar wird, soll jetzt auch an den Kleidungsstücken noch sichtbarer werden. Es ist unglaublich, was Sie hier angeführt haben.

Außerdem haben Sie gesagt, die Regelsätze seien nicht evident unzureichend, ihre Berechnung sei also nicht offensichtlich falsch. Sie müssen dann aber auch einmal sagen, in welchem Punkt bei der Berechnung denn noch Luft ist. Nennen Sie einmal Beispiele, an welchen einzelnen Punkten bei der Aufschlüsselung des Regelsatzes für Erwachsene von 359 Euro denn noch Spielräume bestehen und in welcher Weise das ausreichen soll! Sie werden sich noch wundern. Dass diese Regelsätze ausreichend sind, ist noch lange nicht geklärt. Dort ist auch nicht viel zu machen.

Sie haben auch gesagt - als letzte Bemerkung -, der Antrag sei nicht plausibel.

(Glocke des Präsidenten)

- Letzter Satz. - Offensichtlich haben Sie ihn nicht gelesen. Ich rate Ihnen zur Lektüre dieses Antrages. Wer liest, ist im Vorteil. Dann kommen Sie bitte zu Ihrem Urteil.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Die nächste Kurzintervention kommt von Frau Helmhold. Bitte schön, Frau Helmhold!