Protokoll der Sitzung vom 16.05.2017

Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung: „Pädagogischer Notstand“ in Teilen der Landeshauptstadt? - Landesregierung muss Bildung für alle Kinder auch in „sozialen Brennpunkten“ sicherstellen - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 17/8018

Die Einbringung übernimmt Kollege Kai Seefried. Herr Seefried, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man stelle sich einmal folgende Situation vor: Eltern machen sich gleich nach der Geburt ihres Kindes Gedanken über den zukünftigen Weg ihres Kindes, über die Erziehung, über die Bildung, über die Betreuung, ganz einfach über den Lebensweg ihres Kindes und stellen einen Antrag auf einen Platz im Kindergarten. Ob sie diesen Platz allerdings jemals in der Nähe ihres Wohngebietes bekommen, ist selbst bei einer so frühzeitigen Antragstellung offen.

Aber wenn sie es doch geschafft und einen Platz in dieser Kita bekommen haben, dann erleben die Kinder dort ein vollkommen verdrecktes Umfeld. Überall liegen Sperrmüll, Dreck und Scherben, auch auf dem Spielplatz, auf dem die Kleinsten spielen sollen.

(Astrid Vockert [CDU]: Unglaublich!)

Das ist aber noch nicht alles. Auf dem Spielplatz, auf dem die Kleinsten aufwachsen und zusammen mit den Erzieherinnen und Erziehern spielen, herrscht Lebensgefahr. Da fliegt immer wieder Müll von umliegenden Balkonen. Da fliegen Aschenbecher, dreckige Windeln, Flaschen, Scherben und sogar ganze Möbelstücke, die auf dem Spielplatz aufschlagen und neben den Kindern und Erziehern zerschellen.

(Astrid Vockert [CDU]: Unfassbar!)

Kann man sich so etwas vorstellen? - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich persönlich konnte mir nicht vorstellen, dass es eine solche Situation in einem Kindergarten in Deutschland geben kann. Bis ich von der Kita Canarisweg gehört habe, einer Kita in der Landeshauptstadt Hannover, einer Kita quasi vor unserer Haustür!

(Zustimmung bei der CDU)

Was ist da los, wie kann so etwas passieren? - Diese Frage habe ich mir immer wieder gestellt. Gestern habe ich in der Neuen Presse gelesen, dass die SPD-Landtagsfraktion verwundert sei, dass die Situation in der Kita Canarisweg Thema im Niedersächsischen Landtag wird - wie gesagt: während wir uns überlegen, wie so etwas überhaupt passieren kann und wie man hier unterstützen kann.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich kann nur sagen: Ich wundere mich über die Haltung der SPD-Fraktion. Es kann doch keine Frage sein, dass wir das hier behandeln. Selbstverständlich muss eine solche Situation hier behandelt werden. Das also ist nicht verwunderlich. Verwunderlich ist vielmehr, wie die SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag auf eine solche Situation reagiert.

(Beifall bei der CDU)

Aber eigentlich muss es einen doch nicht wundern. Man erkennt das ja auch schon an der geringen Präsenz. Das ist eine typische Haltung für die SPD-Fraktion und für die Landesregierung, wie wir sie die letzten viereinhalb Jahre schon erlebt haben: Man will solche Probleme aussitzen und nichts damit zu tun haben.

Man muss auch noch betonen, dass es sich nicht um Probleme in einer Kita irgendwo handelt, sondern in einer Kita im Wohnzimmer der SPD Niedersachsens, um es einmal so zu formulieren,

(Björn Thümler [CDU]: Was?)

in einer Kita in der Herzkammer der SPD, in der SPD-geführten Landeshauptstadt Hannover. Das macht deutlich: Die SPD hat durchaus ein riesiges Problem in großen Städten.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, wenn man sich fragt, was das soll und warum wir hier überhaupt darüber reden, dann muss man sagen: Diese Situation ist nicht neu. Mich erinnert diese Haltung der Verantwortungsträger auf der städtischen Ebene, aber auch der Landesebene in den letzten Jahren an das Ihnen allen bekannte Bild von den drei Affen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen! Genau das bezeichnet das Verhalten aller Verantwortungsträger, die bisher die Augen vor dieser Situation in der Kita Canarisweg und in Mühlenberg hier in Hannover verschlossen haben.

(Beifall bei der CDU)

Ich möchte gleich bei der Einbringung dieses Antrags deutlich machen, dass es hier im Niedersächsischen Landtag nicht heißen darf: „Das ist nicht unsere Aufgabe, das ist nicht unsere Verantwortung.“ Wenn wir solche Situationen in unserem Bundesland haben und die Kleinsten in unserem Land in Kindergärten und Schulen in Gefahr, in Dreck und in einem pädagogischen Notstand aufwachsen, dann ist es verdammt nochmal unsere Aufgabe, dass wir uns im Niedersächsischen Landtag darum kümmern.

(Beifall bei der CDU - Zuruf von der CDU: So ist es!)

Wenn man die Berichterstattung liest, die in den letzten Wochen sehr zahlreich war, dann liest man, dass die Eltern in Mühlenberg zornig sind. Die Versorgungsquote in der Kita ist so gering, dass man eben nicht sicher sein kann, dort einen Platz zu erhalten. Wie soll aber dann Integration ermöglicht werden? Das fragen auch die betroffenen Eltern. Wie sollen die Kinder die Chance auf Bildung, auf die Vermittlung der deutschen Sprache erhalten? - Hier gibt es nicht eine einzige Antwort, nicht von der Stadt, aber auch nicht von der Landesregierung. Wir brauchen doch endlich ein richtiges Konzept zur Vermittlung der deutschen Sprache in unseren Kindergärten und Schulen. Machen wir doch deutlich, dass wir dort zur Bewältigung der Flüchtlingskrise noch viel mehr benötigen.

Anstatt hier Antworten zu liefern, diskutieren SPD und Grüne lieber über mehr Mehrsprachigkeit, aber nicht über ein vernünftiges Konzept zur Sprachförderung. Stattdessen wollen sie sogar die begonnen Wege zur Sprachförderung noch reduzieren. Wie kann man so in Niedersachsen agieren? Das ist nicht mehr nachzuvollziehen.

(Beifall bei der CDU)

Allen Beteiligten sollte in Niedersachsen klar sein, dass wir nach wie vor nicht zu viel Sprachförderung haben, sondern immer noch zu wenig. Das haben wir mehrfach diskutiert. Deswegen ist es nicht nachvollziehbar, dass diese Landesregierung ernsthaft auf die Idee kommt, hier auch noch weiter abzubauen.

Meine Damen und Herren, es reicht eben nicht aus, jetzt die begonnenen Maßnahmen zu diskutieren und weiterzuverfolgen. Es reicht eben nicht aus, bei umliegenden Häusern die Balkone mit Taubennetzen zu vergittern, sondern es muss endlich entsprechend gehandelt werden. Das müssen wir in gemeinsamer Verantwortung tun.

(Zustimmung bei der CDU)

In Hannover-Mühlenberg leben heute ca. 7 500 Menschen aus 50 verschiedenen Nationen. Eine Gruppe aus Bildungsexperten um Manfred Bönsch, emeritierter Professor an der Leibniz-Uni, beschreibt die Situation in Mühlenberg als echten pädagogischen Notstand und fordert ein pädagogisches Intensivkonzept für soziale Brennpunkte des Landes und der Stadt. Genau dies greifen wir in unserem Entschließungsantrag auf; denn neben der dramatischen Situation an der Kita Canarisweg geht es eben auch um die Grundschule Mühlenberg und die Peter-Ustinov-Oberschule in Mühlenberg.

Die Situation setzt sich dort fort. Was an Basis nicht im Kindergarten gelegt wird, verschleppt sich in die weiteren Schulformen. Die HAZ schreibt heute, also wirklich tagesaktuell, in einem Artikel unter der Überschrift „Das Klima an der Schule ist von Gewalt geprägt“ gleich im Einstieg: „Die Probleme in der Grundschule Mühlenberg sind weitaus dramatischer als bislang bekannt“. Es heißt dort, Tritte und Schläge seien an der Tagesordnung. Es ist die Rede von Bedrohung: „Mit dir sprech‘ ich gar nicht, dich stech‘ ich ab!“

(Unruhe)

- So steht es gerade heute Morgen in diesem Artikel.

Lehrkräfte und schulische Mitarbeiter seien einer verbalen und körperlichen Gewaltbereitschaft von Schülern und Eltern ausgesetzt. Vor allem Mädchen seien Zielscheibe heftiger Beschimpfungen, wobei „du Schlampe“ noch harmlos sei. In einigen Fällen ist die Polizei gerufen worden.

Meine Damen und Herren, was ich Ihnen hier gerade schildere, spiegelt die Situation an einer Grundschule wieder. An einer Grundschule! Ich kann nur sagen: Als Landespolitiker, aber auch als Vater von kleinen Kindern macht es mich extrem betroffen, welche Situation hier vorherrscht.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Laut der Presseberichte loben die Eltern - das finde ich wichtig - immer wieder die Tätigkeit der Lehrkräfte, der schulischen Mitarbeiter und auch der Erzieherinnen in der Kita Canarisweg. Ich sage an dieser Stelle: Ihnen allen gebührt unser Riesenrespekt und eine riesige Anerkennung. Wir dürfen sie aber nicht allein lassen, sondern müssen sie unterstützen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Das Forum der Bildungsexperten fordert zur Unterstützung der Grundschule den Ausbau als Ganztagsschule. Bereits 2010 hat die Grundschule einen Antrag auf Ganztagsschule gestellt.

Wenn man heute die Diskussion hört, dass jetzt, sieben Jahre später, darüber diskutiert wird, ob möglicherweise 2020 dort eine Ganztagsschule eingerichtet werden könnte, dann frage ich mich, wie die Verantwortungsträger auch schon 2010 so die Augen vor der Situation verschließen konnten und nicht die notwendigen Maßnahmen eingeleitet haben - politische Verantwortungsträger, die in Hannover traditionell mehrheitlich der SPD angehören, die doch immer so sehr von Gerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit predigen.

Wer 2010, als der Wunsch auf Einrichtung einer Ganztagsschule ausgesprochen worden war, Oberbürgermeister in Hannover war, das wissen, glaube ich, alle hier im Hause sehr gut.

(Heiner Schönecke [CDU]: Können Sie ihn das einmal fragen?)

- Ich werde ihn gleich daran erinnern, Herr Schönecke.

Der Vorsitzende des Kirchenvorstandes der Bonhoeffer-Gemeinde - deswegen kann man sich in der Diskussion viel Unterstützung holen - schreibt: Wie ist es möglich, dass eine Grundschule mit fast 90 % Migrationsanteil in der Zusammensetzung der Schülerschaft so unzureichend seitens des Schulträgers und des Landes gefördert und unterstützt wird?

(Astrid Vockert [CDU]: Da hat er Recht!)

Deswegen finde ich: Spätestens jetzt könnte der ehemalige Oberbürgermeister und heutige Ministerpräsident Stephan Weil an dieser Stelle auch Verantwortung übernehmen und Unterstützung geben.

(Beifall bei der CDU - Julia Willie Hamburg [GRÜNE]: Das war be- stimmt vor vier Jahren ganz anders, Herr Seefried, bestimmt!)

In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung wird die Situation an der Peter-Ustinov-Oberschule so geschildert, dass es kaum noch möglich ist, den Lehrplan umzusetzen, dass viele Kinder nicht über entsprechende Sprachkenntnisse verfügen und aus bildungsfernen Schichten stammen.

Deswegen, meine sehr geehrten Damen und Herren: Wir müssen Kindergärten und Schulen, die sich in solchen Notlagen befinden, mehr Unterstützung zukommen lassen. Wir brauchen ein abgestimmtes Gesamtkonzept für soziale Brennpunkte mit mehr Personal, mehr pädagogischen Mitarbeitern, mehr Schulsozialarbeit - eben nicht weniger - mehr Sprachförderung.

(Zustimmung bei der CDU)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wer so, wie es da passiert, an unseren Kindern spart, der riskiert unsere gemeinsame Zukunft.

(Beifall bei der CDU - Zuruf: Bravo!)

Vielen Dank, Herr Seefried. - Nunmehr hat sich Heiner Scholing für Bündnis 90/Die Grünen zu Wort gemeldet. Herr Scholing, Sie haben das Wort.