Protokoll der Sitzung vom 24.07.2014

Für viele bedeutet das in der Praxis: Sie können überhaupt nicht nach Deutschland einreisen. 2011 wurden fast 10 % aller Anträge auf einen Kurzaufenthalt und ein sogenanntes Schengen-Visum abgelehnt. Zwischen Frankreich und der Türkei waren es dagegen nur 3,5 %.

In einer globalisierten Welt ist dieses Verfahren Gift für alle Beteiligten. Familien können sich nur selten gegenseitig besuchen. Geschäftsreisen werden für Unternehmer zum bürokratischen Monstrum. Jugendaustausche werden unnötig kompliziert.

Wie kann das sein? - Immerhin ist es schon über 50 Jahre her, dass das Anwerbeabkommen zwischen beiden Ländern geschlossen wurde. Immerhin gibt es seit 1995 eine Zollunion mit der Türkei. Immerhin ist die Türkei seit 2005 Beitrittskandidat der EU. Deutschland und die Türkei sind für mich mehr als nur strategische Partner - sie sind enge Freunde.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Deutschland mit dem Label „Made in Germany“ ist übrigens für die Menschen in der Türkei immer noch die klare Nummer eins. Würde man türkischen Bürgerinnen und Bürgern drei verschiedene Produkte - nur gekennzeichnet durch die Nationalsymbole des Produktionslandes - zur Auswahl

geben, würden Sie sich immer für „Made in Germany“ entscheiden.

Auf türkischen Straßen fahren vor allem deutsche Autos. Nahezu jeder zweite Türke hat freundschaftliche oder sogar familiäre Verbindungen zu uns nach Deutschland. Der enge Austausch beider Länder ist deshalb eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe - hier wie dort. Auch unsere über Jahre gewachsene Freundschaft sollten wir unbedingt weiter ausbauen, auch wirtschaftlich.

Meine Damen und Herren, Niedersachsen könnte, Niedersachsen sollte den entscheidenden Impuls geben, diese Hürden abzubauen; denn insbesondere niedersächsische und türkische Unternehmer unterhalten enge wirtschaftliche Beziehungen. Wenn wir die Partnerschaft mit der Region Konya intensivieren, werden es noch viele mehr. Schon jetzt haben über 100 unserer niedersächsischen Unternehmen Tochtergesellschaften oder Gesellschaften in der Türkei. Schon jetzt haben fast 5 000 türkischstämmige Unternehmer ihren Sitz hier bei uns in Niedersachsen. Schon jetzt ist Deutschland aus Sicht der Türkei der wichtigste Handelspartner.

Es kann doch nicht sein, dass Messeauftritte türkischer Unternehmen z. B. bei der CeBIT oder der Hannover Messe daran scheitern, dass Visa nicht rechtzeitig fertig oder gar nicht erst ausgestellt werden! Ich habe es bei meinen Messerundgängen selbst gesehen: Türkische Unternehmer schicken ihren teuren Standaufbau vorweg, können aber selbst nicht herkommen. Am teuren Messestand stapeln sich dabei die Kisten und warten darauf, ausgepackt zu werden.

(Belit Onay [GRÜNE]: Sehr bitter!)

Das kann doch nicht wahr sein und schon gar nicht in unserem Interesse sein!

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Auch während der Reise mit unserem Ministerpräsidenten in die Türkei haben wir zahlreiche Gespräche geführt mit Menschen, mit Unternehmen, aber auch mit Institutionen wie der Industrie- und Handelskammer sowie mit Universitäten.

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Busemann, liebe Frau Pieper, sehr geehrter Herr Dürr, lieber Belit, Sie alle waren mit dabei. Sie alle können bestätigen: Die Visafreiheit wurde in den zahlreichen Gesprächen, die wir geführt haben, immer

wieder gewünscht und von unseren türkischen Kolleginnen und Kollegen auch gefordert.

Stellen Sie sich das mal in der Praxis vor: Ihr engster Wirtschaftspartner umgibt sich mit einer Visapflicht. Ihr engster Wirtschaftspartner schirmt sich so sehr ab, dass auch Freunde Mühe haben, einreisen zu können. Das ist auch als Signal eine totale Katastrophe!

Ja, natürlich würde die Türkei von einer Visafreiheit profitieren. Aber ich sage Ihnen: Vor allem würde Deutschland, würde Niedersachsen und würden auch wir von dieser Visafreiheit stark profitieren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

An dieser Stelle möchte ich Ihnen ein paar wichtige Fakten nennen. Europa: 1 % Wachstum. Türkei: 5 % Wachstum. Die Türkei wird bis 2017 die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der OECD sein. In den kommenden fünf Jahren wird die Türkei Investitionen von mehr als 110 Milliarden USDollar anziehen. Der britische Economist nennt die Türkei „Europas China“.

Sie sehen, der kleine Aufwand, eine Bundesratsinitiative zu starten, könnte sich entscheidend lohnen, auch für uns. Wenn ich mir dann noch anschaue, wie viele Städte und Gemeinden aus Niedersachsen kulturelle oder sportliche Austauschprogramme mit Regionen der Türkei anstreben - mit den gleichen Schwierigkeiten, die auch Unternehmen haben -, dann ist für mich abschließend klar, wie wichtig unser Ansinnen in dieser Angelegenheit ist.

Die Partnerschaft, die Freundschaft zwischen beiden Ländern auf allen Ebenen zu verankern und nachhaltig zu vertiefen, sollte es uns wert sein, die Diskussion um die Visafreiheit auf die nächste Ebene zu bringen. Deshalb stellen wir vier Kernforderungen auf:

(Unruhe - Glocke der Präsidentin)

Erstens. Visafreiheit für Wirtschaftsreisen.

Zweitens. Visafreiheit für Familienbesuche.

Drittens. Vereinfachung für Delegationsreisen, Städtepartnerschaften sowie Sport- und Jugendreisen.

Viertens. Visaliberalisierung im Rahmen der weiteren EU-Beitrittsverhandlungen.

Wer die qualifizierte Partnerschaft zwischen der Türkei und der EU ernst nimmt, kann kaum anders,

als unseren Antrag zu unterstützen. Dass ich als großer Fan einer starken Türkei in der EU noch einen Schritt weitergehen würde, sei mir als persönliche Anmerkung gestattet. Für mich gehört die Türkei zu Europa - und nicht nur, damit Unternehmen bessere Umsätze machen können, sondern auch, damit unsere Gesellschaften voneinander profitieren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich bin gespannt auf unseren inhaltlichen Austausch in den Gremien und freue mich auf Ihre Unterstützung.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Erkan. - Für FDP-Fraktion hat nun Frau Eilers das Wort.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit diesem Antrag versuchen Sie, liebe Kollegen von Rot-Grün, eine Lösung für ganz unterschiedliche Interessengruppen in der Türkei und für verschiedene Ausreiseanlässe zu finden. Sie vermengen dabei die Forderung nach einer Verschlankung des bürokratischen Aufwands mit der Forderung nach Visafreiheit insgesamt.

(Björn Thümler [CDU]: Genau!)

Der Antrag geht in seiner Grundannahme davon aus, dass sich die Visavergabe - ich zitiere - „für viele Antragsteller als unüberwindbar erweist.“ Herr Erkan hat es in seiner Rede gerade noch einmal betont. Sie erheben durchaus gewichtige Vorwürfe gegen die deutsche Botschaft und sprechen u. a. von Irreführung. Das sind recht pauschale Aussagen, die Sie in der Ausschussberatung sicherlich noch näher begründen werden.

Es ist jedoch richtig, dass sich türkische Staatsangehörige in der Regel mit großem bürokratischen Aufwand auseinandersetzen müssen, wenn sie nach Deutschland einreisen wollen. So können wir generell die Forderung unterstützen, dass die Verwaltungsverfahren in der deutschen Botschaft und in den Konsulaten transparenter und nachvollziehbarer in angemessener Zeit durchzuführen sind.

(Beifall bei der FDP)

Die Vergabepraxis ist aber insgesamt durchaus differenzierter zu betrachten und abhängig vom Zweck und von der Dauer des Aufenthaltes zu gestalten. Die Liebe kann nicht das einzige Kriterium sein. Gerade bei Wirtschaftsreisen ist es unserer Auffassung nach wichtig, dass Geschäftsleute spontaner und unbürokratischer nach Deutschland einreisen können. Es ist geradezu widersinnig, dass türkische Waren frei in die EU transportiert werden und Unternehmer sich langjährigen Verfahren unterziehen müssen.

(Jan-Christoph Oetjen [FDP]: So ist es!)

Diese Haltung in Bezug auf türkische Staatsangehörige, die aktiv Leistungen erbringen - das haben Sie gerade angeführt -, wurde vom EuGH bekräftigt.

Eine Vereinfachung und eine Vergabe längerfristig gültiger Einreisegenehmigungen würden die gut entwickelten wirtschaftlichen Beziehungen auch zwischen Niedersachsen und der Türkei im Speziellen festigen können und einen positiven Niederschlag auf die Handels- und Dienstleistungsbilanz haben. Ebenso muss das für Delegationsreisen und für Reisen gelten, die der Pflege kultureller oder zivilgesellschaftlicher Zwecke dienen.

Die Verhandlungen zur Visaliberalisierung, die auf EU-Ebene aufgenommen worden sind, sind deswegen ein wichtiger Schritt. Diese Ergebnisse werden maßgeblich sein für die Regelung in Deutschland und für die deutsche Botschaft. Ihr Ausgang wird letztlich auch den Rahmen bilden, der für uns hier in Niedersachsen maßgeblich ist. Ob nun speziell dieser Antrag große Auswirkungen darauf haben wird, wage ich zu bezweifeln. Doch ich bin gespannt auf die Ausschussberatungen und auf die Präzisierung insbesondere der Punkte 2 und 4 Ihres Antrages.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Vielen Dank, Frau Eilers. Auf Ihre Ausführungen gibt es eine Kurzintervention. Herr Kollege Onay, bitte!

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Frau Eilers, ich will vor allem auf einen Punkt eingehen, weil Sie uns in Bezug auf unseren Antrag Undifferenziertheit vorgeworfen haben. Um es noch ein

mal aufzuschlüsseln: Der Antrag enthält vor allem eine Kernbotschaft, wenn man es so formulieren will, nämlich die Stillhalteklausel, auf die sich quasi auch die gesamten EuGH-Entscheidungen stützen. Diese Stillhalteklausel besagt, dass die Situation, wie sie damals war, als die Klausel eingeführt wurde - Stichwort „Visafreiheit“ -, nicht verschlechtert werden darf. Es ist aber dann die Visapflicht eingeführt worden. Daran hängt jedoch auch die Verwaltungspraxis. In der Türkei macht die deutsche Botschaft damit - wenn man es salopp formulieren will - ziemlich große Gewinne; sie macht Kasse. Man hat es ausgeschrieben und an die Firma iDATA gegeben, die dort sehr organisiert vorgeht und sehr große Einnahmen einfährt, indem sie die gesamten Visaverfahren leitet und macht und tut. Das ist auch eine Verschlechterung im Sinne der Stillhalteklausel.

Ich empfehle Ihnen übrigens eine Stellungnahme - ich glaube, sie ist aus 2011 - des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu ebendieser Stillhalteklausel. Das ist wie eine Generalabrechnung mit der deutschen Visapolitik in Bezug auf die Türkei.

Dann haben Sie die Verhandlungen mit der EU zur Visaliberalisierung angesprochen. Da ist es schon so, dass sozusagen diese verschlechterte Situation, also der Rechtsbruch, als Basis für die Verhandlungen genommen wird. Der EuGH hat in dem Fall ganz klar Recht gesprochen und die Visaliberalisierung eingefordert.

Man möchte das auch noch mit der Rücknahme von Flüchtlingen verknüpfen. Das hat in diesem Kontext allerdings nichts zu suchen.