Protokoll der Sitzung vom 20.01.2015

Herr Ministerpräsident, liebe Kollegen, Integration - darum ging es ja in den Debatten der letzten Wochen - hat vor allem auch mit Teilhabe zu tun. Wer bei uns Schutz sucht, hat ein Recht, am sozialen Leben teilzuhaben. Viele Flüchtlinge, die derzeit zu uns kommen, haben vor allem ein Ziel: Sie wollen von ihrer eigenen Hände Arbeit leben können. Der volle Zugang zum Arbeitsmarkt - Sie haben das angesprochen - ist deshalb auch ein aktiver Beitrag zur Integration. Deswegen will ich klar sagen: Das dreimonatige Arbeitsverbot für Asylbewerber und Flüchtlinge gehört daher genauso abgeschafft wie die sich anschließende zwölfmonatige bürokratische Vorrangprüfung durch die Bundesagentur für Arbeit, meine Damen und Herren.

(Zustimmung bei der FDP)

Ich meine auch: Bei der Berufsausbildung sollten wir sofort aktiv werden. Der Bedarf an Auszubildenden ist vor allem beim Handwerk auch in Niedersachsen besonders groß. Es braucht deshalb ein Bleiberecht während und vor allem auch für die Zeit direkt im Anschluss an die Ausbildung.

Herr Ministerpräsident, Sie haben vorhin erklärt, dass zumindest dieser Punkt durch die Landesregierung unterstützt wird. Ich will deshalb sagen: Wir können dann auch erwarten, dass Sie eine entsprechende Initiative dazu in den Bundesrat einbringen

(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will zum Schluss noch eines sagen, weil das vorhin auch schon vom Kollegen Thümler und vom Herrn Ministerpräsidenten zitiert worden ist. Die Bundeskanzlerin hat vor wenigen Tagen gesagt: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ - Das ist richtig.

(Thomas Schremmer [GRÜNE]: Hat sie nicht gesagt!)

Ich will Folgendes hinzufügen. Noch wichtiger ist: Menschen islamischen Glaubens, die Muslime gehören zu Deutschland, und sie gehören zu Niedersachsen. - Deswegen muss eines klar sein: Wer gegen Vielfalt auf die Straße geht, dem sagen

wir: Toleranz ist aus unserer Sicht niemals die Akzeptanz von Intoleranz, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP)

Was wir brauchen, ist nicht zuletzt ein Zusammenhalt stiftendes Gerüst in unserer Gesellschaft - auch gerade in einer Gesellschaft, in der es Menschen gibt, die verunsichert sind -, an dem unbeschadet ihrer Religion, ihrer ethnischen Herkunft, ihres sozialen Status und politischen Standortes alle Bürgerinnen und Bürger Halt finden könnten. Und ich glaube, den haben wir.

„Jeder nach seiner Façon selig“ - auf der Grundlage unseres Grundgesetzes und unserer Niedersächsischen Verfassung.

Ich will deshalb zum Schluss eines deutlich sagen: Dies ist die Stunde eines gelebten Verfassungspatriotismus und nicht die dumpfer, völkischnationalistischer Parolen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Dürr. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Fraktionsvorsitzende Frau Piel das Wort. Bitte!

Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich richte meinen Dank nicht nur an den Ministerpräsidenten für diese Regierungserklärung, sondern auch an alle vorangegangenen Rednerinnen und Redner für ihre klugen und auch Gemeinsamkeit stiftenden Worte.

Die Berichte und Bilder von den furchtbaren Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und auf den koscheren Supermarkt in Paris haben uns alle geschockt und tief betroffen zurückgelassen. Menschen wurden kaltblütig hingerichtet. Und jeder dieser schrecklichen Morde war auch ein gezielter und heimtückischer Angriff auf die Pressefreiheit, die Religionsfreiheit und auch auf eine offene und demokratische Gesellschaft, in der Karikaturisten selbstverständlich das Recht haben, mit ihren Zeichnungen zu provozieren und uns zum Nachdenken anzuregen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wie gehen wir mit diesem Schock um? Was machen wir aus der Trauer, aus der Wut und aus der

Ohnmacht? - Die Antwort lässt sich im Moment in drei Wörtern zusammenfassen: „Je suis Charlie.“

Was heißt das eigentlich: „Je suis Charlie“? - Das sind drei Worte, aus denen bei aller Trauer, Ohnmacht und Wut auch ein gemeinsames Selbstbewusstsein spricht. Wir haben es heute von den Rednern gehört: ein demokratisches Selbstverständnis, ein Bekenntnis zur Pressefreiheit und ein Bekenntnis zur Religionsfreiheit, ein breit aufgestelltes solidarisches Bekenntnis zu einer Gesellschaft, die sich trotz oder gerade wegen ihrer Offenheit angreifbar macht und Angriffe aushält, weil es etwas zu verteidigen gibt, was es wert ist, verteidigt zu werden.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Das ist auch ein Bekenntnis zu Vielfalt, zu Toleranz und zu Demokratie sowie ein Bekenntnis zur festen Absicht, nicht und unter keinen Umständen nachzulassen, für all diese Werte einzutreten, meine Damen und Herren.

„Je suis Charlie“ heißt, dass wir auch zukünftig nicht auf Satire, auf diese Art von Auseinandersetzung, und auf die Freiheit verzichten wollen.

„Je suis Charlie“ ist aber vor allem anderen eine umarmende Geste. Bei den Pegida-Demos und ihren Ablegern stehen in den letzten Wochen im Gegensatz dazu nicht die Nähe und nicht die Solidarität im Mittelpunkt. Was die Menschen bei diesen Kundgebungen eint, ist der Wunsch nach Abgrenzung, nach Abschottung, die Angst vor dem scheinbar Fremden und die Ablehnung einer freien Presse, die Ablehnung von Vielfalt und Freiheit überhaupt.

Wir teilen diese Angst nicht, wir machen uns nicht gemein mit denen, die ausgrenzen und diese Ablehnung kultivieren. Allein in Hannover haben fast 20 000 Menschen gezeigt, dass sie sich miteinander beschäftigen und nicht abgrenzen oder einmauern wollen und dass sie sich unter keinen Umständen auf islamfeindliche Hetze einlassen und Ausgrenzung zulassen werden.

Mich hat in diesem Zusammenhang sehr gefreut, dort so viele Menschen zu erleben und mit an Bord zu haben. Und vielleicht nimmt irgendwann ja auch einmal ein CDU-Fraktionsvorsitzender an solch einer Demonstration teil. Ich empfände das als Größe.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Mit dem multireligiösen Friedensgebet in der überfüllten Marktkirche ist mir deutlich geworden, dass die Bereitschaft der Menschen zu mehr Verständigung gelebt wird und dass sie ungebrochen ist.

In den Gesprächen am Rande der Demo habe ich feststellen können, dass die Menschen da draußen sehr wohl trennen können zwischen der Freundschaft mit der neuen Nachbarsfamilie aus Syrien und den terroristischen Gewalttaten, bei denen die Religion nur ein Deckmantel, nur ein Vorwand ist.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Das macht mir Mut. Diese breite gesellschaftliche Basis ist eine Chance, die wir nicht leichtfertig verspielen dürfen, indem wir uns von Rechtspopulisten treiben lassen.

Die schrecklichen Ereignisse in Frankreich haben bei einigen sehr konkrete Reflexe hervorgerufen, u. a. den Ruf nach verschärften Gesetzen, mehr Überwachung und mehr Datenerfassung. Wer das tut, der sitzt einem ganz fatalen Irrglauben auf - und das geht auch an Sie, Herr Thümler -: Die offene Gesellschaft wird nicht verteidigt, indem wir auf noch mehr Überwachung setzen.

(Björn Thümler [CDU]: Das habe ich auch nicht gesagt!)

Sie wird vergiftet. Die Vorratsdatenspeicherung kann, wie Heribert Prantl ganz treffend bemerkt hat, nicht die Reaktion sein, wenn unsere Pressefreiheit angegriffen wird, da sie eben diese Freiheit selbst tendenziell gefährdet. - Das ist auch ein Teil der Wahrheit.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD - Björn Thümler [CDU]: Das ist Unsinn!)

Und es muss auch gesagt werden, Herr Thümler, dass es in Frankreich bereits Vorratsdatenspeicherung gibt. Und trotzdem konnten diese grausamen Anschläge dort nicht verhindert werden.

(Björn Thümler [CDU]: Das kann sie auch nicht! Sie kann aber zur Aufklä- rung beitragen! Das ist der Unter- schied!)

Wir als verantwortliche Landespolitiker dürfen uns weder von den Gegnern der Demokratie noch durch falsche Reflexe treiben lassen.

(Björn Thümler [CDU]: Haben wir auch gar nicht!)

Mein Dank geht an dieser Stelle ausdrücklich an unseren Innenminister

(Christian Dürr [FDP]: Aber er ist da- für! Er hat sich doch gerade dazu ge- äußert!)

und an den Verfassungsschutz, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgesprochen profiliert und verantwortlich für uns und unseren Schutz im Einsatz sind.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)

Wir geben unser Freiheit auch dann nicht auf, wenn sie angegriffen wird. Gerade in schwierigen Zeiten sind wir gefordert, diese wertvolle Freiheit und Demokratie selbstbewusst zu verteidigen.

Ja, meine Damen und Herren, es waren Islamisten, die unsere Werte von Frankreich ausgehend empfindlich angegriffen haben. Das Problem ist aber nicht der Islam.

(Björn Thümler [CDU]: Das sagt doch auch keiner!)

Die Probleme sind der gefährliche Fundamentalismus und das Phänomen der Radikalisierung insbesondere junger Menschen mit wenigen Perspektiven. Oft sind es auch junge Männer mit kriminellem Hintergrund, die sich im Gefängnis von falschen Versprechungen verführen lassen.

Stattdessen müssen wir weiterhin solche Projekte fördern, in denen mit ihnen geredet wird, in denen sie lernen, sich selbst mehr wertzuschätzen, sodass sie nicht Opfer solcher und anderer Verführungen werden.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der SPD)