Protokoll der Sitzung vom 19.03.2015

Selbstverständlich müssen wir alles dafür tun - dies will ich deutlich sagen -, damit auch Menschen, die heute in Deutschland leben, bessere Chancen am Arbeitsmarkt bekommen. Da sind die Themen Kinderbetreuung, also eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sowie ältere Arbeitnehmer zu nennen. In diesem Zusammenhang sind die Beschlüsse der Großen Koalition aus den letzten Monaten nicht zu jedem Zeitpunkt hilfreich gewesen, wenn ich das sagen darf. Selbstverständlich müssen auch Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt integriert werden. Aber all das - auch das können wir heute feststellen - wird bei Weitem nicht ausreichen, meine Damen und Herren.

Kurz gesagt: Der Rückgang der Erwerbsbevölkerung und eine Bevölkerungspyramide, die in einigen Jahren fast auf dem Kopf steht, bedrohen unseren Wohlstand in Deutschland, meine Damen und Herren. Wir müssen genau deshalb die deutsche Einwanderungsgesetzgebung wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Dabei geht es um Einwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt.

In diesem Zusammenhang, Herr Präsident, möchte ich anregen, dass der Landtag gleich beschließt, dass dieser Antrag nicht nur im Innenausschuss und im Ausschuss für Haushalt und Finanzen, sondern auch im Ausschuss für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr behandelt wird.

Was wir Ihnen in diesem Antrag vorstellen, ist eine klare Trennung der Rechtskreise. Auf der einen Seite steht ein Einwanderungsgesetz für Deutschland, wie vorhin beschrieben. Auf der anderen Seite stehen die Themen Asyl und Flüchtlinge.

Ich will zunächst etwas zum Thema Einwanderungspolitik sagen. Die Einwanderung nach Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten größtenteils ungesteuert stattgefunden. Das hing auch damit zusammen, dass wir sinngemäß eine Debatte geführt haben, ob Deutschland denn nun ein Einwanderungsland oder kein Einwanderungsland sei. Diese Frage ist aus meiner Sicht - dies möchte ich klar sagen - überholt. Die Frage ist nämlich nicht, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, sondern es geht darum, dass wir es uns schlicht und einfach nicht leisten können, in Deutschland auf Einwanderung zu verzichten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)

Deshalb - das stellt dieser Antrag vor - müssen wir endlich klar definieren, was unsere Bedürfnisse sind. Wir müssen das am Ende des Tages in einem Einwanderungsgesetz in Recht und Gesetz zusammenfassen.

(Filiz Polat [GRÜNE]: Aber es geht auch um die Bedürfnisse der Leute, die zu uns kommen!)

Um es einmal sehr klar und deutlich zu sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Einwanderung nach Deutschland und nach Niedersachsen ist in bestem nationalen Interesse. Wer das heute noch negiert, der setzt den Wohlstand der Deutschen aufs Spiel, um das einmal sehr klar zu unterstreichen.

(Beifall bei der FDP und Zustimmung bei der CDU)

Bisher werden bundespolitisch verschiedene Einzelvorschläge an der Stelle diskutiert. Ich will eines deutlich sagen: Wir dürfen uns hier nicht im KleinKlein verlieren.

(Filiz Polat [GRÜNE]: Was?)

Wir legen Ihnen deshalb heute, liebe Frau Kollegin Polat, mit diesem Antrag ein umfangreiches Konzept zum Thema Einwanderung vor. Deutschland muss sein Einwanderungsrecht zu einem vollständigen Punktesystem ausbauen, wie es uns andere klassische Einwanderungsländer - ich nenne Neuseeland, Kanada, Australien und viele andere - bereits vormachen.

(Beifall bei der FDP)

Wir erleben aktuell neben dem Flüchtlingsstrom - das ist vorhin schon diskutiert worden - auch einen Migrationsboom auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Aber - das muss uns allen klar sein - er wird erstens nicht von Dauer sein. Zweitens - das ist noch viel wichtiger - handelt es sich zum größten Teil um Migration innerhalb der Europäischen Union. Im ersten Halbjahr 2014 beispielsweise, so sagt das Statistische Bundesamt, sind 476 000 Menschen aus der Europäischen Union nach Deutschland zugewandert. Das sind 85 % aller ausländischen Zuwanderer. Die europäische Binnenmigration bringt uns deshalb auf Dauer an der Stelle nicht weiter.

Ich bin sehr für die Freizügigkeit, keine Frage. Aber die europäischen Nachbarn haben ähnliche demografische Probleme wie Deutschland. Ich habe kürzlich auf einer Veranstaltung des Sozialverbandes Deutschland mit einem Pflegedienstleister gesprochen, der mir klar gesagt hat, dass die ausländischen Pflegekräfte dann - spanische Pflegekräfte standen dort in Rede -, wenn die Situation im Heimatland wieder besser geworden ist, zurück zu ihren Familien in das Heimatland gehen.

Es geht also vor allem - dies möchte ich unterstreichen - um Zuwanderung, um Einwanderung von außerhalb der Europäischen Union. Aber da sieht es in Wahrheit mau aus. Über das sogenannte Jobseeker-Visum - also nach Deutschland einwandern, sechs Monate hier bleiben und dann einen hoch qualifizierten Job annehmen - sind im ganzen Jahr nur 475 Akademiker nach Deutschland gekommen.

Wir müssen Fachkräften aus dem Ausland schlicht und einfach den roten Teppich ausrollen, meine Damen und Herren. Experten sagen, dass eine Nettozuwanderung von 200 000 Menschen pro Jahr nötig ist. Ohne diese Menschen wird die Zahl der Erwerbstätigen in wenigen Jahren erheblich sinken. Es ist klar, dass die sogenannten Babyboomer in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen werden und dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen.

Es wird um Bürokratieabbau gehen. Ich möchte klar sagen: Bei dem, was uns andere Einwanderungsländer vormachen, nämlich mit Willkommenszentren, mit „One-Stop-Agency“ auf Neudeutsch gesagt, also mit einer echten Willkommenskultur gerade auch auf der bürokratischen Seite, muss Deutschland besser werden.

Und - dies will ich unterstreichen - es geht natürlich auch um das Thema Weltoffenheit. Ohne gelebte Weltoffenheit werden wir die besten Köpfe der Welt nicht zu uns einladen können. Das Ziel muss sein, dass diejenigen, die qualifiziert sind und in Deutschland ihr Glück versuchen wollen, bei uns eine klare Einwanderungsperspektive bekommen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP)

Von einem modernen Einwanderungsgesetz müssen wir den zweiten Rechtskreis, nämlich die Themen Asyl und Flucht, trennen.

Wir erleben gerade - darüber ist vorhin diskutiert worden - eine Vervielfachung der Zahl der Asylbewerber und der Flüchtlinge, die nach Deutschland

kommen. Das ist eine Herausforderung für die Kommunen; das ist klar. Viele von denen sind aber gut qualifiziert, und viele wollen von ihrer eigenen Hände Arbeit leben, meine Damen und Herren. Es ist absurd, wenn Flüchtlinge in Unterkünften zum Nichtstun verdonnert sind, während der Handwerksmeister vor Ort händeringend Mitarbeiter sucht. Deswegen - auch das ist eine Forderung - muss der Aufenthaltstitel gewährt sein für die Zeit einer Ausbildung - einer Berufsausbildung beispielsweise - plus weiterer zwei Jahre. Das ist das sogenannte Drei-plus-Zwei-Modell. Denjenigen Flüchtlingen und Asylbewerbern, die die Kriterien des Einwanderungsgesetzes ohnehin erfüllen, muss die Möglichkeit eröffnet werden, die Rechtskreise zu wechseln.

In diesem Zusammenhang will ich - Herr Präsident, zum Schluss - noch einmal zwei Dinge unterstreichen: Zur Willkommenskultur bei Flüchtlingen gehört aber auch - das richte ich gerade an die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen -, dass ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, die deutsche Sprache zu lernen. Das ist die Voraussetzung für Integration. Ich will das unterstreichen. Es war grundfalsch, was Sie hier bei den Haushaltsplanberatungen veranstaltet haben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Wenn wir - auch das sage ich in Ihre Richtung - die Hochqualifizierten zu uns einladen wollen, dann müssen wir auch unsere eigene Einstellung gegenüber Hochqualifizierten überprüfen. Da steht das Thema Forschungsfreiheit an den Universitäten ganz hoch an. Zurzeit verlassen hochqualifizierte Menschen Deutschland, weil wir das Thema Forschungsfreiheit auf einmal viel mit politischer Moral verbinden. Das aber kann nicht das Ziel sein. Wir müssen international werben. Das sage ich in Richtung der Landesregierung, in Richtung des Wirtschaftsministers. Wir sind auf die klugen Köpfe der Welt händeringend angewiesen. Die klugen Köpfe der Welt sind aber nicht zwingend auf Deutschland angewiesen. Deswegen müssen wir ihnen den roten Teppich ausrollen.

Um es zusammenfassend zu sagen, meine Damen und Herren:

Jetzt aber bitte ganz kurz. Sie wissen, dass Sie schon eine Minute überzogen haben.

Okay. Ich bin gleich fertig, Herr Präsident.

Menschen in Deutschland eine Chance zu geben - das ist das Ziel dieses Antrags. Gleichzeitig ist das eine Chance für Deutschland.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich habe den Wunsch nach einer Zwischenfrage nicht mehr zugelassen, weil wir schon im roten Bereich waren.

Meine Damen und Herren, das waren die Einbringung und gleichzeitig der Debattenbeitrag. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt im Rahmen der Beratung Frau Abgeordnete Doris Schröder-Köpf das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin!

(Jens Nacke [CDU]: Als Abgeordnete oder als Regierungsmitglied?)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Land ist ein attraktives und weltoffenes Land. Wie attraktiv es ist, haben wir von der OECD bestätigt bekommen. 2013 war Deutschland nach den USA das zweitbeliebteste Einwanderungsland der Welt, verzeichneten wir mit 429 000 Personen den höchsten Wanderungsgewinn seit 20 Jahren. In Niedersachsen blieben netto, wenn man so will, 35 000 Menschen. Niedersachsen ist ein Einwanderungsland.

Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich ist Niedersachsen dies seit seinem Bestehen als Bundesland. Am 20. September 1945 wurde das Grenzdurchgangslager Friedland auf Anordnung der britischen Besatzungsmacht als erste Anlaufstelle für Flüchtlinge, Vertriebene und Heimkehrer eingerichtet. Mehr als 4 Millionen Menschen sind seitdem über Friedland in die Bundesrepublik eingewandert. Viele sind in Niedersachsen geblieben, haben hier ihre neue Heimat gefunden und den Regionen damit zu Prosperität verholfen.

Ab Frühjahr 2016 werden die Geschichte Friedlands, aber auch die Geschichte von Zu- und Abwanderung sowie von Flüchtlingsbewegungen weltweit im Museum Friedland unter dem Leitmotto „Abschied, Ankunft, Neubeginn“ zu sehen sein. Ich freue mich auf die Eröffnung des Museumsprojekts, das direkt neben einer Erstaufnahmeeinrich

tung des Landes entsteht. Geschichte und Gegenwart von Flucht, Vertreibung und Migration in direkter Nachbarschaft - das dürfte weltweit einzigartig sein.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sehr geehrte Damen und Herren! Auch das ist gerade schon erwähnt worden: Derzeit profitieren wir von einer hohen Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus der Europäischen Union. Klar ist allerdings: Wenn sich die Beschäftigungslage im Süden und Südosten Europas eines hoffentlich nicht so fernen Tages - das muss man ja wünschen - verbessert, wird der Zuzug aus diesen Ländern abflauen. Wir stehen dann wieder stärker im Wettbewerb mit anderen attraktiven Wirtschaftsstandorten um qualifizierte Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten, aus Drittstaaten.

Sehr geehrte Damen und Herren! Damit sind wir nah an einem Problem. Wir müssen unser Tafelsilber künftig im weltweiten Wettbewerb ein bisschen besser polieren und präsentieren. Das kann nur mit einem expliziten Einwanderungsgesetz geschehen.

(Beifall bei der SPD)

Aufenthalts- und Zuwanderungsrecht sind zersplittert und unübersichtlich. Es gibt zwar nur vier Aufenthaltstitel, diese sind aber mit Regelungen für mehr als 50 unterschiedliche Aufenthaltszwecke hinterlegt. Die Einwanderungsregeln sind über mehrere Gesetze verstreut. Das versteht schon hier kaum ein Mensch. Wie sollen wir das dann erst draußen in der Welt erklären und damit für eine Tätigkeit in Deutschland werben?

Das Land Niedersachsen hat sich am 6. März aus diesem Grund einem Entschließungsantrag des Landes Rheinland-Pfalz angeschlossen. Darin wird der Bund auch und gerade im Hinblick auf die demografische Entwicklung aufgefordert, unter der Überschrift „Einwanderungsgesetz“ ein modernes, liberales und überschaubares Regelwerk zu schaffen. Ich sage Ihnen hier ausdrücklich: Wir fürchten nicht etwa eine breite öffentliche Debatte über Deutschland als Einwanderungsland, sondern wir wünschen uns nach Jahrzehnten des heimlichen Faktenschaffens ausdrücklich, dass die Menschen in Deutschland endlich über Chancen und Grenzen diskutieren dürfen.

(Beifall bei der SPD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Eckpunkte eines solchen Einwanderungskonzeptes werden wir daher auch im neuen Beirat für Migration und Teilhabe der Landesregierung diskutieren. Am 20. Mai findet die konstituierende Sitzung dieses Gremiums statt. Unmittelbar im Anschluss können die Mitglieder, die aus zahlreichen Bereichen des öffentlichen Lebens und der niedersächsischen Wirtschaft kommen, ihre Vorstellungen artikulieren. Ich kann Ihnen nach Rücksprache mit Innenminister Boris Pistorius jetzt schon sagen: Wir werden die Anregungen, die daher kommen, mit nach Berlin nehmen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Sehr geehrte Damen und Herren! Auch ein gutes Einwanderungsgesetz muss von einer Gesamtstrategie flankiert sein. Einwanderung funktioniert nur dann nachhaltig, wenn sie kompetent begleitet wird. Nur ein Beispiel dafür, wie sich das Land Niedersachsen da aufstellt: Das IQ-Netzwerk Niedersachsen, das seit einem Jahr vom Land mitfinanziert wird, ist für die kommenden sechs Jahre ein zentraler Partner bei der Fachkräftesicherung in Niedersachsen. Es bietet u. a. Beratung bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und erschließt damit in Niedersachsen bereits vorhandene Potenziale und ermöglicht Fachkräften aus dem Ausland den Weg auf den niedersächsischen Arbeitsmarkt.

Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema ist - wie auch der FDP-Antrag zeigt - sehr umfangreich. Deshalb nur noch wenige Aspekte: Viele der asylsuchenden Frauen und Männer sind hoch motiviert und qualifiziert. Ihre Potenziale liegen aber häufig brach, weil der Weg vom Asylsystem in den Fachkräftemarkt versperrt ist. Lassen Sie uns hier gemeinsam eine Brücke bauen. Das hilft den Flüchtlingen und der Wirtschaft.