Protokoll der Sitzung vom 10.09.2015

An der spanisch-marokkanischen Grenze steht ein solcher Zaun seit 20 Jahren. Er ist mittlerweile 6 m hoch. Allein im Jahr 2014 ist er 65-mal gestürmt worden. In den letzten zehn Jahren gab es dort 15 Tote, ohne dass darüber berichtet worden ist.

(Filiz Polat [GRÜNE]: Sie haben doch im Europäischen Parlament zuge- stimmt! Das ist Ihre Politik!)

In Anbetracht dessen muss ich sagen, dass ich manche Bemerkung zu den Bemühungen Ungarns, einen Zaun zu bauen, ein wenig unaufrichtig fand.

Aber - um das auch gleich zu sagen - ich bin ganz nah beim Ministerpräsidenten, wenn er sagt, dass die Haltung der Ungarn in dieser Frage zynisch ist. Wenn der ungarische Ministerpräsident sagt, es sei unmöglich, muslimische Flüchtlinge in Ungarn aufzunehmen, weil Ungarn ein christliches Land sei, dann ist das alles andere als christlich.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ungarn zeigt auch etwas ganz anderes, und das ist heute schon oftmals und zu Recht gesagt worden: Wir brauchen in dieser Frage eine einheitliche europäische Politik.

Frau Polat, Sie sprechen in Ihrer Aktuellen Stunde von Einwanderung. Ich sage: Wir als Deutsche sollten nicht den Fehler machen, den Ländern der Europäischen Union vorgeben zu wollen, wie sie Einwanderung gestalten sollen. Herr Dr. Birkner hat das eben beschrieben. Die Standards in den Ländern der EU sind unterschiedlich. Einige Länder, wie Deutschland, sind wohlhabend und brauchen Einwanderung. Deswegen will auch die CDU ein Einwanderungsgesetz. Aber es gibt eben auch Länder, die nach ihrem Dafürhalten keine Einwanderung brauchen. Und diesen Ländern können wir keine Einwanderung in ihren Nationalstaat vorschreiben. Mangelndes Verständnis für unsere Nachbarn, meine Damen und Herren, hat man uns in der Vergangenheit schließlich schon oft genug vorgeworfen.

Aber vielleicht haben Sie ja gar nicht die Einwanderung gemeint, Frau Polat. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass Sie wieder alles durcheinanderwerfen. Vielleicht meinten Sie ja die Flüchtlingspolitik.

(Beifall bei der CDU)

Da allerdings bin ich durchaus bei Ihnen. Bei der Flüchtlingspolitik können wir von allen europäi

schen Staaten verlangen, dass sie sich solidarisch an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Dafür ist ein Quotensystem sicherlich ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber ob das funktionieren und tatsächlich alle Probleme lösen wird, wissen wir noch nicht. Das müssen wir doch ehrlicherweise sagen.

Ein Problem haben Sie genannt: Die Flüchtlinge zeigen uns gerade, wie schwierig es ist, Zuweisungen auf bestimmte Länder vorzunehmen. Ich habe Verständnis dafür, wenn jemand, der perfekt Englisch spricht, nicht in die Slowakei will.

(Jörg Bode [FDP]: Die können aber auch ganz gut Englisch!)

Und wenn jemand sagt „Ich habe meine ganze Familie in Schweden, was soll ich in Polen?“, dann liegt darin natürlich ein Problem. Deswegen wird diese Quotenregelung nicht alles lösen können.

Aber die entscheidende Frage ist doch - darum reden wir schon den ganzen Tag herum, und eine echte Antwort darauf habe ich heute auch noch nicht vernommen -: Wie viele Flüchtlinge wollen wir in welcher Zeit in Deutschland aufnehmen?

Grundsätzlich bin ich da auch ganz bei Ihnen. Aus humanitären Erwägungen sollten wir sagen: am besten alle und sofort. Aber Sie haben ja auch sichere Fluchtrouten gefordert und sind sogar der Meinung, dass wir auch noch Transportmittel bereitstellen sollen, um alle diese Menschen zu uns zu holen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen - Herr Pistorius hat ja eben eindrücklich erklärt, was da noch auf der Welt wartet -, dass Sie eine solche Lösung mit Europa nicht umsetzen können. Das ist das Problem. Ich fürchte, Sie werden das auch mit den Menschen hier in Deutschland nicht umsetzen können.

(Zustimmung bei der CDU)

Damit möchte ich mich auch an den Kollegen Dürr wenden und ihm ehrlich sagen: Lieber Kollege Dürr, ich glaube nicht, dass ein Einwanderungsgesetz dazu beitragen wird, hier wirklich den Druck aus dem Kessel zu nehmen.

(Christian Dürr [FDP]: Das sehe ich ganz anders!)

Solange wir Kontingente haben, solange wir darüber nachdenken, dass vielleicht 1 Million, 2 Millionen oder sogar 3 Millionen Flüchtlinge pro Jahr zu uns kommen könnten, so lange wird es auch

illegale Bemühungen geben, Europa zu erreichen, und so lange wird es das Schlepperwesen geben. Und das macht mich zugegebenermaßen ein Stück weit hilflos.

Meine Damen und Herren, das Einzige, was helfen kann, ist in der Tat - das ist heute richtigerweise schon gesagt worden; der Ministerpräsident hat es heute Morgen auch erwähnt -, die Ursachen in den Ursprungsländern zu bekämpfen. Und weil das bislang so schlecht funktioniert hat, müssen wir jetzt endlich aus den Fehlern lernen. Wir müssen es endlich schaffen, eine Mischung aus Zurückhaltung und Einmischung an den Tag zu legen.

Dabei ist klar, dass die entscheidenden Weichen vermutlich in Brüssel und Berlin gestellt werden müssen. Aber ein bisschen Außenpolitik gestalten wir ja auch, meistens im Bereich der Wirtschaft. Und da kann ich nur nach wie vor appellieren, dass wir weiterhin darauf achten, dass die Moral nicht völlig der Profitgier untergeordnet wird. Deswegen, denke ich, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sollten wir gemeinsam auch zukünftig, und zwar nicht nur bei Delegationsreisen, die Frage der Menschenrechte immer wieder zum Thema machen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Toepffer. - Es spricht jetzt für die SPD-Fraktion die Kollegin Petra Emmerich-Kopatsch. Bitte, Frau Kollegin!

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die heutigen Wortbeiträge hört, merkt man, dass wir gar nicht so weit auseinander sind. Es ist natürlich richtig, dass die gesamte EU vor großen Herausforderungen steht, auch wenn es darum geht, sich derzeit selbst zu definieren.

In diesen Tagen kann man allerdings häufig den Eindruck gewinnen, dass sich alles, was die EU über sich selbst gedacht hat - nämlich eine WerteUnion zu sein, in der es auch Humanität und Solidarität gibt -, als Lippenbekenntnis erweist. Derzeit sieht es eher danach aus, als gäbe es eine KälteUnion. Man muss nur die Reaktionen einzelner osteuropäischer oder baltischer Staaten betrachten - und selbst Dänemark und Großbritannien bekleckern sich hier gerade nicht mit Ruhm.

Wenn der ungarische Regierungschef davon spricht, das Ganze sei ein deutsches Problem, zeugt das nur davon, dass er die Milliarden aus den Struktur- und Landwirtschaftsfonds aus lauter Solidarität zwar sehr gerne entgegennimmt, aber ihre Verwendung für weitergehende Aufgaben, die die gesamte Union betreffen - nämlich die Versorgung und Integration der zu uns kommenden Flüchtlinge -, konsequent ablehnt.

Da wird in einigen Staaten Wahlkampf mit dumpfen, fast nationalistischen Parolen gemacht, und sei es auch nur aus Angst vor anderen Religionen. Zäune werden gezogen, Grenzen werden kontrolliert, ja gar geschlossen, als hätten wir schon gar keine Freizügigkeit mehr. Wenn das so weitergeht, ist auch die wirklich große Errungenschaft der EU, nämlich die Freizügigkeit aller, gefährdet, auch unsere eigene. Das müssen wir uns bewusst machen. Wer aber so handelt, drückt damit aus, dass für ihn die Bankenrettung und die Bereitstellung von Hilfsmilliarden für schwächelnde Staaten offenbar wichtigere Aufgaben sind, als sich darum zu kümmern, wie es Menschen geht. Da werden Finanzen, Banken und Wirtschaftsbeziehungen über Menschenleben gestellt.

Damit stellt sich die Frage: Wie weit ist es mit unserer Solidarunion wirklich her? Wo ist das humane, das solidarische, das freiheitliche und das freizügige Europa in diesen Tagen? - Während zur Griechenland-Rettung Hubschrauber und Flugzeuge hin- und herflogen und Nachtschichten eingelegt wurden, sehen einige Staaten jetzt konsequent nicht mehr hin.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer für Fördermilliarden ein gerechtes quotales System möchte, der muss auch dann, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht, für Quoten sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa muss sich gerade neu justieren - oder es gefährdet sich als Einheit. In schwierigen Zeiten muss die EU sich beweisen und ein humanes Weltbild in den Mittelpunkt stellen.

Die Landesregierung und auch der Bund haben in diesen wenigen Tagen einen beispiellosen Kraftakt vollzogen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der FDP, wollen uns hier unterstellen, man habe irgendetwas nicht beachtet. Das ist natürlich nicht wahr; denn schließlich weiß keiner, ob die Zahlen stimmen. Ob die Zahl 800 000 jetzt stimmt, können Sie nicht sagen, können wir nicht sagen und kann auch sonst niemand sagen.

(Jörg Hillmer [CDU]: Warum ist das nicht kritikfähig?)

Wir müssen mit Herrn Juncker mitgehen und versuchen, die anderen Staaten mitzuziehen. Wir müssen jetzt auch über ein Einwanderungsgesetz reden und es schnell auf den Weg bringen. Allein schon das Wort „Wirtschaftsflüchtling“ muss aus unserem Wortschatz verschwinden.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Oder hat schon einmal jemand von uns den deutschen Zahnarzt, der seinen Beruf in Norwegen, Kanada oder der Schweiz ausübt, so bezeichnet? - Nein, der wird bewundert; da wird gesagt, er habe sein Glück gemacht. Aber derjenige, der ebenfalls arbeiten will, der nur das Beste für seine Familie möchte, ist auf einmal ein „Wirtschaftsflüchtling“, nur weil er kein Ur-Deutscher ist!

Hier müssen schnell ganz klare Regeln her. Einwanderung muss sein. Sie muss legal sein. Dazu brauchen wir einen verbindlichen Verteilungsschlüssel. Dazu müssen einheitliche Asylstandards innerhalb der Europäischen Union definiert werden. Natürlich müssen besonders belastete Mitgliedstaaten auch administrative Hilfen bekommen.

Die EU muss darauf dringen - das ist ganz wichtig -, dass die Lebenssituation von Minderheiten in Osteuropa - auch nachprüfbar - signifikant verbessert wird; denn wenn man Minderheiten im eigenen Land diskriminiert, verstößt das auch gegen Menschenrechte, selbst in der EU. Das muss klar ausgesprochen werden. Roma und Sinti sind Mitbürgerinnen und Mitbürger, die eine vernünftige Behandlung verdient haben. Dafür wird auch Geld zur Verfügung gestellt, das derzeit nicht abgerufen wird. So geht es nicht.

Wir müssen auch daran mitarbeiten, dass wir zur Stabilisierung der nordafrikanischen Staaten und der Nahoststaaten beitragen, um die Fluchtursachen durch Hilfen beim Wiederaufbau von Ländern zu bekämpfen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist Zeit für eine menschliche EU! Die SPD will dabei helfen.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Auch Ihnen herzlichen Dank, Frau EmmerichKopatsch. - Jetzt hat für die FDP-Fraktion der Fraktionsvorsitzende Christian Dürr das Wort.

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich teile das, was Frau Polat zum Thema „europäische Lösung“ gesagt hat.

Ich teile auch das, was Herr Pistorius gesagt hat. Er hat zu Recht angemerkt, dass vor dem Hintergrund der Herausforderungen, die auch außerhalb der Europäischen Union auf die Union warten, eine europäische Lösung notwendig ist.

Aber, Herr Pistorius, lassen Sie mich dann doch einen Punkt aufgreifen, bei dem ich glaube, dass Ihre Argumentation nicht ganz zusammenpasst. Sie haben gesagt: Als wir im Dezember 2014 hier im Landtag im Rahmen der Haushaltsberatungen das Thema beraten haben, war die Situation noch nicht so eskaliert wie im Moment. - Das ist vom Grundsatz her auch nicht falsch. Allerdings haben wir damals schon gefordert, Vorsorge bei den Themen Sprachkurse, Unterbringung etc. pp. zu treffen. - Gleichzeitig aber sagen Sie: Das, was im Dezember 2014 aus Ihrer Sicht noch nicht absehbar war, hätten wir in unserer Regierungsverantwortung, im Jahr 2012 bereits wissen müssen. Herr Pistorius, das setzt voraus, dass wir sehr, sehr vorausschauend sind. Jedenfalls hinkt Ihre Argumentation an dieser Stelle ein wenig.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich will auf die europäische Ebene zurückkommen, weil das das Thema dieser Aktuellen Stunde ist.