Protokoll der Sitzung vom 12.09.2018

Der Bund der Vertriebenen trägt mit dem Tag der Heimat maßgeblich dazu bei, dass dieses kollekti

ve Leid nicht in Vergessenheit gerät. Das ist wohlgemerkt eine Verantwortung, der wir uns gerade in Niedersachsen, wo 1950 rund 1,8 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene lebten, heute sehr bewusst sind und weiterhin sehr bewusst sein sollten.

Zur Geschichte der Vertriebenen gehört aber nicht nur deren Heimatverlust, sondern auch ihr großer Anteil am wirtschaftlichen Aufbau und am demokratischen Erwachsenwerden unseres Landes. Sie haben das geistige Fundament von Freiheit, Demokratie und Völkerverständigung in Europa ganz wesentlich mitgestaltet. Dass der BdV für den diesjährigen Tag der Heimat die Überschrift „Europa zusammenführen“ gewählt hat, zeigt erfreulicherweise, dass er sich seiner Tradition der Völkerverständigung treu bleibt. Dafür können wir dankbar sein.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, in meiner Rede beim Deutschlandtreffen der Schlesier im vergangenen Jahr habe ich es beschrieben: Die Integration der Heimatvertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft war mitnichten eine Angelegenheit, die nach wenigen Jahren vollendet war. Der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau hat das in seiner Berliner Rede im Jahr 2000 trefflich formuliert:

„Diese letztlich erfolgreiche Integration war am Anfang alles andere als leicht, obwohl Deutsche nach Deutschland kamen.“

Das gilt übrigens gleichermaßen für die Zuwandergruppe der Aussiedler und Aussiedlerinnen sowie der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, auf die ich heute Nachmittag noch zu sprechen kommen werde. Jedenfalls verdienen es die Flucht- und Integrationserfahrungen der Heimatvertriebenen von damals, stets Gehör zu finden - heute vielleicht mehr als je zuvor.

Wenn Menschen, die gegenwärtig bei uns in Deutschland Schutz suchen, von ihren Erfahrungen in Massenunterkünften, von ihren beschwerlichen ersten Schritten in der neuen fremden Gesellschaft erzählen oder gar von Anfeindungen und Rassismus, sind es oft die Vertriebenen und Flüchtlinge von einst, die diese Schilderungen am besten nachvollziehen können, und dabei verkenne ich keineswegs die großen Unterschiede.

Sehr geehrte Damen und Herren, aus dieser Vergangenheit gilt es in der Tat, Lehren zu ziehen. Eine lautet: Integration braucht Zeit, viel Zeit, und

sie ist selten ein konfliktfreier oder gar harmonischer Prozess. Zu ihm gehört auch die Angst vor Konkurrenz, wie sie uns gegenwärtig manchmal allerdings in unerträglicher, instrumentalisierter Gestalt rechter Hetze entgegentritt.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU sowie Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Eine weitere Lehre lautet: Die Zuwanderung motivierter und ehrgeiziger Menschen kann unser Land voranbringen. Und schließlich ist, das kulturelle Erbe aufrechtzuerhalten und sich zugleich in eine neue Gesellschaft zu integrieren, kein Widerspruch. Im Gegenteil: Ersteres kann gelegentlich eine wichtige Voraussetzung für Letzteres sein, wie uns die Integrationsforschung gezeigt hat.

Sehr geehrte Damen und Herren, wenn wir uns über Heimat, Identifikation und Zugehörigkeit Gedanken machen, zählt dazu auch die offene und demokratische Auseinandersetzung mit dem kulturellen und historischen Erbe unseres Landes und seiner Geschichte - im Guten wie im Schlechten. Insofern ist es von großer Bedeutung, Orte des Gedenkens, der Erinnerung und des historischen Lernens zu bewahren und sie dort, wo sie notwendig sind, auch zu schaffen, wie etwa die geplante Dokumentations- und Lernstätte Bückeberg - eine Bildungseinrichtung von großer Tragweite, weil sie gerade jungen Menschen die perfiden Mechanismen des politischen Missbrauchs von Volkszugehörigkeit und Heimatgefühl, wie sie das NSRegime mit dem Reichserntedankfest auf dem Bückeberg zur Schau stellte, vermitteln soll.

Die Definition von Heimat ist heute so vielfältig, wie es die Menschen und unsere Gesellschaften sind. „Ubi panis, ibi patria“ - wo Brot ist, da ist die Heimat -, meinten die alten Römer in einem recht existenziellen Heimatverständnis. Oder „Ubi bene, ibi patria“: Wo es uns gut geht, ist die Heimat. Heimat ist aber vor allem ein Halt gebendes Gefühl der Vertrautheit und der Zugehörigkeit, etwas sehr Privates und Subjektives und etwas, das sich stets ändern kann. Für umso verstörender und weltfremder halte ich im Übrigen die Idee eines Bundesheimatministeriums; das ist meine sehr persönliche Anmerkung.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle einen weiteren Österreicher zitieren, den ich zugleich einen Freund nennen darf. Der Journalist und Schriftsteller Robert Misik schrieb kürzlich in einem Essay in der Wochenzeitung Die Zeit: „Der Heimatbegriff ist massiv politisiert und

hat mit den konkreten, kleinteiligen Heimaten meist nicht sehr viel zu tun.“ Als politisches Konzept sei der Begriff schlichtweg toxisch.

Wir tun gut daran, der Vielfalt an Lebensrealitäten und Heimatbegriffen der Menschen Rechnung zu tragen; denn dann lässt sich Heimat auch nicht zur Ausgrenzung anderer missbrauchen und politisch instrumentalisieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Starker anhaltender Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Kollegin Viehoff. Bitte!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie wir schon gehört haben, ist „Heimat“ tatsächlich ein vielfältiger Begriff. Für mich ist Heimat da, wo ich mich wohlfühle, wo ich Frieden und Ruhe finde. Für mich ist Heimat an vielen Orten, nicht nur da, wo ich wohne, sondern oft auch da, wohin ich in die Ferien fahre, und da, wo ich Freundinnen und Freunde treffe.

Meine Damen und Herren, das Schicksal der Vertriebenen, der Flüchtlinge und der Spätaussiedler ist schrecklich, und jeder, der eine Heimat sein Eigen nennt, weiß, wie schrecklich es sein muss, diese zu verlassen. Das Leid ist bis heute unvorstellbar. Doch dieser Unmenschlichkeit - das müssen wir immer konstatieren - ist eben auch eine Unmenschlichkeit vorausgegangen. Das ist immer so, wenn Menschen ihre Heimat - die Gegend, den Bereich, wo sie sich eigentlich in Frieden und Ruhe wähnen - verlassen müssen. Das galt gestern, das gilt heute, und das wird auch morgen gelten.

Es ist also notwendig, den Blick weiter zu fassen: weg von der rein nationalen Perspektive hin zu der internationalen Perspektive, nämlich der Tatsache, dass Vertreibung immer, überall, heute, gestern und morgen ein Straftatbestand des internationalen Völkerstrafrechts ist.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Meine Damen und Herren, Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, lassen vieles hinter sich. Doch sie tun dies nicht freiwillig; denn Hei

mat, wie ich sagte, ist ja kein bestimmter Ort. Der Ort, den Menschen suchen, wo Frieden und Ruhe herrschen, wo ihnen zugewandte Menschen sind und wo sie ihr Auskommen haben, finden sie nicht an Orten, an denen Krieg, Not und Unsicherheit herrschen.

Diese Erfahrung haben Vertriebene, Flüchtlinge und Spätaussiedler gemacht. Diese Erfahrung haben die Boatpeople gemacht. Diese Erfahrung haben Menschen auf dem Balkan gemacht. Und diese Erfahrung machen heute die Rohingya in Myanmar und die syrischen Flüchtlinge in den Kriegsgebieten.

Vertreibung ist ein Straftatbestand - überall und für jeden! Wenn wir also aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen wollen, dann doch, dass jede Vertreibung die Menschenrechte verletzt und es nicht die einen und die anderen gibt.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der CDU)

Von daher ist es richtig, dass wir eine demokratische Erinnerungskultur aufbauen und den europäischen Gedanken vorantreiben. Daher bin ich allen vorherigen Rednern sehr dankbar, dass sie ein so deutliches Bekenntnis zum Projekt am Bückeberg ausgesprochen haben. Das begrüßen wir außerordentlich, betrifft es doch nicht nur die Menschen in Emmerthal, sondern alle Menschen in Niedersachsen und in Deutschland.

(Beifall bei den GRÜNEN sowie Zu- stimmung bei der SPD und bei der FDP)

Und ja, auch eine Erinnerungskultur in Bezug auf den längsten Abschnitt der innerdeutschen Grenze, den Niedersachsen sein Eigen nennen durfte, ist wichtig. Ich weiß selber, was das heißt; denn der Sonntagsausflug mit mir als Kind ging immer entweder nach Torfhaus oder in die Lüneburger Heide - immer verbunden mit der Präsentation des Zauns. Das ist eine Kindheitserinnerung, die ich keinem Kind heute mehr zuteilwerden lassen möchte. Aber ich finde, unsere Kinder und Kindeskinder müssen wissen, was diese innerdeutsche Grenze bedeutet hat. Auch hierzu eine Erinnerungs- und Gedenkstättenkultur voranzutreiben, ist von großer Bedeutung.

(Beifall bei den GRÜNEN und Zu- stimmung bei der SPD)

Damit möchte ich schließen und mich dem gemeinsamen demokratischen Appell, den schon

meine beiden Vorredner ausgesprochen haben, anschließen. Heute und für die Zukunft: Lassen Sie uns gemeinsam gegen Vertreibungen eintreten - weltweit! Und lassen Sie uns stets unsere Arme und Herzen geöffnet halten und denen eine neue Heimat geben, die ihre alte verlassen mussten! Auch das hat in Niedersachsen Tradition.

Herzlichen Dank.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN, bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nun hat für die FDPFraktion Herr Kollege Oetjen das Wort.

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen, verehrte Kollegen! Verehrter Herr Kollege Toepffer, Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Heimat ist keine Konstante, sie verändert sich. - Ich bedanke mich dafür, dass Sie das so gesagt haben.

Ich möchte ergänzen: Es gibt nicht nur eine Form der Heimat und nur eine Sichtweise auf Heimat, sondern jeder hat seine individuelle Sichtweise auf Heimat, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Das gilt für Menschen, die schon immer hier gelebt haben, genauso wie für Menschen, die bei uns ihre zweite Heimat gefunden haben und die auch Angst davor haben, dass sie ihre Heimat wieder verlieren.

Der Bund der Vertriebenen, der seinen Tag feiert, hat sich aber auch verändert - genauso wie sich der Begriff von Heimat verändert hat. In den 70 Jahren seines Bestehens hat sich der Bund der Vertriebenen von der Interessenvertretung der tatsächlich Vertriebenen - Heimatvertriebenen - verändert hin zu einer Vertretung von Menschen, die in der zweiten und manchmal dritten Generation sind und sich an die gemeinsame Heimat, die sie verloren haben, erinnern wollen.

Aber der Bund der Vertriebenen ist mehr geworden: Er ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen, heute nämlich ein vollwertiges Mitglied des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Das möchte ich an dieser Stelle einmal sagen. Aus der Erinnerungskultur heraus hat sich der Bund der Vertriebenen zu einer Menschenrechtsorganisation entwickelt und tritt aus der eigenen Erfahrung heraus dafür ein - so, wie die Kollegin es eben gesagt hat -, dass Vertreibung überall geächtet wird. Die

ses Ansinnen sollten wir alle aus dem Hohen Hause heraus gemeinsam unterstützen.

(Beifall bei der FDP, bei der SPD bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Es wurde schon angesprochen, dass Vertreibung ein Straftatbestand des Völkerstrafrechts ist.

Wenn ich mir die Gespräche mit meiner Großmutter, die selber Vertriebene aus Ostpreußen war, vor Augen halte, bei denen sie mir berichtet hat, wie sie als 13-jähriges Mädchen alles in ihrer Heimat zurücklassen musste und was alles sie auf dem Leiterwagen verstauen und mitnehmen konnten, und sie mir geschildert hat, dass sie das eigentlich gar nicht wollten - sie wollten ja nicht weg aus der Heimat; sie wurden vertrieben -, dann verstehe ich.

Außerdem halte ich mir die Schilderung von Michel Abdollahi vor Augen, der in seinem Brief an Frau Merkel geschrieben hat:

„Frau Bundeskanzlerin, wissen Sie, wir wollten nicht hierher kommen. Ich hatte ein schönes Haus in Teheran, mit Spielsachen und Kinderbüchern. Mit meinen Freunden und meiner Familie. Meine Eltern hatten Arbeit, wir waren glücklich. Wir wollten nicht nach Deutschland kommen.“

Aber sie wurden vertrieben, genauso wie die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Gebieten wie Ostpreußen und Schlesien vertrieben wurden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor diesem Hintergrund verstehe ich, warum der Bund der Vertriebenen auch gerade diesen Menschen, die aus der Heimat vertrieben worden sind, offen gegenübersteht; denn sie können sich in diese Situation hineinversetzen, anders als die allermeisten von uns, die hier sitzen und die sich eben nicht vorstellen können, wie es ist, wenn man seine Heimat verliert und auf einmal, von einem Tag auf den anderen, Sack und Pack liegen lassen und in ein fremdes Land gehen muss, wo man erst einmal ankommen muss, wo man sich integrieren muss und wo man vielleicht auch nicht den gleichen sozialen Status hat, den man in seiner Heimat hatte. Aber sie finden eine neue Heimat!

Gerade deswegen, lieber Herr Toepffer, ist es sehr, sehr wichtig, dass wir uns an all das erinnern. Ich bedankte mich dafür, dass Sie hier gesagt haben, dass der Bückeberg als 16. Gedenkstätte auf den Weg gebracht werden sollte. Wir als Freie Demokraten unterstützen dieses Anliegen.