Doris Schröder-Köpf
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen, werte Kollegen!
Mark Twain hat die Menschen einmal folgendermaßen beschrieben:
„Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das erröten kann. Es ist aber auch das einzige, was Grund dazu hat.“
Wer auch immer sich bei der AfD-Fraktion für die Aktuelle Stunde den Titel „Jugendliche aus Griechenland - Luxus für wenige statt Hilfe für viele?“ ausgedacht hat, müsste eigentlich schamrot in den Keller gehen.
Das Wort „Luxus“ im Zusammenhang mit den Ärmsten der Armen könnte nicht deplatzierter und unpassender gewählt sein. Sie haben auf der Skala der blau-braunen Tiefpunkte die eh schon ganz unten liegende Latte noch einmal gerissen.
- Diese Krokodilstränen glaubt Ihnen doch keiner.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zunächst einmal die Fakten:
Am vergangenen Samstag sind 47 minderjährige Geflüchtete aus den Lagern der griechischen Inseln Lesbos, Samos und Chios auf dem Flughafen Hannover-Langenhagen gelandet. Sie stammen aus Afghanistan, Syrien und Eritrea. Es handelt sich um Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 8 und 17 Jahren, darunter vier Mädchen, die auf der Flucht von ihren Eltern oder Geschwistern getrennt wurden oder sich ganz alleine bis Griechenland durchgeschlagen haben.
Sie alle teilen ein für uns nicht vorstellbares Leid: Erfahrungen von Flucht, Gewalt, Entbehrungen und entmenschlichender Demütigung. Die meisten der minderjährigen Lagerbewohnerinnen und Lagerbewohner kommen durch Krieg und Flucht schon teils mehrfach traumatisiert in die völlig überfüllten Camps. Die Lebensbedingungen hier, wo mehr als 40 000 Menschen unter schwierigsten hygienischen Bedingungen ausharren, machen sie noch kränker. Etwa 2 000 der rund 14 000 Minderjährigen sind komplett ohne familiäre Begleitung unterwegs. „Ärzte ohne Grenzen“ spricht von etwa 1 000 sehr kranken Kindern in den Camps, die dringend auf medizinische Hilfe angewiesen sind.
Die niederländische Ärztin Sanne van der Kooij berichtet düster:
„Man sieht Kinder, die wegen ihres Traumas aufgehört haben, zu sprechen, Frauen, die so traumatisiert sind, dass sie sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern können, junge Männer, die versuchen, sich umzubringen.“
So entsetzlich die Lage seit Monaten und Jahren ist, wäre der Ausbruch der Corona-Pandemie in den überfüllten Flüchtlingslagern doch wohl nur eines: eine Katastrophe riesigen Ausmaßes. Die dpa-Nachricht vom Dienstag, dass in einem ehemaligen Hotel auf der Halbinsel Peloponnes von 470 Geflüchteten bereits 150 mit dem Coronavirus infiziert sind, lässt Schlimmes erwarten. Dass internationalen Empfehlungen des Infektionsschutzes in den Lagern auch nur ansatzweise gefolgt werden kann, ist illusorisch.
„Wie sollen wir Abstand halten?“, fragen die Geflüchteten des Lagers Moria in einem internationalen Aufruf, der im Berliner Tagesspiegel am 17. April veröffentlicht wurde. Darin heißt es:
„Wir begannen, unser Leben im Elend zu organisieren. Wir versuchten, unsere Würde zu schützen. Aber wir können nicht gegen ein Virus kämpfen ohne minimale Hygienestandards und Möglichkeiten, uns zu schützen.“
Sehr geehrte Damen und Herren, nun haben wir 47 Seelen in Niedersachsen aufgenommen. Manche werden auf andere Bundesländer verteilt werden. Was genau ist Luxus daran, Kinder aus Elendscamps zu holen und ihnen hoffentlich wieder etwas Zuversicht zu geben und einen Neustart in ein sicheres Leben zu ermöglichen?
Das ist doch der kleinste Nenner humanitärer Verantwortung. Und wenn Sie mit „Hilfe für viele“ meinen, dass man vor Ort doch ein paar mehr Zelte hätte aufstellen können oder gleich zu Rückführungen in Krisengebiete übergehen sollte, dann ist Ihnen in der Tat nicht mehr zu helfen.
Falls sich wider Erwarten einige von Ihnen doch Sorgen machen sollten, dass die Anzahl der aufgenommenen Kinder nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, möchte ich Ihnen sagen: Natürlich kann die Aufnahme von 47 Kindern nur ein Anfang sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Innenminister Pistorius hat sich seit November vergangenen Jahres mit großer Entschlossenheit für die Aufnahme von Minderjährigen eingesetzt. In der Tat wäre die Bereitschaft der Bundesregierung, 1 500 junge Menschen aufzunehmen, nicht ohne seine Entschlusskraft und Initiative auf Landes- und Bundesebene denkbar gewesen. Herr Minister, Respekt und Dank für dieses Engagement.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Minister Pistorius hat sich bei seinem Besuch selbst ein Bild von den Zuständen im Lager Moria machen können. Uns anderen, die von draußen urteilen müssen, empfehle ich die Fotos des griechischen Fotografen Giorgos Moutafis. Sie geben Einblick in das Leben auf der Flucht und auf der Insel Lesbos. Ich zitiere: „Ich bin hier, um die Menschen zu erinnern - und um ihre Gefühle wieder zu wecken.“ Herr Moutafis kennt Sie nicht, Kolleginnen und Kollegen von der AfD, aber er muss Leute wie Sie gemeint haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute Abend beginnt der Ramadan. Deshalb möchte ich aus dem Koran zitieren, was in ähnlicher Form auch im Talmud oder in der Bibel zu lesen ist. Zitat aus dem Koran, Sure 5, Vers 32:
„Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte.“
In diesem Sinne: Lassen Sie uns um jedes einzelne Kind kämpfen!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Nordostägäis gibt es zahlreiche sehenswerte Inseln. Eine hat es leider zu trauriger Berühmtheit gebracht: die Insel Lesbos.
Die Insel - eigentlich ein Paradies mit Olivenbäumen, Pinienwäldern und Vulkanfelsen - ist für Tausende Geflüchtete, die dort campieren müssen, zu einem unerträglichen Ort des Wartens und Ausharrens geworden. Aus einer Trauminsel ist eine Trauma-Insel geworden. In einem Bericht der Deutschen Welle vom 17. November heißt es:
„Dicht gedrängt steht hier Zelt an Zelt. Überall stapeln sich Müllsäcke, und seit einigen Tagen schon gibt es an dem notdürftigen Waschplatz kein fließendes Wasser mehr. In der Nacht kommt es immer wieder zu Gewalt. Viele Bewohner erzählen, dass sie in Angst leben. Das Lager sei für sie die reinste Hölle.“
Unter den etwa 14 000 Flüchtlingen sind auch Hunderte unbegleiteter Minderjährige, die in dem Lager Moria ausharren, einem ehemaligen Militärgelände - unter Plastikplanen, in alten Schiffscontainern oder in Zelten. Aktuell kommen täglich etwa 250 Menschen dazu. Es ist ein Leben im ständigen Ausnahmezustand, für viele ein reiner Kampf ums Überleben, wie die New York Times am 31. Oktober titelte - wobei Lesbos nicht die einzige Insel ist, auf der Schutzsuchende gestrandet sind. Insgesamt befinden sich derzeit etwa 35 000 geflüchtete Personen auf allen griechischen Inseln - der bishe
rige Höchststand seit Abschluss des EU-TürkeiAbkommens. Es wird geschätzt, dass mehr als 4 000 Menschen davon minderjährig und unbegleitet sind.
Sehr geehrte Damen und Herren, die Organisation Ärzte ohne Grenzen leitet eine Krankenstation auf Lesbos. Ein Viertel der Kinder, mit denen die Organisation Gespräche geführt hat, habe bereits darüber nachgedacht oder gar versucht, sich das Leben zu nehmen. Wie entsetzlich ist das! Diese jungen Menschen, deren Leben noch vor ihnen liegt, sind zermürbt von den Zuständen im Flüchtlingslager.
Die für Ärzte ohne Grenzen tätige Medizinerin Idoia Moreno kommt zu einem für uns Europäerinnen und Europäer bitteren Fazit, wenn sie sagt: „Die Europäer verraten auf Lesbos ihre Werte jeden Tag aufs Neue.“ Die engagierte Ärztin trifft hiermit einen wahren Kern: Wir können nicht auf der einen Seite stolz auf die europäischen humanitären Errungenschaften sein und auf der anderen Seite Hunderte von Kindern in Flüchtlingscamps ihrem Elend überlassen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Innenminister Boris Pistorius konnte sich vor Kurzem vor Ort selbst ein Bild machen. Anfang November kam er mit einer eindeutigen Botschaft von seiner Griechenlandreise zurück: Die Kinder von Lesbos brauchen unsere Hilfe! Ohne Hilfe von außen entstehe hier eine lost generation: Kinder und Jugendliche, die keine Perspektive hätten und deren Seelen zutiefst traumatisiert seien.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Zeit zum Handeln ist jetzt. Den Kindern wird es kein Stück helfen, wenn wir weiter alle Hoffnung auf die Umsetzung der seit Anfang an brüchigen Vereinbarung mit der Türkei setzen. Es reicht auch nicht aus, Griechenland zu drängen, sein gelähmtes Asylsystem auf Vordermann zu bringen und mehr Menschen in die Türkei zurückzuschicken. Es wird den jungen Menschen unmittelbar auch nichts nützen, wenn wir uns - wie all die Jahre - damit begnügen, mahnende Worte in Richtung Brüssel und an die EU-Mitglieder zu senden, man solle sich nun endlich auf ein einheitliches, effizientes und solidarisches Asyl- und Migrationssystem einigen.
Wir müssen nun schnell handeln. Niedersachsen kann hierbei vorangehen. Ich bin dem Innenminister sehr dankbar, dass er sich dafür bereits beim
Bundesinnenminister eingesetzt hat. Sein Vorschlag: Eine Koalition der Hilfsbereiten aus Deutschland und anderen europäischen Staaten könnte ein Sonderkontingent generieren, mithilfe dessen wir schnellstmöglich - noch vor dem Wintereinbruch - Kinder und Jugendliche aufnehmen können. Ich zitiere in dem Zusammenhang einmal Gustav Heinemann: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt.“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie könnte eine Aufnahme organisiert sein? - Neben den formalen Relocation-Programmen hat die Bundesrepublik bereits durchaus viele Erfahrungen mit der einzelfallbezogenen Aufnahmepraxis auf der Grundlage der Dublin-III-Verordnung und in Kooperation mit der EU und ihren Mitgliedstaaten gesammelt, so z. B. mit Italien bei der Aufnahme seenotgeretteter Menschen. An diese Erfahrungen kann man anknüpfen. Natürlich muss auch geklärt werden, wer die Kinder nach welchen Kriterien auswählt.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen in der CDU-Fraktion, ich bin sehr froh, dass Sie grundsätzlich bereit sind, den Vorschlag des Innenministers zu unterstützen. Das sollte eine gute Grundlage sein, die Fragen der Umsetzung im Innenausschuss zu besprechen. Besonders
schutzbedürftigen Kindern und Jugendlichen Obhut zu gewähren, erkläre sich aus Ihrer christlichen Tradition, haben Sie gesagt. Und ich füge an: auch aus einer Parteitradition. Am 24. November 1978 - vor nahezu genau 41 Jahren - machte nämlich der Niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht einen spektakulären Vorstoß. Er beschloss, sofort 1 000 vietnamesische Boatpeople nach Niedersachsen fliegen zu lassen. Abgeholt hat sie damals übrigens der niedersächsische Innenminister Hasselmann, CDU. Lassen Sie uns daran anknüpfen!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! „Taten statt Worte - Nestbau in Niedersachsen voranbringen“, das hört sich erst einmal positiv und freundlich an. Doch bei Anträgen oder Aktuellen Stunden von Rechtsextremen ist völlig klar:
Egal, was drauf oder drüber steht - es ist immer Rassismus, Islamhass oder Hetze gegen Geflüchtete drin.
Aber auch dieses Mal, Frau Guth - bleiben Sie lieber bei Landwirtschaftsthemen! -,
werden Sie das Gegenteil von dem erreichen, was Sie eigentlich wollten.
„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Das sagt Mephisto in Vers 1336 in Faust I. Was also erreichen Sie Gutes mit dieser Aktuellen Stunde?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die AfDFraktion ermöglicht es mir, einem guten Projekt öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, die es bisher wegen der Kürze der Laufzeit gar nicht gab. Im Mai ist das Programm gestartet, und im Juli wurden die ersten Erlaubnisse erteilt. Im Oktober treffen die ersten Geflüchteten ein.
Worum geht es also bei „NesT - Neustart im Team“? Es ist ein Gemeinschaftsprojekt von Bundesinnenministerium, meiner Kollegin, der Bun
desbeauftragten für Migration, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, Wohlfahrtsverbänden, Stiftungen und Kirchen.
Das Pilotprogramm sieht vor, dass erst einmal 500 besonders schutzbedürftige Personen im Rahmen des Resettlements unter eigens gestalteten Regeln nach Deutschland kommen dürfen. 500 dürfen! Es geht um Menschen, die schon lange in Flüchtlingslagern in Drittstaaten ausharren müssen und dort nicht gut aufgehoben sind, etwa allein reisende Frauen mit Kindern, kranke Menschen, Traumatisierte. Nur zur Erinnerung: Wir reden über Menschen, die seit Monaten oder gar Jahren in Camps sind. Im Flüchtlingscamp in Moria auf Lesbos etwa harren derzeit mehr als 10 000 Menschen auf einem Platz aus, der nur für 3 000 ausgelegt ist.
Wie funktioniert NesT? Eine Gruppe aus mindestens fünf Menschen - eine Kirchengemeinde, ein Verein - meldet nach reiflicher Überlegung ihre Bereitschaft, sich um eine Geflüchtete oder einen Geflüchteten kümmern zu wollen. Sie haben bereits eine preiswerte Wohnung für die Person gefunden. Sie melden sich bei der eigens geschaffenen Zivilgesellschaftlichen Kontaktstelle - kurz ZKS genannt. Nach Angaben der ZKS warten trotz der kurzen bisherigen Laufzeit des Programms bereits 30 Teams - die Zahl ist übrigens von gestern - ungeduldig und gut vorbreitet auf ihre Flüchtlinge - was man von Ihnen jetzt so nicht sagen kann.
Die Auswahl erfolgt durch den UNHCR. Über die Anträge auf Mentorenschaft entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Rechtsgrundlage ist § 23 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes. Ein Asylverfahren ist nicht nötig. Der Aufenthaltstitel und die Arbeitserlaubnis gelten zunächst für drei Jahre.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, was macht nun das Besondere von NesT aus? Die Mentorengruppen verpflichten sich schon vor Eintreffen ihrer Ankommenden, sie in Deutschland zu begleiten und zu unterstützen; Staat und Zivilgesellschaft arbeiten von Anfang an Hand in Hand zusammen; die Mentoren übernehmen für zwei Jahre die Kaltmiete und müssen sich übrigens auch in einem eintägigen Kurs vorbereiten.
Es ist ein Experiment, das es nicht verdient hat, von Ihnen schlechtgeredet zu werden. Mein Gott, was stört Sie eigentlich daran, wenn Menschen Gutes tun wollen?
Sehr geehrte Damen und Herren, trotz Hass und Häme der Rechtsradikalen haben sich nach Auskünften des Bundesfamilienministeriums seit dem Jahr 2015 55 % der Deutschen über 16 Jahre für Geflüchtete eingesetzt - mit viel Herz, aber übrigens auch mit der Hand am eigenen Geldbeutel. Sie kriegen dieses Engagement nicht kleingeredet. Sie schaffen das nicht!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der amerikanische Schriftsteller Henry Louis Mencken hat einmal gesagt: Zyniker sind Menschen, die nach dem Sarg Ausschau halten, wenn sie Blumen sehen. - Sie von der AfD haben sich für die dunkle Seite entschieden, für Zynismus, für Hass, Häme und Hetze. Aber Sie werden nicht gewinnen. Die allermeisten Menschen zieht es nämlich zum Guten hin, zum Hellen und zum Helfen.
Gestatten Sie mir einen ganz persönlichen Schluss - auch das ist eine schöne Folge dieses Antrags zur Aktuellen Stunde: Egal, wie viele Finanzmittel Ihre Spender für Framing, für Rechtsdesign und für Begriffebesetzen zur Verfügung stellen: Sie werden mir die Freude am Himmelblau und an den Kornblumen nicht nehmen und den Niedersachsen ganz gewiss nicht die Freude am Helfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist genau eine Woche her, dass Fotos in den Ausga
ben der schleswig-holsteinischen Medien erschienen, die einen strahlenden Bundesinnenminister mit seinem nicht minder fröhlich strahlenden Kieler Kollegen zeigten. shz.de protokollierte:
„Der Bundesinnenminister ist gut gelaunt. Bei strahlendem Wetter und mit Blick auf die Kieler Förde hätten Horst Seehofer und Schleswig-Holsteins Innenminister Hans-Joachim Grote feierlich eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnet. Demnach werde die bisherige Landesunterkunft für Flüchtlinge in Neumünster zu einem vom Bund mit 1,5 Millionen Euro unterstützten Ankerzentrum.“
Das sei das Erste im Norden, wie es überall hieß. Schleswig-Holstein ist damit das fünfte Bundesland überhaupt mit einem der umstrittenen Ankerzentren. Man reibt sich die Augen! Im grün mitregierten Schleswig-Holstein eröffnet ein Ankerzentrum, dessen Bestimmung vor allem in der Erleichterung und Beschleunigung von Abschiebungen besteht. Ein Ankerzentrum im Habeck-Land, mitgetragen vom Landesverband des grünen Shootingstars?
Martin Link, Geschäftsführer beim schleswigholsteinischen Flüchtlingsrat, protestierte. Asylsuchende würden nun uninformiert und unvorbereitet in die komplexen und für sie kaum durchschaubaren Asylverfahren getrieben.
Sehr geehrte Damen und Herren, aus dem hohen Norden kommt dieses jüngste Beispiel grüner Gratwanderung zwischen landespolitischem Regierungspragmatismus - manchmal auch -opportunismus - auf der einen und Oppositionsrhetorik und, ja, auch Herzensüberzeugung auf der anderen Seite.
In meinem gestrigen Redebeitrag zur Aktuellen Stunde hatte ich bereits ein Beispiel aus Hessen genannt. Nach dem Versuch der Abschiebung einer hochschwangeren Frau mit ihren hier geborenen Kindern nach Algerien ließ das grün geführte Sozialministerium verkünden, dass Rückführungen von Schwangeren ja nicht per se ausgeschlossen seien. Und in Baden-Württemberg, wo Herr Kretschmann als einziger grüner Ministerpräsident das Sagen hat, kritisiert der Flüchtlingsrat häufiger fragwürdige Abschiebungen, z. B. die einer 69-jährigen pflegebedürftigen ParkinsonPatientin, die seit 1969 in Deutschland lebte und übrigens Rente bezog.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte damit keine Ihrer Parteifreudinnen und -freunde
in anderen Bundesländern anklagen. Ich verurteile es auch nicht, wenn sie schwierige Abschiebungen mittragen. „Die reine Lehre, die die Grünen im Bund vertreten,“ so bringt es die Frankfurter Allgemeine Zeitung treffend auf den Punkt, „lässt sich nicht immer durchhalten.“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, heute, am Weltflüchtlingstag, werden wir erneut mit erschreckenden Zahlen konfrontiert: 71 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht vor Krieg und Gewalt. An diesem Weltflüchtlingstag sollten wir uns auch an unser aller Pflicht erinnern, mit Zuflucht suchenden Menschen in unserem Land anständig umzugehen, und zwar unabhängig von ihrem bleiberechtlichen Status. Wir tun das hier in Niedersachsen, auch und gerade dann, wenn diese Menschen aufgrund ihrer rechtlichen Situation nicht bleiben können. Es steht außer Zweifel, dass ein menschenwürdiger Umgang eine unverhandelbare Richtschnur staatlichen Handelns sein muss, und zwar auch bei Abschiebungen. Natürlich: Abschiebungen sind für die Betroffenen eine extrem belastende Ausnahme- und Zwangssituation. Deshalb dürfen sie ausschließlich als Ultima Ratio in Betracht kommen, wenn das Schicksal jeder und jedes Einzelnen sorgfältig ausgeleuchtet ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Humanität und die Durchsetzung von Regeln schließen sich indes nicht aus. Im Gegenteil. Sie gehören zusammen, wenn die gesellschaftliche Akzeptanz für Geflüchtete erhalten bleiben soll. Auch darauf habe ich gestern mit Blick auf die Absenkung der Abschiebungsschwelle bei Straftätern hingewiesen.
Wir sind uns offensichtlich fast alle darüber einig, dass neben den anerkannten Flüchtlingen nicht alle abgelehnten Asylbewerberinnen und Asylbewerbern jenseits von Duldungsgründen in unserem Land bleiben können. Deshalb sollten wir uns darüber verständigen, wie es erreicht werden kann, dass möglichst viele der ausländischen Staatsangehörigen, die nicht schutzbedürftig sind, das Bundesgebiet freiwillig verlassen und es gar nicht erst zur Androhung von Zwangsmaßnahmen kommen muss. Mit einer effektiven Rückkehrberatung, wie sie z. B. das Raphaelswerk in Hannover leistet, können wir das unterstützen. Seit Beginn 2018 sind rund 3 200 Menschen freiwillig aus Niedersachsen ausgereist. Diese Zahl zu steigern, sollte unser Ziel sein. Wir werden das Raphaelswerk demnächst auch noch einmal besuchen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der vorliegende Antrag enthält einen sehr umfangreichen Forderungskatalog. Dabei geht es beispielsweise um Unterlassung nächtlicher Abschiebungen, um Wahrung der Familieneinheit oder um Informationspflichten gegenüber Betroffenen. Diese Forderungen zielen allesamt auf einen humanen, fairen und transparenten Abschiebevollzug, der sich zuallererst an der sozialen und gesundheitlichen Situation des Betroffenen orientiert.
Insofern begrüße ich grundsätzlich jede Idee und jeden Vorschlag, der diese Praxis dort verbessert, wo es nötig ist. Wir werden darüber im Ausschuss diskutieren. In Niedersachsen gilt aber längst das Primat des humanitären und praxisgerechten Abschiebevollzugs, trotz der Fehler, die unterlaufen. Dem wird sicher auch das Abschiebungshaftvollzugsgesetz, das sich derzeit im Innenministerium in der Abstimmung befindet, Rechnung tragen.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, suggeriert das Gegenteil. Und das ist nicht in Ordnung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Thema ist bei uns und bei unserem Innenminister in bewährt guten Händen. Dazu will ich Ihnen aus der shz einen Wortwechsel zwischen dem Bundesinnenminister und Minister Boris Pistorius von vorheriger Woche in Kiel übermitteln. Es geht um Ankerzentren.
„Seehofer: ‚Ich warte noch darauf, dass du in Niedersachsen das Gleiche einmal vorlegst.‘ - Pistorius: ‚Das wirst du nicht mehr erleben, lieber Horst.‘ - ‚Du, ich bin zäh‘, scherzt Seehofer. - Pistorius: ‚Ich auch.‘“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, hier in Niedersachsen regiert übrigens nicht Jamaika, sondern eine Große Koalition.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wie könnte man in dieser Woche eine Rede zum Themenkomplex „Flucht und Abschiebung“ halten, ohne über Walter Lübcke zu sprechen? Vor gut zwei Wochen wurde der CDU-Politiker und Kasseler Regierungspräsident, also ein Nachbar aus Hessen, nachts auf der Terrasse seines Hauses erschossen, höchstwahrscheinlich von einem bekannten Neonazi.
Walter Lübcke hatte im Herbst 2015, am 14. Oktober, seine Freude über das riesige ehrenamtliche Engagement für Geflüchtete geäußert und bei einer Veranstaltung den Hatern vom Pegidaableger Kagida entgegengeschmettert: Wer die Werte des Grundgesetzes nicht vertrete, der könne jederzeit das Land verlassen. Das sei die Freiheit eines jeden Deutschen. - Seither war Walter Lübcke Zielscheibe von ungeheuerlicher rechter Hetze bis hin zu Lynchaufrufen. Aus Worten ist in der Nacht des 2. Juni eine Tat geworden, ein Mord.
Spiegel-Online schrieb gestern, ich zitiere:
„Wenn man jedoch das Unfassbare dieser Tage einordnen und vergleichen will, landet man in der Weimarer Republik: den Mord an einem Politiker aus rechtsextremen Gründen.“
Damals seien die Feinde der Republik zu milde davongekommen, das habe die Autorität der Republik unterhöhlt. Das dürfe auf gar keinen Fall noch einmal passieren. - So oder ähnlich lautet der Tenor in vielen Medien und in vielen persönlichen Gesprächen.
Eines schält sich in der Betrachtung der ersten Republik auf deutschem Boden besonders deutlich heraus: Die Radikalisierung der politischen Ränder beeinflusste auch damals Sprache und Verhalten der demokratischen Kräfte, führte zu Spaltungen dort, wo der gemeinsame Kampf gegen die Demokratiefeinde hätte aufgenommen werden sollen.
In diesen Zeiten müssen wir Demokratinnen und Demokraten sehr achtsam miteinander umgehen, und das will ich auch tun. Zumal vor dem Hintergrund des Mordes an einem Menschenfreund wie Walter Lübcke noch einmal deutlich geworden ist, dass der Themenkomplex Flucht, Abschiebung, Zuwanderung der Nährboden für Menschen- und Demokratiefeinde schlechthin ist; das ist der Nährboden für Rechtsterrorismus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie kennen mich aus der engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit in der zurückliegenden Legislaturperiode gut genug, um zu wissen, dass auch ich über Teile des sogenannten Migrationspaketes sehr unglücklich bin, z. B. über § 1 Abs. 4 Asylbewerberleistungsgesetz. Danach ist für vollziehbar ausreisepflichtige Menschen mit Schutzstatus in einem EU-Land oder Drittstaat eine vollständige Leistungskürzung auf null - ich wiederhole: auf null - vorgesehen. Diese Regelung soll den Druck zur Ausreise erheblich erhöhen, so ist die Hoffnung. Aber, sehr geehrte Damen und Herren, darf man diese Menschen - in Niedersachsen sind davon ca. 1 500 betroffen - wirklich in die Obdachlosigkeit schicken? Sollen sie unter Brücken schlafen und um Essen betteln? Unsere Behörden, vor allem das Innenministerium, haben große Zweifel an diesem Part des Gesetzes. Es sei fraglich, ob eine vollständige Leistungseinstellung verfassungsrechtlich tragfähig sei und vom Bundesverfassungsgericht gebilligt würde. Ich denke, auch ohne Entscheidung eines Gerichtes kann man bereits jetzt sagen: Das geht nicht.
Es ist unanständig, Menschen ohne Obdach und Essen zu lassen. Irgendeine Stelle wird sich dann kümmern müssen, seien es die Kommunen, seien es die Tafeln oder gar die Polizei. Das können wir
nicht wollen, das hat mit geordneter Rückkehr nichts zu tun, sondern nur mit dem Abschieben von Kosten und Verantwortung zulasten Dritter.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, das sogenannte Geordnete-Rückkehr-Gesetz als Teil des Berliner Migrationspaketes sieht aber auch vor, die Schwelle zur erleichterten Abschiebung von Straftätern abzusenken. Dieser Teil könnte ein Beitrag sein, die Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen langfristig sicherzustellen. Aus zahlreichen Gesprächen und Veranstaltungen in meinen sechs Jahren als Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe weiß ich, dass das Thema Kriminalität von geflüchteten und auch gegen geflüchtete Menschen besonders aufwühlt. Deshalb ist es im Sinne derer, die bei uns künftig noch Zuflucht suchen werden - und die Zahlen könnten wieder ansteigen -, wenn Straftäter bei geringeren Strafen als bisher ausgewiesen werden können, u. a. bei einer Verurteilung zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr, beispielsweise in Fällen von Drogenkriminalität. Auch bei antisemitischen Hassstraftaten wird künftig das Ausweisungsinteresse schwer wiegen, und das ist gut so.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Name „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ ist sicher ein Euphemismus. Das Ziel ist natürlich eine Erleichterung von Abschiebungen. Aber Ihren Titel „‚#HauAbGesetz‘ verhindern - Seehofers menschenrechtswidriges Abschiebepaket im Bundesrat stoppen“ empfinde ich als sprachlich grenzwertig.
Im Bundestag und hier im Landtag gehören die Grünen zur Opposition. Doch da, wo die Grünen im Maschinenraum der Realpolitik arbeiten, sprechen sie mit anderem Zungenschlag.
In unserem Nachbarland Hessen hat die grüne Sozialministerin kürzlich noch den Versuch verteidigt, eine hochschwangere Frau aus der Marburger Gegend, Fatima Abidi, nach Algerien abzuschieben.
Und der Landtag in Kiel hat im März ein Abschiebehaftgesetz verabschiedet, das ursprünglich sogar vorsah, die Menschen nachts standardmäßig in ihren Zimmern einzuschließen. Das hat übrigens die SPD-Opposition heftig kritisiert. Der Passus wurde gestrichen. Aber dazu mehr am Donnerstag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage ist also wesentlich komplexer als der Titel für Ihre Aktuelle Stunde.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von Bert Brecht schließen: „Ein guter Mensch sein! Ja, wer wär’s nicht gern?“ Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, spreche ich auch Herrn Seehofer nicht ab.
Wir werden im Ausschuss weiterreden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hatte versucht, einen etwas anderen Ton anzuschlagen und einen anderen Stil zu finden - vor dem Hintergrund des Mordes an Ihrem Parteifreund. Es scheint aber nicht gelungen zu sein.
Herr Schünemann, Sie sind persönlich geworden, deswegen werde ich das jetzt auch. Es ist eigentlich ein Wunder - seit dem Wahlkampf 2012 sind wir uns oft begegnet -, dass wir nicht schon früher
einmal zusammengerauscht sind. Heute ist es aber der Fall.
Es ist sicher schwierig für jemanden wie Sie, der im Innenministerium gearbeitet hat und sich sozusagen als Erfahrungsjurist empfindet, die Sachen zu bewerten. Ich bin keine Juristin. Also habe ich echte Juristinnen und Juristen gefragt, was es mit der Einführung des § 1 Abs. 4 Asylbewerberleistungsgesetz auf sich hat. Und diese Juristinnen und Juristen haben mir gesagt - ich möchte das einmal zitieren -: Für vollziehbar ausreisepflichtige Menschen mit Schutzstatus in einem anderen EUMitgliedstaat oder Drittstaat wird eine vollständige Leistungskürzung auf null vorgesehen.
Das ist das, was Juristinnen und Juristen sagen. Ich weiß nicht, welchen beruflichen Hintergrund Sie haben.
Wir werden in Niedersachsen natürlich nicht zulassen, dass die Menschen hungern müssen. Aber das werden dann eben andere machen: Es werden andere die Kosten tragen müssen, es werden sich andere verantwortlich fühlen müssen. Das habe ich erwähnt.
Ich finde es nicht anständig, was dort in der bundesgesetzlichen Regelung vorgesehen ist, und das werde ich auch so wiederholen. Wenn Sie da andere juristische Interpretationen haben, dann erklären Sie jetzt, vor welchem Hintergrund Sie das hier gesagt haben!
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das historische Erinnern ist bekanntlich die Kehrseite des Vergessens. Das Erinnern stärkt das geistige Fundament unserer freiheitlichen und wehrhaften
Demokratie für die Völkerverständigung in Europa. Denken wir nur an die bekannten Worte, mit denen Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner historischen Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 1985 eine neue Erinnerungskultur einforderte! Ich zitiere: „Wer... vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Der historische Rückbezug auf erlittenes Schicksal spielt aber auch für bestimmte gesellschaftliche Gruppen eine entscheidende, eine oft identitätsstiftende Rolle für Gegenwart und Zukunft, so auch für die Deutschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, blicken wir zurück! Am 22. Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Die Deutschstämmigen in der Sowjetunion gerieten daraufhin bei den stalinistischen Machthabern noch stärker unter Generalverdacht und wurden innerhalb weniger Wochen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten nach Osten verbracht. Infolge des berüchtigten Erlasses des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 wurden Familien auseinandergerissen, Menschen systematisch entrechtet, deportiert, unterdrückt und getötet. Mit dem sogenannten Stalin-Erlass endete die fast 200-jährige Ansiedlungsgeschichte der Wolgadeutschen und anderer deutscher Gemeinschaften, die einst in Russland eine neue Heimat gefunden hatten. Ihr Weg wurde damit schicksalhaft bereitet für Zwangsumsiedlungen aus den Wolgagebieten in die Verbannung nach Sibirien, Kasachstan, Kirgistan oder Tadschikistan. Mehr als 850 000 Menschen waren von den Zwangsmaßnahmen betroffen, erlebten Schreckliches in Lagern, viele fanden einen grausamen Tod.
Die Folgen der Deportation wirken bis heute. Deshalb ist der 28. August 1941 ein Tag des kollektiven Traumas, auch für die Nachfahren. Aus der Forschung zu Holocaust-Überlebenden weiß man, dass kollektive Traumata durch Verfolgung, Vertreibung, Krieg und Heimatverlust an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Diese Weitergabe, so die Soziologin Uta Rüchel, geschehe vor allem dann, wenn die Erlebnisse beschwiegen würden und nicht Thema einer etablierten Erinnerungskultur seien.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, genau deshalb ist das kollektive Erinnern im Sinne der gemeinschaftlichen Selbstvergewisserung so wichtig, und genau deshalb nehmen wir uns in Niedersachsen das Gedenken an die hunderttausendfach erlittenen Schicksale so zu Herzen. Mehr noch: Wir
erkennen diese Geschichte als einen wichtigen Teil der niedersächsischen Geschichte an. Mit den Menschen kommt eben auch ihre Geschichte - untrennbar!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die demokratischen Fraktionen in diesem Haus stehen zu dieser Geschichte und stehen zu dieser Verantwortung. Ich weise hier nur auf den Antrag „Vertreibung und Gewalt nicht vergessen - Leistungen der deutschen und jüdischen Zugewanderten aus Russland anerkennen“ hin, den wir, die Fraktionen von SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, im Oktober vergangenen Jahres gemeinsam beschlossen haben.
Seit vielen Jahren machen sich sämtliche niedersächsische Landesregierungen für die Belange der Deutschen aus Russland bzw. aus den ehemaligen Sowjetrepubliken stark. In Niedersachsen unterstützen wir die Deutschen aus Russland dabei, ihre kulturelle Identität zu wahren. Durch ihre beispielhafte Integrationsgeschichte sind sie Vorbilder für unsere ganze Gesellschaft und leisten seit vielen Jahren nicht nur einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung unserer Heimat, sondern auch für den Zusammenhalt und das Miteinander.
Nein, ganz bestimmt nicht.
Nach den heutigen Auftritten auf gar keinen Fall mehr.
Sehr geehrte Damen und Herren, ganz konkret unterstützt die Landesregierung mit jährlich 16 000 Euro Projekte im Bereich der Aussiedler- und Spätaussiedlerarbeit. Zudem - und das freut mich für die Landsmannschaft und ihre Vorsitzende, Frau Lilli Bischoff, ganz besonders - sind im neuesten Haushalt des Innenministeriums jährlich 30 000 Euro veranschlagt, um die wertvolle Arbeit der Landsmannschaft durch eine hauptamtliche Geschäftsführungsstelle zu unterstützen. Frau Viktoria Kohan hat ihre Arbeit am 1. März 2019 aufgenommen. Ich durfte sie bereits kennenlernen. Ich bin sicher, wir alle werden zusammen hier in diesem Hause viel Gutes auf den Weg bringen.
Sehr geehrte Damen und Herren, kein Ort in Niedersachsen ist mit der Geschichte von Flucht, Vertreibung, Heimatverlust und Neuanfang so symbolträchtig verbunden wie Friedland. Denn dort begann für Millionen von Menschen ein neues Leben - für Hundertausende Russlanddeutsche das Tor zur Freiheit. Deshalb befindet sich dort auch der am besten geeignete Ort, um dem historischen Schicksal dieser heute größten Zuwanderergruppe in Niedersachsen zu gedenken.
Im Museum Friedland geschieht das etwa mit der eindrucksvollen Ausstellung „Fluchtpunkt Friedland“. Der vom Land Niedersachsen geförderte Ausbau des Museums zu einem innovativen Besucher- und Dokumentationszentrum bietet ab 2022 eine gute Gelegenheit, der Geschichte der Russlanddeutschen als wichtigen Teil deutscher Geschichte noch größere Aufmerksamkeit als bisher zu schenken. Genau das stellt eine ganz konkrete und gegenwartsbezogene Förderung der historischen Erinnerungsarbeit dar und trägt dem demokratischen Verantwortungsbewusstsein in Niedersachsen Rechnung - nicht aber eine zusätzliche regelmäßige Landtagsgedenkfeier, die ohnehin von den meisten überhaupt nicht gewünscht wird.
Deshalb wiederhole ich meinen Appell: Nehmen wir uns das Bekenntnis zur gemeinschaftlichen Erinnerung in Niedersachsen weiterhin zu Herzen und unterstützen die Landsmannschaft, indem wir möglichst zahlreich am 14. September zur bundesweiten Gedenkveranstaltung nach Friedland reisen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Flucht, Vertreibung, ethnische Säuberung - was die Russlanddeutschen erlitten haben, bleibt täglich traurige Realität weltweit. Auch heute leben Millionen von Menschen mit dem Schicksal, das der Osnabrücker Historiker Jochen Oltmer „Gewaltmigration“ nennt. Eine Gedenkveranstaltung des Landtages könnte dieses Leid aller von Entrechtung, Verfolgung und Entwurzelung betroffenen Menschen auf der Welt in den Mittelpunkt rücken - am Beispiel der Deutschen aus Russland. Was spräche dagegen, den 80. Jahrestag des Stalin-Erlasses im Jahr 2021 zum Anlass für eine würdige Veranstaltung zu nehmen, wie es Landtagspräsidentin Frau Dr. Andretta in Erwägung zieht?
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Syrer sind gefangen zwischen Terror und Bomben“ - das ist die erschütternde Bewertung des syrischen Politikwissenschaftlers Haid Haid, die vergangene Woche in der Wochenzeitung DIE ZEIT zu lesen war. Gerade in der Region um Idlib, wo Medienberichten zufolge die Dschihadisten weitestgehend die Kontrolle übernommen haben sollen, sehen die Menschen ihrer Zukunft mit Schrecken entgegen. Im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Situation derart konfliktträchtig, dass mit zusätzlichen neuen Fluchtbewegungen zu rechnen ist.
Es ist erschreckend. Der Krieg geht ins achte Jahr. Mehr als eine halbe Million Menschen wurden bereits getötet. Nach aktuellen Angaben des UNHCR ist Syrien nach wie vor das Land, aus dem die meisten der weltweit mehr als 68 Millionen Flüchtlinge stammen. Auch wenn einige Menschen in ihre Heimat zurückkehrten - so heißt es in dem UNHCR-Bericht vom 6. Januar dieses Jahres -, wurden noch mehr vertrieben, sodass die Zahl der syrischen Flüchtlinge um gut 180 000 auf 6,5 Millionen wuchs. Die meisten dieser Menschen finden übrigens in der Türkei - 3,6 Millionen -, im Libanon - 968 000 -, in Jordanien - 667 000 - Schutz und Sicherheit, nicht in der Bundesrepublik. Hier haben im vergangenen Jahr rund 44 000 Syrerinnen und Syrer einen Asylantrag gestellt. Eines ist
klar: Deutschland ist nicht der Ort einer vermeintlichen Flüchtlingskrise.
Das Auswärtige Amt stellt in einem Lagebericht vom vergangenen November unmissverständlich klar: In keinem Teil Syriens besteht ein umfassender, langfristiger und verlässlicher Schutz für verfolgte Personen. - So weit die schreckliche Lage. Darin stimmen wir überein.
Dennoch: Die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union tragen nicht Mitschuld an den Kriegsgräueln und an der desaströsen humanitären Situation von Millionen Menschen, wie Sie es in Ihrem Antrag implizieren. Deutschland hat geholfen und tut es noch. Es ist auch nicht richtig, die Syrien-Strategie mit Worten wie „Abschottung“, „Abwehr“ und „passive Gleichgültigkeit“ zu beschreiben bzw. darauf zu reduzieren. Im Gegenteil, die Bundesregierung ist um eine diplomatische Lösung, zumindest um eine Deeskalation, äußerst bemüht. Vor diesem Hintergrund ist sehr zu hoffen, dass die Bundesrepublik als Mitglied des UNSicherheitsrats, das sie seit Anfang des Jahres ist, ihr Gewicht noch stärker einbringen kann. Die Erwartungen an uns sind so groß wie noch nie, sagt Außenminister Heiko Maas.
Neue diplomatische Impulse der Vernunft und Besonnenheit erscheinen umso dringlicher. Denn während Russland und die Türkei um Einfluss im Bürgerkriegsland ringen, hat US-Präsident Trump mit seiner Ankündigung, die amerikanischen Truppen aus Syrien abziehen zu wollen, das geopolitische Chaos in dieser Region noch vergrößert.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, zu den Forderungen in Ihrem Antrag, über den wir heute abschließend beraten, habe ich bereits im vergangenen Jahr ausführlich Stellung bezogen. Ich fasse gerne noch einmal zusammen:
Erstens. Eine Wiederauflage eines niedersächsischen Aufnahmeprogramms für schutzsuchende Menschen aus Syrien ist eine redliche Anregung im Kontext einer humanitären Flüchtlingspolitik, der wir uns hier in Niedersachsen verpflichtet sehen. Doch zum einen hat sich unser Bundesland bei der Aufnahme schutzbedürftiger Syrerinnen und Syrer gerade auch im Vergleich mit anderen Ländern besonders hervorgetan, auch ohne ein weiteres Aufnahmeprogramm.
Zum anderen müssen wir weiterhin die vielfältigen Herausforderungen im Blick behalten, die besonders die Kommunen bei der Aufnahme und Integration von Schutzsuchenden zu bewältigen haben. In diesem Sinne gilt es, die Städte und Gemeinden entsprechend ihren jeweiligen Belastungen im Rahmen des Integrationsfonds zu unterstützen. Eine Kommune mit besonderen Herausforderungen ist beispielsweise die Stadt Celle. Ich habe gestern mit dem Bürgermeister darüber gesprochen. Wir versuchen zu helfen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Ziel muss es auch bleiben, die Zugewandtheit unserer Gesellschaft gegenüber den Neuankommenden zu erhalten. Angesichts des Gebrülls rechtsgerichteter Idiotie stellt genau das eine immer größere Herausforderung für uns Demokratinnen und Demokraten dar, die sich für eine freiheitliche und vielfältige Gesellschaft einsetzen.
Auch wenn man in der öffentlichen Diskussion derzeit leider nur noch selten etwas davon hört: Allenthalben engagieren sich Zigtausende von Bürgerinnen und Bürgern noch immer für eine Gesellschaft, in der Geflüchtete Chancen auf echte Integration und Teilhabe haben. Egal ob in Ämtern, Vereinen oder Nachbarschaftskreisen - hier helfen Akteure vor Ort, sie bei ihrer Arbeit bestmöglich zu unterstützen, statt sie durch neu aufgelegte Aufnahmeprogramme zusätzlich zu fordern. Das ist, wie ich meine, die derzeit richtige - ich betone: derzeit richtige - Handlungsmaxime.
Zweitens. Mit Blick auf die Frage, in welcher Form den Menschen geholfen werden kann, die sich im Rahmen des bis 2015 laufenden Aufnahmeprogramms zur Übernahme von Kosten der öffentlichen Hand verpflichtet haben, hat es in jüngster Zeit bekanntlich positive Signale in Richtung einer
Lösung gegeben. Dafür hat sich Innenminister Pistorius seit 2017 mit viel Engagement und Herzblut eingesetzt. Er wird es auch weiterhin tun, damit sich Bund und Länder sehr bald, wie ich denke, über die Aufteilung der Kosten eines Hilfsfonds für die betroffenen Verpflichtungsgeberinnen und Verpflichtungsgeber einig werden. Wir sind auf der Zielgeraden, scheint mir.
Drittens. Der Familiennachzug für die Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten ist bekanntlich gesetzlich geregelt und seit 1. August 2018 wirksam. Um es ganz klar zu sagen: Euphorie löst die Kompromissregelung des Familiennachzugs bei mir nicht aus und hat sie nie ausgelöst, auch nicht die gestiegene Zahl von Visaerteilungen. Von den 5 000 möglichen Familiennachzügen im Jahr 2018 profitierten insgesamt nur 2 612 Personen. Die Zahl derjenigen Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als ihre geliebten Angehörigen bei sich zu haben, und dafür in den Auslandsvertretungen Anträge gestellt haben, ist nach wie vor weitaus höher als die Zahl der Visaerteilungen.
Und dennoch: Für eine Wiederzulassung des Familiennachzugs, wie Sie ihn sich vorstellen, gibt es derzeit keine politischen Mehrheiten. Das ist traurig, aber das ist so.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kolleginnen, werte Kollegen! „Du entkommst dem Tod, aber du kommst zu einem anderen Tod, und das ist die Trennung von denen, die du liebst.“ Mit diesen Worten brachte ein Junge aus Syrien die fluchtbedingten Trennungsängste zum Ausdruck, die viele Menschen mit ihm teilen. Abgedruckt sind diese Zeilen in einer in 2017 erschienenen Studie des renommierten Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration.
Da die Familieneinheit bekanntlich eine entscheidende Bedeutung gerade auch im Hinblick auf die Motivation einnimmt, kommt der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Professor Dr. Thomas Bauer, zu einer so simplen wie nüchternen Feststellung - ich zitiere -: „Der Familiennachzug ist integrationspolitisch sinnvoll.“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus diesem Grund hat die SPD bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin dafür gekämpft, den subsidiär schutzberechtigten Menschen die Chance einzuräumen, ihre engen Familienangehörigen nachholen zu dürfen, damit sie ihren Weg erfolgreich beschreiten können.
Wie Sie wissen, sieht das vom Deutschen Bundestag beschlossene und am 1. August 2018 in Kraft getretene Gesetz ein monatliches Kontingent von 1 000 Personen vor, die nach Ermessen aus humanitären Gründen ein Visum erhalten können. Ich hätte mir eine großzügigere Lösung gewünscht, die möglichst allen durch Krieg und Flucht getrennten Familien eine Chance eröffnet hätte, zusammenzukommen. Aber Koalitionen gehen nicht ohne Kompromisse - Kompromisse, die einem mitunter nicht so gut im Magen liegen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, seit Inkrafttreten des Gesetzes sind gut vier Monate vergangen. Was hat sich in der Praxis der Familienzusammenführung konkret getan? - Laut Auskunft des Bundesinnenministeriums sind bis einschließlich 5. November bundesweit 3 480 Anträge zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten von den Auslandsvertretungen an die Ausländerbehörden übergeben worden. Die Zahl der bearbeiteten Anträge und auch der Zustimmung durch das Bundesverwaltungsamt hat sich von Monat zu Monat sukzessive gesteigert. Dennoch: 45 000 Terminanfragen bei den Auslandsvertretungen stehen nur 786 Visaerteilungen im Rahmen der Familienzusammenführung gegenüber, wobei das wohlgemerkt auch nicht heißen muss, dass diese 786 Personen bereits ihre Reise in die Bundesrepublik angetreten haben. Nach Niedersachsen kamen seit Februar 47 Menschen zu 19 subsidiär schutzberechtigten Angehörigen. Was können wir daraus schließen?
Erstens. Beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten handelt es sich um alles andere als ein Massenphänomen. Im Gegenteil. In den zurückliegenden Monaten wurde die vereinbarte Monatsquote von 1 000 Visa nicht einmal annähernd erreicht. Angesichts eines mittlerweile be
schleunigten Asylantragsverfahrens dürfen wir aber hoffen, dass zukünftig mehr getrennt lebende Angehörige dieser Familien zusammenkommen können.
Vor diesem Hintergrund ist es zweitens nicht nur unsinnig, sondern geradewegs grotesk, den Familiennachzug zu einem Phänomen der unkontrollierten Masseneinwanderung zu stilisieren, das unsere Sozialsysteme und die Gesellschaft insgesamt überfordert.
Dieser alarmistischen und Angst verbreitenden Prognose haben sich in der Vergangenheit leider nicht nur die üblichen Verdächtigen von der AfD kampagnenhaft bedient, die AfD hat dies aber auf besonders niederträchtige und stigmatisierende Weise getan.
Das zeigt einmal mehr Ihr auch im Hinblick auf die Sicherheitslage in Syrien hanebüchener Antrag, mit dem wir uns hier beschäftigen müssen. Sehr geehrte Damen und Herren, alle Fraktionen lehnen Ihren Antrag ab. Denken Sie noch mal darüber nach! Ich appelliere an Sie mit den weihnachtlichen Worten des Breslauer Theologen und Barocklyrikers Angelus Silesius: „Ach, könnte nur dein Herz zu einer Krippe werden, Gott würde noch einmal Kind auf dieser Erden.“
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ Diese Worte des Philosophen Søren Kierkegaard spiegeln das Selbstverständnis unserer größten Zuwanderergruppe der vergangenen 20 Jahre wider: der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler; denn in diesem Selbstverständnis spielt der historische Rückbezug auf das erlittene Schicksal eine ebenso identitätsstiftende Rolle wie das Bewusstsein, in Gegenwart und Zukunft ein bereichernder Teil der Gesellschaft in unserem Land zu sein. Diese Schicksale und die historischen Leistungen dauerhaft im kollektiven Bewusstsein zu verankern und auch zu würdigen, darum geht es in dem gemeinsamen Antrag.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, gewaltsame Vertreibung und gesellschaftliche Verbannung, Diskriminierung und kriegsbedingte Verfolgung kennzeichneten das Schicksal der Russlanddeutschen über weite Strecken des 20. Jahrhunderts. Zur Geschichte der rund 400 000 Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler in Niedersachsen zählt aber ebenso ihr Integrationsverlauf in unserem Land. Dass die Integrationsprobleme der 1990er-Jahre weitestgehend verschwunden sind, ist vor allem ihr eigenes Verdienst. Mit viel Mut und Leistungswillen haben sich die Deutschen aus Russland eine Existenz aufgebaut, sind in der Gesellschaft angekommen und leisten wichtige
Beiträge für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes.
Sehr geehrte Damen und Herren, neben den Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern sind in den späten 1980er-/1990er-Jahren auch rund eine Viertelmillion sogenannter jüdischer Kontingentflüchtlinge aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik eingewandert. Trotz aller historischen und besonders verwaltungsrechtlichen Unterschiede: Auch die jüdischen Zuwanderer haben unser Land, das Land der Schoah, seither maßgeblich geprägt und bereichert. Ein Geschenk! Denn diese Menschen, so der Berliner Historiker und Kurator Dmitrij Belkin, retteten de facto ein institutionalisiertes jüdisches Leben in Deutschland. Gegenwärtig gibt es 100 000 bis 105 000 Jüdinnen und Juden, die Mitglieder in jüdischen Gemeinden sind. Mindestens 90 % davon sind Migrantinnen und Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion.
Insofern können und müssen wir auch in Niedersachsen dieser Zuwanderergruppe dankbar sein für ein lebendiges jüdisches Gemeinwesen mit derzeit rund 6 600 registrierten Mitgliedern. Auch ein Großteil der jüdischen Einwanderer ist bereits im Rentenalter oder steht kurz davor. Viele von ihnen plagt verständlicherweise die Angst vor drohender Altersarmut. Anspruch auf eine Fremdrente haben sie wohlgemerkt nicht.
Sehr geehrte Damen und Herren, wenn Regelungen wie das 1996 geänderte Fremdrentenrecht der Realität von heute nicht mehr entsprechen und den sozialen Bedürfnissen der Betroffenen nicht mehr gerecht werden, dann müssen sie auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls geändert werden. Insofern halte ich es für den richtigen Weg, die Lebensleistung der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler und auch der jüdischen Einwandererinnen und Einwanderer gebührend anzuerkennen, indem sich die Bundesregierung baldmöglichst mit allgemeinverträglichen Lösungen beschäftigt, wie es der Bundesrat bereits mit Zustimmung Niedersachsens auf den Weg gebracht hat.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.“
Der österreichische Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Améry wusste genau, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Améry, selbst Flüchtling und Vertriebener, verteidigte nach Kriegsende den Wunsch von Millionen von Menschen nach Heimat, und er erkannte sogleich, dass dieses Wort ausgerechnet von jenen gering geschätzt wird, die die Erfahrung von Flucht und Vertreibung niemals machen mussten.
Sehr geehrte Damen und Herren, in der Bundesrepublik, besonders hier in Niedersachsen, wissen viele Bürgerinnen und Bürger, wovon Améry einst sprach, entweder weil sie selbst zu den Millionen von Vertriebenen aus dem Osten zählten oder die Erfahrungen ihrer Vorfahren aus Erzählungen kennen. Nichts mehr besitzen, nirgendwo hingehören, nichts gelten, nicht Bescheid wissen - so wurde das Schicksal der Vertriebenen einmal zusammengefasst.
Der Bund der Vertriebenen trägt mit dem Tag der Heimat maßgeblich dazu bei, dass dieses kollekti
ve Leid nicht in Vergessenheit gerät. Das ist wohlgemerkt eine Verantwortung, der wir uns gerade in Niedersachsen, wo 1950 rund 1,8 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene lebten, heute sehr bewusst sind und weiterhin sehr bewusst sein sollten.
Zur Geschichte der Vertriebenen gehört aber nicht nur deren Heimatverlust, sondern auch ihr großer Anteil am wirtschaftlichen Aufbau und am demokratischen Erwachsenwerden unseres Landes. Sie haben das geistige Fundament von Freiheit, Demokratie und Völkerverständigung in Europa ganz wesentlich mitgestaltet. Dass der BdV für den diesjährigen Tag der Heimat die Überschrift „Europa zusammenführen“ gewählt hat, zeigt erfreulicherweise, dass er sich seiner Tradition der Völkerverständigung treu bleibt. Dafür können wir dankbar sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in meiner Rede beim Deutschlandtreffen der Schlesier im vergangenen Jahr habe ich es beschrieben: Die Integration der Heimatvertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft war mitnichten eine Angelegenheit, die nach wenigen Jahren vollendet war. Der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau hat das in seiner Berliner Rede im Jahr 2000 trefflich formuliert:
„Diese letztlich erfolgreiche Integration war am Anfang alles andere als leicht, obwohl Deutsche nach Deutschland kamen.“
Das gilt übrigens gleichermaßen für die Zuwandergruppe der Aussiedler und Aussiedlerinnen sowie der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, auf die ich heute Nachmittag noch zu sprechen kommen werde. Jedenfalls verdienen es die Flucht- und Integrationserfahrungen der Heimatvertriebenen von damals, stets Gehör zu finden - heute vielleicht mehr als je zuvor.
Wenn Menschen, die gegenwärtig bei uns in Deutschland Schutz suchen, von ihren Erfahrungen in Massenunterkünften, von ihren beschwerlichen ersten Schritten in der neuen fremden Gesellschaft erzählen oder gar von Anfeindungen und Rassismus, sind es oft die Vertriebenen und Flüchtlinge von einst, die diese Schilderungen am besten nachvollziehen können, und dabei verkenne ich keineswegs die großen Unterschiede.
Sehr geehrte Damen und Herren, aus dieser Vergangenheit gilt es in der Tat, Lehren zu ziehen. Eine lautet: Integration braucht Zeit, viel Zeit, und
sie ist selten ein konfliktfreier oder gar harmonischer Prozess. Zu ihm gehört auch die Angst vor Konkurrenz, wie sie uns gegenwärtig manchmal allerdings in unerträglicher, instrumentalisierter Gestalt rechter Hetze entgegentritt.
Eine weitere Lehre lautet: Die Zuwanderung motivierter und ehrgeiziger Menschen kann unser Land voranbringen. Und schließlich ist, das kulturelle Erbe aufrechtzuerhalten und sich zugleich in eine neue Gesellschaft zu integrieren, kein Widerspruch. Im Gegenteil: Ersteres kann gelegentlich eine wichtige Voraussetzung für Letzteres sein, wie uns die Integrationsforschung gezeigt hat.
Sehr geehrte Damen und Herren, wenn wir uns über Heimat, Identifikation und Zugehörigkeit Gedanken machen, zählt dazu auch die offene und demokratische Auseinandersetzung mit dem kulturellen und historischen Erbe unseres Landes und seiner Geschichte - im Guten wie im Schlechten. Insofern ist es von großer Bedeutung, Orte des Gedenkens, der Erinnerung und des historischen Lernens zu bewahren und sie dort, wo sie notwendig sind, auch zu schaffen, wie etwa die geplante Dokumentations- und Lernstätte Bückeberg - eine Bildungseinrichtung von großer Tragweite, weil sie gerade jungen Menschen die perfiden Mechanismen des politischen Missbrauchs von Volkszugehörigkeit und Heimatgefühl, wie sie das NSRegime mit dem Reichserntedankfest auf dem Bückeberg zur Schau stellte, vermitteln soll.
Die Definition von Heimat ist heute so vielfältig, wie es die Menschen und unsere Gesellschaften sind. „Ubi panis, ibi patria“ - wo Brot ist, da ist die Heimat -, meinten die alten Römer in einem recht existenziellen Heimatverständnis. Oder „Ubi bene, ibi patria“: Wo es uns gut geht, ist die Heimat. Heimat ist aber vor allem ein Halt gebendes Gefühl der Vertrautheit und der Zugehörigkeit, etwas sehr Privates und Subjektives und etwas, das sich stets ändern kann. Für umso verstörender und weltfremder halte ich im Übrigen die Idee eines Bundesheimatministeriums; das ist meine sehr persönliche Anmerkung.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle einen weiteren Österreicher zitieren, den ich zugleich einen Freund nennen darf. Der Journalist und Schriftsteller Robert Misik schrieb kürzlich in einem Essay in der Wochenzeitung Die Zeit: „Der Heimatbegriff ist massiv politisiert und
hat mit den konkreten, kleinteiligen Heimaten meist nicht sehr viel zu tun.“ Als politisches Konzept sei der Begriff schlichtweg toxisch.
Wir tun gut daran, der Vielfalt an Lebensrealitäten und Heimatbegriffen der Menschen Rechnung zu tragen; denn dann lässt sich Heimat auch nicht zur Ausgrenzung anderer missbrauchen und politisch instrumentalisieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Ohne Erinnerung gibt es keine Kultur. Ohne Erinnerung gäbe es keine Zivilisation, keine Gesellschaft, keine Zukunft.“
Diese Worte des Friedensnobelpreisträgers und Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel, geboren in Rumänien, sind in erster Linie ein Plädoyer für das kollektive und unaufhörliche Erinnern an die entsetzlichen Gräuel in der Zeit des Nationalsozialismus. Sie treffen meines Erachtens aber ebenso für den Umgang mit der deutschen Geschichte insgesamt in all ihren Facetten zu. Und so können Wiesels Worte auch für die Erinnerung an ethnische Säuberungen, wie sie die Russlanddeutschen erfahren haben, gelten. Wiesel forderte zum ständigen Erinnern auf. Genau das tun wir. Das tut der vorliegende Antrag der Fraktionen von SPD und CDU mit dem Titel „Vertreibung und Gewalt nicht vergessen - Leistung der Deutschen aus Russland anerkennen“.
Sehr geehrte Damen und Herren, dieses Schicksal beginnt mit dem wohl bekanntesten Anwerbemanifest der Geschichte: dem Kolonistenbrief der Zarin Katharina der Großen aus dem Jahr 1763. Gelockt mit Vorteilen wie Selbstverwaltung und Glaubensfreiheit folgten Zehntausende deutsche Siedlerinnen und Siedler dem Aufruf in das Zarenreich und wurden allmählich zu treuen und sich aufopfernden Untertanen. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges begann indes die lange Zeit der Unterdrückung. Während der Sowjetzeit verstärkten sich die Repressionen und mündeten in politisch-ethnisch motivierten Säuberungsaktionen.
Mit dem sogenannten Stalinbefehl vom 28. August 1941 wurde der schicksalhafte Weg für Zwangsumsiedlungen fast aller in der Sowjetunion lebenden Deutschen bereitet. Mehr als 850 000 Menschen waren von diesen Zwangsmaßnahmen betroffen. Sie erlebten schreckliche Zeiten in Arbeitslagern, viele kamen grausam zu Tode. Kurzum: Die Biografien der Opfer und ihrer Nachfahren sind Geschichten politischer Willkür, und noch heute ist kaum eine Familie ohne Wunden aus jener Zeit. Erst im Zuge der Perestroika emigrierte die Mehrheit der Russlanddeutschen zurück in die unbekannte Heimat ihrer Vorväter und -mütter, auch sie mit der Vorstellung, es sei ein verheißungsvolles und Wohlstand bringendes Land.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Ort Friedland, hier in unserem Bundesland Niedersachsen, symbolisiert wie kein anderer diese identitätsprägende Sehnsucht nach Rückkehr und den Aufbruch in ein neues Leben. Denn die allermeisten der heute etwa 400 000 in Niedersachsen lebenden Aussiedlerinnen und Aussiedler, Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler sowie ihre Nachfahren haben hier das Tor zur Freiheit durchschritten. Und sie tun es, wohlgemerkt, immer noch! Geschichte hat kein Ende. 2017 kamen 653 Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler nach Niedersachsen, bis Juni 2018 wurden 258 Menschen verteilt.
So bietet sich mit dem Museum Friedland gleichsam der beste Ort, dem historischen Schicksal dieser heute größten Zuwanderergruppe in unserem Bundesland angemessen zu gedenken. Das geschieht bereits mit der eindrucksvollen Ausstellung „Fluchtpunkt Friedland“. Der vom Land Niedersachsen geförderte Ausbau des Museums zu einem innovativen Besucher- und Dokumentationszentrum bietet ab 2022 eine gute Gelegenheit, der Geschichte der Russlanddeutschen als wichtigen Teil deutscher Geschichte noch größere Aufmerksamkeit als bisher zu schenken.
Sehr geehrte Damen und Herren, zu dieser Geschichte zählt wohlgemerkt auch der gelungene Integrationsverlauf der russlanddeutschen Zuwanderer. Leicht hatten sie es ganz sicher nie - die Erfahrung der Entwurzelung und ständigen Identitätssuche, das Fremdsein in der Heimat, nach der man sich einst so gesehnt hatte. Was Theodor Fontane in einem Gedicht beschrieb - „Und zur Fremde wird die Heimat, und zur Nähe wird die Ferne“ -, mussten viele Russlanddeutsche am eigenen Leib erfahren oder kennen es aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Umso beeindruckender sind die Integrationsleistungen.
„Die Aussiedler“,
so heißt es etwa in einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung,
„sind mit einem vergleichsweise hohen Bildungsstand nach Deutschland gekommen. Sie finden sich relativ gut auf dem Arbeitsmarkt zurecht, und viele Faktoren weisen darauf hin, dass sie sich aktiv um die Integration in der Gesellschaft bemühen.“
Mit Fleiß, Mut und Leistungswillen haben sich die Russlanddeutschen ihren festen Platz in unserer Gesellschaft hart erarbeitet. Sie sind in jeder Hinsicht eine geschätzte Gruppe, eine große Bereicherung für Niedersachsen.
Folgerichtig spricht auch Jannis Panagiotidis, Juniorprofessor des bundesweit einzigen Lehrstuhls für russlanddeutsche Migration und Integration an der Universität Osnabrück von einer „Erfolgsgeschichte, aus der die heutige Politik auch einiges für den Umgang mit neuen Migranten mitnehmen könnte und sollte“. Die Russlanddeutschen können gerade heute anderen Zuwanderungsgruppen Mut machen und Vorbild sein, wie es im vorliegenden Antrag heißt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, jede und jeder von Ihnen hat im Freundes- und Bekanntenkreis sicherlich Angehörige von Spätaussiedlerfamilien und kennt selbst etliche Beispiele für diese gelungenen Integrationsgeschichten. Und wer das nicht haben sollte, kann sich in kurzer Distanz von hier anschauen, wer bei Hannover 96 so in der Mannschaft ist.
Diese Erfolgsgeschichte findet ihren Ausdruck aber auch im großen Engagement des Landesverbandes der Deutschen aus Russland. Die Kontakte zwischen der Landesregierung und der Landesgruppe Niedersachsen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland sind seit vielen Jahren ganz eng und hervorragend. Frau Lilli Bischoff und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können sich auf die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Land Niedersachsen verlassen.
Ich denke, das haben kürzlich auch die wertschätzenden Worte unseres Innenministers im Rahmen der Gedenkveranstaltung der Landsmannschaft noch einmal sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Auf diese Solidarität und vielfältige Unterstützung wird die Landsmannschaft auch in Zukunft setzen können, zumal ihre Mitglieder in ihrer Rolle als Brückenbauer zwischen Niedersachsen und Russland immer wichtiger werden.
Sehr geehrte Damen und Herren, der gemeinsame Antrag unterstützt das Vorhaben einer Bundesratsinitiative, in deren Rahmen geprüft werden soll, inwiefern die im Herkunftsland vollbrachte Arbeitsleistung bei der Rente angemessen berücksichtigt werden kann. Im Jahr 1996 hatte sich die CDUgeführte Bundesregierung unter Helmut Kohl zu weitreichenden Einschnitten in die im Fremdrentengesetz geregelten Leistungen für Vertriebene und Spätaussiedler entschieden. Begründet wurde dies seinerzeit u. a. damit, eine Besserstellung gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen zu vermeiden.
Ich verstehe dieses Argument, aber auch das Anliegen der Russlanddeutschen, wie alle Bürgerinnen und Bürger eine der Würde des Alters entsprechende Rente zu beziehen. Deshalb halte ich es für einen richtigen Weg, gemeinsam mit anderen Bundesländern zu allgemeinverträglichen Lösungen wie Sozialversicherungsabkommen mit den einzelnen Herkunftsländern zu kommen. Es geht dabei um nicht weniger, als die individuelle Arbeitsleistung und die kollektive Lebensleistung der Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler gebührend anzuerkennen.
Sehr geehrte Damen und Herren, in diesem Sinne hoffe ich auf erfolgreiche Gespräche auf Landes- und Bundesebene und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! „Wir haben unsere Waffen vervollkommnet,
unser Gewissen ist eingeschlafen, und wir haben ausgeklügeltere Begründungen gefunden, um uns zu rechtfertigen.“ - Mit diesen Worten forderte Papst Franziskus vor wenigen Wochen in Rom ein Ende der Kriegsgewalt in Syrien. Seine Worte spiegeln leider auch die Unfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft wider, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, die darin besteht, das millionenfache Leid der syrischen Zivilbevölkerung zu beenden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die humanitäre Situation der Menschen in Syrien, aber auch derjenigen, die in die Anrainerstaaten geflohen sind, ist katastrophal. Der Krieg wütet seit nunmehr sieben Jahren, hat Abertausende Tote gefordert, hat Familien getrennt und eine ganze Generation junger Syrerinnen und Syrer zu einer verlorenen Generation gemacht. Etwa die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist laut dem UNHCR geflüchtet. Allein zwischen Januar und April dieses Jahres haben mehr als 700 000 Menschen ihr Zuhause verloren. 69 % der Syrerinnen und Syrer leben in extremer Armut, mehr als 2,3 Millionen Menschen unter gefährlichsten Bedingungen in schwer erreichbaren und belagerten Gebieten. Das stellte kürzlich der Geschäftsführer der UNOFlüchtlingshilfe Peter Ruhenstroth-Bauer verbittert fest.
Sehr geehrte Damen und Herren, der evangelische Landesbischof Ralf Meister hat sich vor wenigen Wochen selbst ein Bild von der Lage im syrischen Homs gemacht. Seine Erkenntnis: „Die Hoffnungslosigkeit braucht konkrete Handlungsschritte und Optionen der Hoffnung.“ - So Ralf Meister zum Evangelischen Pressedienst.
Einen solchen konkreten Handlungsschritt hat die Bundesregierung kürzlich getan. Denn während bei der Syrien-Geberkonferenz in Brüssel nur ein Bruchteil der notwendigen Hilfsgelder zugesagt wurde, kündigte der Bundesaußenminister an, den deutschen Beitrag bis 2020 um eine weitere Milliarde zu erhöhen. Deutschland ist damit der größte Einzelspender in der Syrienkrise. Schon deshalb ist es falsch und auch verletzend, wenn Sie der Bundesregierung vorwerfen, ihre Syrienstrategie basiere - ich zitiere aus Ihrem Antrag - „vor allem auf der Abwehr Geflüchteter und der militärischen Beteiligung an einem Luftkrieg über Syrien“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit komme ich zu den Forderungen in Ihrem Antrag.
Sie verlangen beispielsweise, dass wir uns auf Bundesebene für die Wiederzulassung des Famili
ennachzugs auch für die Gruppe der subsidiär Geschützten einsetzen. Dabei wissen Sie doch, dass die Möglichkeiten der Familienzusammenführung für die genannte Personengruppe erst kürzlich neu geregelt wurden. Ab 1. August gibt es ein monatliches Kontingent von bundesweit 1 000 Personen, die nach Ermessen aus humanitären Gründen ein Visum erhalten können. Dabei werden etwa die Dauer der familiären Trennung, das Alter der Kinder oder schwere Erkrankungen der Betroffenen berücksichtigt.
Diese Regelung ist ein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene. Für eine Änderung sehe ich derzeit jedenfalls keinen politischen Spielraum. Innenminister Pistorius hat bereits im März betont, Koalitionsverträge seien wie andere Verträge. Sie seien geschlossen, um eingehalten zu werden - auch wenn es darum geht, einen Kompromiss einzuhalten, der uns nicht gefällt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese 1 000 Menschen pro Monat, die jetzt zu ihren Liebsten kommen dürfen, sind weit weniger, als ich mir gewünscht habe. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, was unser Bundesland - Herr Onay hat schon etwas aufgezählt -, was unsere mitfühlenden Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Jahren geleistet haben. Niedersachsen hat sich maßgeblich an dem humanitären Aufnahmeprogramm des Bundes beteiligt, z. B. durch die zentrale Erstaufnahme der Resettlement-Flüchtlinge am Standort Grenzdurchgangslager Friedland. Darüber hinaus - Herr Onay hat das auch schon gesagt - unterhält Niedersachsen ein eigenes Landesaufnahmeprogramm, von dem mehr als 5 300 Menschen profitierten. Wir sprechen davon, dass diese Menschen zusätzlich zu den anderen zu uns gekommen sind.
Gestatten Sie mir, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass auch Baden-Württemberg und Hessen - wohlgemerkt: das eine ist ein Bundesland mit einem grünen Ministerpräsidenten, und das andere ist ein Bundesland mit einem stellvertretenden grünen Ministerpräsidenten - ausgelaufene humanitäre Landesaufnahmeprogramme bislang nicht neu auflegen. Das meldet jedenfalls PRO ASYL auf ihrer Website. Kann es denn sein, dass da, wo die Grünen regieren, jene Forderungen nicht erhoben werden, die Sie hier als Oppositionspartei zum Ausdruck bringen?