Protokoll der Sitzung vom 19.04.2018

Tagesordnungspunkt 19: Mitteilungen der Präsidentin

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hauses fest.

Zur Tagesordnung: Wir beginnen die heutige Sitzung mit Tagesordnungspunkt 20, der Fortsetzung der Aktuellen Stunde. Anschließend setzen wir die Beratungen in der Reihenfolge der Tagesordnung fort. Die heutige Sitzung soll gegen 19.25 Uhr enden.

Die mir zugegangenen Entschuldigungen teilt Ihnen nunmehr die Schriftführerin Frau Tippelt mit. Bitte, Frau Tippelt!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch von mir ein herzliches Guten Morgen. Für den heutigen Tag haben sich entschuldigt: von der CDU-Fraktion Herr Bäumer und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Onay.

Vielen Dank, Frau Kollegin. - Ich rufe auf den

Tagesordnungspunkt 20: Aktuelle Stunde

und eröffne die Besprechung zu

a) Eskalation in Syrien - Familiennachzug in Niedersachsen ermöglichen, Menschenleben retten! - Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 18/681

Ich erteile das Wort der Fraktionsvorsitzenden, Frau Anja Piel. Bitte, Frau Kollegin!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sieben Jahre dauert der Krieg in Syrien schon an. In diesen langen Jahren sah es manchmal so aus, als wenn er kurz vor einem Ende stünde, als würde sich etwas verbessern. Diese Hoffnung wurde immer zerstört. Mit jeder neuen Runde der Eskalation erscheint der Konflikt noch aussichtsloser, noch verzwickter und noch größer. Täglich wächst bei uns die Sorge, dass er sich zu einem Stellvertreterkrieg entwickelt, bei dem sich Putin, Trump und Erdogan gegenüberstehen und die UN am Ende ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen sein wird und ihr nicht nachkommen kann.

Aber bei all unserer Sorge dürfen wir eines nicht vergessen: Es sind erst einmal die Menschen in Syrien, die leiden. Es sind die Menschen in Syrien, die sterben. Und es sind die Menschen in Syrien, die aus ihrer Heimat fliehen, um dem Schrecken zu entgehen.

Meine Damen und Herren, auch wenn wir uns hier in Niedersachsen manchmal machtlos fühlen angesichts dieses nicht enden wollenden Krieges, so können wir doch etwas tun. Wir können wenigstens einigen dieser Menschen eine Perspektive geben, zumindest denen, die es trotz der Abschottung an den EU-Grenzen geschafft haben, zu uns zu kommen.

Meine Damen und Herren, es gibt viele Menschen in Niedersachsen, die bereits helfen, die sich vom Schicksal dieser Menschen haben anrühren lassen und die auch weiter helfen wollen. Einige von ihnen haben für Geflüchtete gebürgt, um es ihnen zu erleichtern, zu uns zu kommen. Sie wurden falsch beraten und stehen jetzt vor hohen finanziellen Forderungen, die ihre Möglichkeiten zum Teil völlig übersteigen. Die Politik könnte wenigstens diesen Menschen die unverschuldete Last abnehmen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Morgen werden wir auf unsere Anfrage in der Fragestunde hoffentlich aktuellere Zahlen von der Landesregierung erhalten. Schon jetzt ist uns allen aber klar: Guter Wille wird an dieser Stelle nicht ausreichen. Es gibt bisher weder einen Hilfsfonds noch ein Moratorium für die Rückforderungen und auch keine Änderung des zugrunde liegenden § 68 des Aufenthaltsgesetzes.

Was ist das für ein Zeichen angesichts des Krieges in Syrien? - Die Botschaft solcher politischen Versäumnisse ist: Der Staat macht es denen schwer,

die helfen wollen, weil er die nicht will, die Hilfe brauchen!

Meine Damen und Herren, der Umgang mit den Bürginnen und Bürgen ist symptomatisch: In Deutschland und leider offensichtlich auch in Niedersachsen setzt sich eine Strategie durch, die heißt: Abwehr durch Bürokratie!

Und auch wenn es Sie nervt: Wir werden immer wieder darauf hinweisen. Wir werden immer wieder den Finger in die Wunde legen. Die Große Koalition im Bund setzt den Familiennachzug weiter aus - jetzt, wo er so wichtig wäre.

Nur eines der vielen Einzelschicksale, über das die HAZ am 16. April 2018 berichtet hat: Ein zehnjähriger, staatenloser, palästinensischer Junge, der 2015 mit seinem Vater und seinem Onkel aus Syrien nach Deutschland geflüchtet ist, kann weder seine Mutter noch seine drei minderjährigen Schwestern hierherholen, weil er nur subsidiären Schutz genießt.

(Unruhe)

Einen Moment, bitte, Frau Kollegin! Sie sollen auch die Aufmerksamkeit des Hauses haben. - Ich darf um Ruhe bitten! - Bitte!

Um mich geht es gar nicht. Ich denke, das Schicksal des Jungen ist spannend und dramatisch genug.

Die Große Koalition in Berlin hat für ihn damit die Möglichkeit des Familiennachzugs ausgesetzt. Was es für diesen zehnjährigen Jungen bedeuten würde, seine Familie nachzuholen, können wir uns, glaube ich, nicht einmal im Ansatz vorstellen.

Meine Damen und Herren, in der Zeit von 2013 bis 2017 haben bundesweit 6 100 unbegleitete minderjährige Geflüchtete die Voraussetzungen dafür erfüllt, ihre Familien aus Syrien nachzuholen. Aber nur ungefähr die Hälfte von ihnen - es sind wirklich erschreckende Zahlen -, nämlich 3 700, hat die Familie bisher nachgeholt. Was glauben Sie, meine Damen und Herren? Meinen Sie, diese Jugendlichen wollen ihre Familien nicht sehen und ihre Eltern nicht nach Deutschland holen? - Nein, es sind bürokratische Hürden, die das verhindern!

Meine Damen und Herren, nun können hier natürlich alle die Hände erheben und sagen: Leider, leider sind wir in Niedersachsen nicht zuständig,

nicht für die Konflikte in Syrien und auch nicht für den ausgesetzten Familiennachzug als zynische Abwehrstrategie.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dann darf ich Sie aber daran erinnern: Wir haben gemeinsam viereinhalb Jahre lang der Bundesregierung richtig Dampf gemacht. Wir haben vielleicht nicht jede Verschärfung verhindern können. Wir waren - das gehört zur Wahrheit dazu - auch nicht immer exakt der gleichen Auffassung. Aber wir haben uns zuständig gefühlt. Das ist der Unterschied!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Und wenn Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der CDU, sich hierhin stellen und sagen, Familie ist der höchste Wert der Christdemokraten - ich habe das gestern warmen Herzens gehört, weil es mir genauso geht; Familie ist für Sie wichtig -, dann müssen Sie sich heute von uns fragen lassen: Gilt das auch für die Familien in Syrien? Denn da haben Sie die Chance, etwas zu tun.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Lösen Sie das Problem mit den Bürgschaften, und starten Sie ein neues Aufnahmeprogramm in Niedersachsen, so wie wir es bis Juni 2015 hatten und wie es auch in anderen Bundesländern geübte Praxis ist!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Viele der Menschen im Land sind bereit zu helfen. Nun sind Sie dran. Viel können wir für die Menschen in Syrien nicht tun. Wir werden den Krieg dort nicht beenden können. Aber denen, die hier sind, können wir helfen. Wir können ihnen wenigstens das Leid ersparen, dass ihre Familien auseinandergerissen werden. Das wird den Konflikt nicht entschärfen, aber das wird die Schicksale von einzelnen Menschen beeinflussen. Wir können ihnen helfen.

Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall bei den GRÜNEN)

Vielen Dank. - Nun hat das Wort für die SPDFraktion Herr Kollege Dr. Pantazis. Bitte!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Piel, bei Durchsicht Ihres Antrages zur Aktuellen Stunde ist

mir aufgefallen, dass Sie zwei Themenkomplexe ansprechen, die Sie miteinander verknüpfen: zum einen die Eskalation in Syrien und zum anderen die deutsche Flüchtlingspolitik. Erlauben Sie mir daher, diese beiden Themenkomplexe gesondert anzusprechen.

Was in Syrien passiert - das haben Sie eben gerade gesagt -, ist eine siebenjährige Tragödie. Und was vor Kurzem in Duma passiert ist, ist schlichtweg ein Kriegsverbrechen. Der Einsatz chemischer Kampfstoffe ist international geächtet, und ein Regime, das diese nutzt, verliert moralisch jeden Anspruch auf einen Platz in der internationalen Gemeinschaft.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Die Weltgemeinschaft kann daher nicht tatenlos zusehen, wenn Kriegsverbrechen verübt werden; das wäre in jeglicher Hinsicht ein fatales Signal der Ohnmacht. Der Einsatz der USA und ihrer Alliierten war daher nachvollziehbar. Dies haben die EUAußenminister in einer seltenen Einträchtigkeit während ihres Treffens am Montag auch bestätigt.

Aber so bitter das klingen mag: Der Einsatz überschreitet zwar völkerrechtlich eine rote Linie, von einer Eskalation der Lage kann allerdings nicht gesprochen werden. Denn dies würde jenen über 500 000 Opfern nicht gerecht werden, die in den vergangenen Jahren bereits durch konventionelle Waffen ums Leben gekommen sind. Der Tod und die Eskalation sind in Syrien seit Langem ein trauriger Begleiter im Alltag. Das ist eine harte, aber leider wahre Realität und ein Versagen aller am Konflikt beteiligten Parteien. Damit schließe ich uns, die Weltgemeinschaft, ein.

Ich finde es daher grundsätzlich schwierig, zu versuchen, aus der jüngsten Entwicklung einen Zusammenhang zwischen diesem Militärschlag und der Thematik Familiennachzug zu konstruieren.

(Lachen bei den GRÜNEN - Helge Limburg [GRÜNE]: Das meinen Sie nicht ernst?)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, über kaum ein Thema wurde in den letzten Wochen und Monaten so leidenschaftlich, so kontrovers, aber auch so erbittert diskutiert wie über das Thema Familiennachzug. Das mag vielleicht daran liegen, dass die Debatte - ich zitiere hier gerne meine Kollegin Högl - „ein Gradmesser dafür ist, wie ernst wir es meinen mit Menschenwürde und dem Schutz der Familie“. Auch Sie haben das ja angesprochen.

Für meine Fraktion kann ich behaupten, dass wir den Familiennachzug auch für subsidiär Schutzberechtigte grundsätzlich als richtig erachten.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von Anja Piel [GRÜNE])

Der Schutz der Familie ist zu Recht ein im internationalen und deutschen Recht fest verankertes Grund- und Menschenrecht. Besonders gilt dieses für Menschen, die aus Syrien nach Deutschland geflohen sind. Der Familiennachzug stellt auch eine Voraussetzung für eine gute und gelungene Integration dar und steht ferner für einen sicheren und auch legalen Einreiseweg, fernab von Schlepperrouten und -banden.

Vor dem Hintergrund der hohen Flüchtlingszahlen ab 2015 und der damit verbundenen Ausnahmesituation erfolgte im Rahmen eines politischen Kompromisses die Aussetzung des Familiennachzuges bis März 2018. Diese Ausnahmesituation ist aber nun nicht mehr gegeben.