Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich darf Sie im Namen des Präsidiums herzlich begrüßen und eröffne die 56. Sitzung im 20. Tagungsabschnitt des Niedersächsischen Landtages der 18. Wahlperiode.
Zur Tagesordnung: Wir beginnen die heutige Sitzung mit Tagesordnungspunkt 30; das ist die Fortsetzung der Aktuellen Stunde. Anschließend setzen wir die Beratungen in der Reihenfolge der Tagesordnung fort. Die heutige Sitzung soll gegen 19.05 Uhr enden.
Die mir zugegangenen Entschuldigungen teilt Ihnen nunmehr der Schriftführer Herr Onay mit. Bitte, Herr Onay!
Es haben sich entschuldigt: von der Fraktion der SPD Herr Stefan Klein, Herr Philipp Raulfs bis zur Mittagspause und Uwe Schwarz und von der Fraktion der AfD Peer Lilienthal ab 16.50 Uhr.
Wie gestern bereits angekündigt, setzen wir die Aktuelle Stunde heute fort mit den Anträgen der Fraktion der CDU, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der AfD.
a) Verfassungsrang des Kinderschutzes in Niedersachsen mit Leben füllen! - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 18/4535
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Wir machen hier heute einen Strich drunter, aber wir werden das lange nicht vergessen.“ - Das waren die Worte meines Kollegen Roman von Alvensleben, Rechtsanwalt und Anwalt der Opfer im Fall Lügde, als er die Urteilsverkündung des Landgerichts Detmold zur Kenntnis genommen hat.
Diese Haltung eines Opferanwaltes ist verständlich; denn das, was allen Beteiligten in dem Verfahren und insbesondere den Opfern zugemutet worden ist, war eine Fortsetzung dessen, was die Opfer in den vergangenen Jahren, in ihrer Kindheit erlebt haben. Es war eine Fortsetzung erschreckender, grauenvoller und widerlicher Vorgänge. Ich habe großes Verständnis, wenn Opfer und Opferanwälte jetzt sagen: Nun ist es gut, Strich drunter, wir akzeptieren diese Urteile.
Anders ist es bei uns im Niedersächsischen Landtag. Wir dürfen keinen Strich drunter machen. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen.
Wir sind diejenigen, die im Jahr 2009 die Niedersächsische Verfassung geändert und sie um den Artikel 4 a ergänzt haben. Dort heißt es:
„Kinder und Jugendliche sind vor körperlicher und seelischer Vernachlässigung und Misshandlung zu schützen.“
Das ist kein bloßes Staatsziel, sondern das ist ein Verfassungsauftrag, den wir uns selbst gegeben haben und für dessen Erfüllung wir verantwortlich sind.
Wir müssen uns selbstkritisch einmal die Frage stellen: Was haben wir eigentlich getan, um diesen Verfassungsauftrag zu erfüllen?
Die Vorgänge in Rumänien, die wir in den letzten Tagen zur Kenntnis genommen haben, bei denen wieder niedersächsische Kinder von Missbrauch betroffen sind, zeigen: Lügde war kein Einzelfall; Kindesmissbrauch setzt sich in unserer Gesellschaft fort.
Wir lernen auch: Eine Verfassung entwickelt leider keinen Automatismus. Sie ist oftmals eine Art Placebo. Wir glauben, wenn wir etwas in die Verfas
sung schreiben, ist damit Gutes getan, aber tatsächlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen wir fest, dass wir unsere Verfassung, insbesondere auch in diesem Bereich, mit Leben erfüllen müssen.
Das hat uns auch der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Missbrauchs ins Lehrbuch geschrieben. Er hat gesagt, dass wir auch auf Landesebene dafür sorgen müssen, dass die Koordination zwischen Jugendämtern, Polizei, Justiz und allen Beteiligten besser wird.
Lassen Sie uns anfangen, diesen Verfassungsauftrag abzuarbeiten und ganz konkret Folgendes voranzutreiben:
Zunächst freue ich mich, dass die in diesem Haus mit großer Einigkeit beschlossene Kinderschutzkommission im Oktober nun endlich ihre Arbeit aufnehmen wird. Ich gebe zu, ich fand den Anfang ein wenig holprig. Aber wenn die Kommission jetzt tatsächlich mit ihrer Arbeit beginnt, ist das schon ein gutes Zeichen.
Wir brauchen ferner eine unabhängige Kinderschutzbeauftragte oder einen Kinderschutzbeauftragten. Ich verstehe es nämlich nicht: Der Bund erkennt einen Handlungsbedarf, setzt einen Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs von Kindern ein - aber wir auf der Landesebene glauben, dass es bei uns keinen Handlungsbedarf gibt. Das ist doch irrig. Ein Bundesbeauftragter kann das nicht regeln. Dafür ist die Lage in den Ländern viel zu unterschiedlich. Wir brauchen in Niedersachsen eine eigene Kinderschutzbeauftragte oder einen eigenen Kinderschutzbeauftragten!
Wir brauchen des Weiteren eine stärkere Kontrolle durch die Landessozialbehörde. Liebe Frau Ministerin Reimann, ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass Sie gestern die Verschickung niedersächsischer Kinder nach Rumänien gestoppt haben. Das ist ein erster Schritt. Das zeigt aber auch, dass wir ziemlich genau auf das, was in diesem Bereich passiert, gucken müssen. Meinen herzlichen Dank!
Außerdem müssen wir die Verjährungsfristen für Missbrauchsfälle überprüfen. Es klingt zwar gut, wenn es heißt, dass die Verjährungsfrist erst mit Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers beginnt und dann über fünf bis 30 Jahre läuft. Aber wer weiß, wie lange die Betroffenen zum Teil mit dem Elend ihrer schlimmen Erinnerung allein sind, der weiß auch, dass wir bei den Verjährungsfristen nachbessern müssen.
Die Urteile von Lügde haben noch einen weiteren Handlungsbedarf aufgezeigt. In dem ersten Urteil ist der Beteiligte mit einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren aus dem Prozess herausgekommen. Ich will jetzt nicht das Landgericht Detmold schelten, dafür habe ich viel zu großen Respekt vor der Gewaltenteilung. Aber wir müssen uns schon die Frage stellen, ob man ein solch relativ mildes Urteil tatsächlich damit begründen kann, dass es sich um einen minderschweren Fall gehandelt habe. Der Angeklagte hat an diesem Kindesmissbrauch via Internet über eine Webcam teilgenommen und im Livechat Anweisungen gegeben, was diese Kinder machen sollen, damit er sich vor dem heimischen Bildschirm befriedigen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein minderschwerer Fall! Diejenigen, die heute im Internet Anteil nehmen, sind eigentlich diejenigen, die die meisten Dinge verursachen.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist meine Bitte an die Landesregierung, einmal zu prüfen, ob wir da vielleicht im Rahmen einer Bundesratsinitiative zu einer Verschärfung der Gesetzeslage beitragen können. Zeigen wir, dass wir unseren Verfassungsauftrag ernst nehmen!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Verfassungsrang des Kinderschutzes in Niedersachsen mit Leben füllen!“ - das sind hehre Worte, fast schon staatstragend, die Sie als CDU und heute Sie, Herr Kollege Toepffer, bemüht haben.
Vorweg: Für uns als AfD-Fraktion hat der Kinderschutz höchste Priorität. Deswegen waren es auch wir, die als erste Fraktion nach den verabscheuungswürdigen und erschütternden Missbrauchsfällen von Lügde die Einrichtung einer Kinderschutzkommission vorangetrieben und beantragt haben. Nach der öffentlichen Unterrichtung durch Herrn Landrat Bartels und der Anhörung im Sozialausschuss kamen schließlich das ganze Desaster und die ganzen strukturellen Schwierigkeiten im Bereich des Jugendamtes rund um den Fall Lüdge zum Vorschein.
Schon damals wäre es an der Zeit gewesen, eine rundumfassende und transparente Kinderschutzkommission als parlamentarische Einrichtung einzusetzen. Denn Lügde, werte Kollegen, war vor allen Dingen eines: ein Staatsversagen, und das auf allen staatlichen Ebenen: von Jugendämtern und Ermittlungsbehörden, die durch Fehleinschätzung, Nachlässigkeit und am Ende sogar kriminelle Energie - ich erinnere an die Aktenvernichtungsorgien - diesen bestialischen Fall erst zu einer solchen Dimension haben anwachsen lassen.
Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach einer Verschärfung des Sexualstrafrechtes, die Sie, Herr Toepffer, gerade erhoben haben - die aber auch Herr Althusmann in einem Interview in der HAZ erhoben hat - für mich als Vater durchaus ehren- und unterstützungswert. Doch das bringt uns in diesem Moment nicht wirklich voran.
Ich glaube auch nicht, dass Sie, Herr Althusmann, und Sie, Herr Toepffer, momentan eine solche Durchschlagskraft nach Berlin haben, dass die Bundesregierung in diesem Bereich wirklich zu Taten kommt. Das hat die Vergangenheit schon gezeigt. Daher muss die Devise lauten: Nicht nach Berlin schauen und hoffen, sondern vor Ort handeln und zupacken! Denn, werte Regierungskoalition: Hier in Niedersachsen spielt die Musik. Wir müssen an Ort und Stelle Verantwortung für unser Bundesland übernehmen.
Eine der ersten und wichtigsten Maßnahmen wäre, Herr Toepffer, dass der Niedersächsische Landtag die besagte Kinderschutzkommission ins Leben ruft: eine demokratisch legitimierte Kommission, die sich endlich um die intensive Aufarbeitung des Behördenversagens rund um den Fall Lügde kümmern würde und deren Aufgabe es wäre, die Weichen dafür zu stellen, dass in Zukunft frühzeitig dazwischengegrätscht wird, wenn derartige Fehleinschätzungen zutage treten.
Aber was macht die Große Koalition hier in Hannover? Statt die Chance zu nutzen und ein überfraktionelles Bündnis für die Zukunft des Kinderschutzes in Niedersachsen zu schmieden, wird lieber eigenen parteitaktischen Erwägungen gefolgt: SPD und CDU berufen eigenständig den Landespräventionsrat ein - auf welcher Rechtsgrundlage auch immer -, damit dieser eine Kinderschutzkommission einsetzt.
Werte Kollegen, damit haben Sie vielleicht den Antrag eines missliebigen parlamentarischen Konkurrenten mit einem Griff in die politische Trickkiste ausgehebelt, aber der Sache haben Sie im Grunde einen Bärendienst erwiesen.
Sie handeln willentlich gegen einen nachhaltigen parlamentarischen Kinderschutz. Das müssen Sie sich auch sagen lassen; denn Sie haben es versäumt, den Landespräventionsrat mit finanziellen Mitteln auszustatten. Wenn deren Vertreterin in der öffentlichen Anhörung des Sozialausschusses sagt, sie würden die ja gründen, aber sie hätten weder Personal noch Geld dafür, dann zeigt es doch, worum es Ihnen wirklich ging: Ihnen ging es vor allem darum, den AfD-Antrag an die Seite zu drängen, damit in diesem Bereich kein Erfolg verbucht wird. Das, Herr Toepffer, ist, mit Verlaub, unterste Schublade.