Protokoll der Sitzung vom 19.11.2019

Ich habe einen solchen Moment - oder mehrere solcher Momente - vor zehn Tagen erlebt. Anfang dieses Monats war ich, wie schon gehört, gemeinsam mit einer kleinen niedersächsischen Delegation in Griechenland. Mir ging es vor allem darum, mir vor Ort ein Bild von der Flüchtlingssituation auf Lesbos zu machen und Gespräche mit den verantwortlichen Ministern in Athen zu führen.

Mein letzter Besuch lag exakt dreieinhalb Jahre zurück, einen Monat vor der Verabredung - es war kein Abkommen, Herr Ahrends - mit dem türkischen Staatspräsidenten über die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in der Türkei. Ich war damals mit der griechischen Küstenwache auf der Ägäis und habe gesehen, was dort passiert - Dinge, über die Sie nur reden.

Ich wollte nach dreieinhalb Jahren wissen, wie die Situation ist, nachdem ich - wie Sie alle - gehört und gelesen hatte, was in den Flüchtlingslagern auf Lesbos, Chios, Kos, Samos und anderen Inseln los ist. Ich konnte in diesen insgesamt vier Tagen viele Gespräche führen und unzählige Eindrücke sammeln. Ich sage ganz offen: Einiges war nur schwer zu ertragen.

Aber eines hat mich besonders berührt: das Leid der rund 1 000 minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge auf der Insel Lesbos, 50 % davon unter 12 Jahre, meine Damen und Herren. Diese Kinder haben ohne Hilfe von außen keine Perspektive. Jeder Tag unter diesen Bedingungen wird sie weiter traumatisieren. Es wird für sie immer schwerer, die entstehenden Wunden zu heilen. Da wächst eine Generation heran, die nie erfahren hat, dass sich andere um sie scheren.

Das Lager Moria ist hoffnungslos überfüllt. Die griechischen Behörden haben uns den Zugang verwehrt, weil sie Sorge um die Sicherheit hatten.

Rings um das Lager, auf den Olivenhainen, was sich romantisch anhört, aber nicht ist, campieren Tausende von Menschen in Zelten. Einige verdienen nicht einmal die Bezeichnung „Zelte“, selbst gebastelt aus Müllsäcken und anderem Material oder bestenfalls dünne Sommerzelte.

Es gibt keine sanitären Einrichtungen. Eine ärztliche Versorgung ist überhaupt nur möglich für rund 200 bis 250 Menschen am Tag durch das unglaubliche und kräftezehrende Engagement der Ärzte ohne Grenzen. Das ist, meine Damen und Herren, ein unerträglicher Zustand mitten in Europa!

Ich sage es Ihnen einmal so, wie ich es sehe: Die Situation in Europa ist die, die hier beschrieben

worden ist. Es fehlt ein einheitliches Asylsystem. Es fehlt ein einheitlicher Umgang mit Flüchtlingen. Es fehlt an vielem. Darüber können wir - wir tun das ja auch schon seit 10, 20 Jahren - trefflich streiten und diskutieren, kommen aber zu keinen Ergebnissen. Leidtragend sind andere.

Meine Damen und Herren, wir sprechen im politischen Raum immer sehr abstrakt von Flüchtlingen, von Fluchtursachen und von Fluchtwegen. Aber das ist genau das Problem: Dies wird dem Thema nicht gerecht, meine Damen und Herren. Hier geht es eben nicht um Zahlen oder irgendwelche Quoten; es geht, meine Damen und Herren, um Menschen.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei den GRÜNEN)

In diesem Fall geht es um Kinder, die in erbärmlichen Zuständen leben, zum Teil vegetieren. Diese Kinder brauchen unsere Hilfe, und zwar nicht irgendwann, bis wir uns in Europa auf irgendetwas verständigt haben, sondern jetzt, so schnell wie möglich.

Natürlich wäre es am besten, wenn sich Menschen gar nicht erst auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer machen würden. Das bestreitet niemand. Die Bekämpfung von Fluchtursachen muss deshalb weiter eine hohe Priorität haben. Aber solange Fluchtursachen bestehen - ich will daran erinnern -, an denen wir als westliche Welt unseren Anteil haben, wird es weiterhin Menschen geben, die ihre Heimat verlassen. Ein kleiner Teil wird nun einmal auch versuchen, nach Europa zu kommen.

Europa, das für sich in Anspruch nimmt, auf der Grundlage von solidarischen und humanitären Werten zu leben, zu arbeiten und miteinander umzugehen, ist in der Pflicht zu helfen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der FDP)

Natürlich ist ein gemeinsames europäisches Asylsystem das Ziel. Wir dürfen die Mittelmeeranrainerstaaten nicht alleine lassen. Wir müssen sie noch besser unterstützen, z. B. bei der Aufnahme der Flüchtlinge oder bei der administrativen und logistischen Bewältigung der Aufgaben.

Mehrere Tausend Menschen um Moria herum - das gilt für andere Inseln ähnlich - haben keine medizinische Versorgung. Impfstoffe, die Ärzte ohne Grenzen braucht, um Kindern wenigstens die Grundimpfung geben zu können, dürfen nicht im

portiert werden, sondern müssen für teures Geld zu griechischen Preisen eingekauft werden. Die griechischen Behörden haben angekündigt, jetzt 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für ihre Asylbehörde einzustellen.

Die Menschen kommen in Größenordnungen von täglich 250 bis 600 - je nach Wetterlage - in der Nacht auf die Inseln. Auf das Festland verbracht werden pro Tag im Durchschnitt, wenn es hoch kommt, 100. Die Lager füllen sich also weiter und weiter. Zum Teil ist die Verweildauer inzwischen bei einem Jahr oder länger. Das ist der große Unterschied zum Jahr 2015, als zwar die Zahl der ankommenden Menschen um ein Vielfaches höher war, aber sie praktisch nur durchgeleitet wurden.

Meine Damen und Herren, deswegen brauchen die griechischen Behörden mehr Unterstützung. Aber sie brauchen auch mehr politischen Druck. Ich erwarte deshalb von der Europäischen Kommission: Sie muss diesem Thema die Priorität einräumen, die es verdient.

An die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Auch ich wünschte mir, es gäbe keine Hotspots. Aber es muss sie geben, solange die Situation so ist, wie sie ist.

Wir müssen uns, meine Damen und Herren, als Wertegemeinschaft daran messen lassen, wie wir mit den Schwächsten umgehen. Das ist unser humanitärer Anspruch, und danach müssen wir handeln - als Niedersachsen, als Deutsche, als Europäer. Der Begriff von Europa als Werte- und Solidargemeinschaft darf eben nicht zu einer leeren Worthülse verkommen.

Meine Damen und Herren, das alles ist wichtig. Wir werden diese Themen weiter mit aller Kraft vorantreiben. Aber wir brauchen jetzt vor allem auch kurzfristige Lösungen für die Kinder von Lesbos. Wir haben einfach keine Zeit, um die Entwicklungen auf europäischer Ebene abzuwarten.

Der Winter steht unmittelbar vor der Tür. Es kann jetzt nur um möglichst schnelle, unbürokratische Hilfe gehen. Ja, ich weiß, wir können nicht allen helfen; das stimmt. Aber, meine Damen und Herren, das kann im Umkehrschluss auch nicht bedeuten, wir helfen dann einfach niemandem oder warten mit der Hilfe so lange, bis sich alle beteiligen. Dann, meine Damen und Herren, ist nämlich niemandem geholfen.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich habe deshalb direkt nach meiner Rückkehr aus Griechenland, noch am darauffolgenden Tag, den Kontakt zu Bundesinnenminister Horst Seehofer und zu meinen Kolleginnen und Kollegen in den Ländern aufgenommen, um für ein Sofortprogramm zu werben. Wir müssen gerade dieser Gruppe von Kindern und Jugendlichen von Deutschland und Europa aus helfen. Wir brauchen eine Koalition der Willigen, die sich wenigstens um einen Teil dieser Kinder kümmert.

Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge müssen die Möglichkeit bekommen, in Deutschland in Sicherheit ihr Asylverfahren durchzuführen. Übrigens haben die griechischen Behörden mir mitgeteilt, dass die Anerkennungsquote der ankommenden Flüchtlinge auf Lesbos und den anderen Inseln inzwischen bei 70 % liegt. Ich möchte das nur einmal sagen. Ob die Zahl stimmt, konnte ich natürlich nicht verifizieren.

Wenn die Kinder dann hier sind, brauchen sie ein festes Dach über dem Kopf. Sie brauchen fließend Wasser und ausreichend Lebensmittel. Natürlich müssen sie betreut und medizinisch versorgt werden.

Meine Damen und Herren, schnelle und unkomplizierte Lösungen sind möglich. Die betroffenen Kinder könnten z. B. über ein Sofortprogramm schneller nach Deutschland und andere Länder gebracht werden.

Ich appelliere deshalb an die Bundesregierung, hier aktiv zu werden und auch die anderen Bundesländer in die Verantwortung zu nehmen. Niedersachsen jedenfalls ist bereit. Wir sind mit unseren Jugendhilfeeinrichtungen gut aufgestellt und können das leisten.

Ein Sofortprogramm, meine Damen und Herren, die Rettung von Menschen aus akuter Not würde durchaus - Frau Schröder-Köpf hat es angesprochen - einer niedersächsischen Tradition folgen. Denken Sie an die Aufnahme der Boatpeople 1978!

Meine Damen und Herren, in knapp vier Wochen werden viele von uns Weihnachten feiern. Wir werden viel über den Geist des Weihnachtsfestes sprechen, über Nächstenliebe. Wir werden diese besinnliche Zeit im Kreise unserer Liebsten verbringen, in warmen Wohnzimmern mit hell erleuchtetem Tannenbaum und ausreichend Essen auf dem Tisch. Meine Damen und Herren, dieses Fest können wir doch nicht mit gutem Gewissen feiern, während gleichzeitig auf unserem Kontinent - nicht

irgendwo auf der Welt -, in unserer Mitte Kinder unter erbärmlichen Bedingungen in Zelten frieren. Das ist nicht christlich, das ist nicht europäisch, und das hat auch mit Nächstenliebe nichts zu tun, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei den GRÜNEN und bei der FDP)

Diese Kinder brauchen schnelle Hilfe. Wir sollten uns mit aller Kraft dafür einsetzen, dass sie sie noch vor dem Winter bekommen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und bei den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Minister Pistorius.

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, sodass ich die Besprechung des Themas der Aktuellen Stunde der SPD schließen kann.

Ich eröffne die Besprechung zu

b) Zutrauen in die Landwirtschaft - gemeinsame Nitratstrategie statt teure und unwirksame Auflagen - Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 18/5125

Zur Einbringung erteile ich das Wort Herrn Abgeordneten Grupe. Bitte, Herr Kollege! Alle anderen darf ich um ungeteilte Aufmerksamkeit für den Kollegen bitten.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Die Landwirtschaft ernährt heute mehr als 7 Milliarden Menschen. Zusätzlich sollen Energie und nachwachsende Rohstoffe erzeugt werden. Die Landwirtschaft hat die Aufgabe, im Bereich des Klimawandels CO2 zu binden. Sie soll Boden, Wasser und Luft schonen. Meine Damen und Herren, es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um unsere Lebensgrundlagen. Wir alle können uns glücklich schätzen, dass wir hier in Deutschland die bestausgebildeten Landwirte weltweit haben. Wir stellen uns den Herausforderungen. Aber dafür brauchen wir verlässliche Rahmenbedingungen.

(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute geht es um die Qualität des Wassers, des Grundwassers im Besonderen. Auch das ist wichtig: Wir haben Pro

bleme in unserem Land. Bei 16 % der Messstellen sind die Grenzwerte überschritten. 84 % der Messstellen sind in Ordnung.

Gestern hat die Landesregierung 39 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche Niedersachsens zum „roten Gebiet“ erklärt. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Toepffer meinte, es als Erfolg verkaufen zu können, dass Sie die Überprüfung der Messstellen durchgesetzt hätten. Sie lassen sich zitieren

(Dirk Toepffer [CDU]: Das wollen Sie doch auch!)

- ja, dazu komme ich gleich -, Sie hätten den vielen Landwirten in Niedersachsen nicht mehr erklären können, wieso auch mutmaßlich falsche Messungen Grundlage für die Ausweisung „roter Gebiete“ sind.

Lieber Herr Kollege Toepffer, es hat bisher aber niemand diese Messstellen überprüft. Sie haben genau das getan, was Sie hier sagen: Sie haben gestern diese Gebiete aufgrund falscher Messwerte festgelegt.

(Beifall bei der FDP)